Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Bei Mutter Baumann war heute großes Reinemachen. Als Ewald während der Mittagspause, so kurz vor ein Uhr, nach Hause kam, fand er alles, wie das an solchen Tagen zu gehen pflegte, in schönster Unordnung. Martha, die heute in der Schule einen freien Vormittag hatte, hantierte, die schönen, blonden Haare mit einer dunklen Küchenschürze zugebunden, die Ärmel ihrer Bluse hochaufgeschürzt, in dem Wohnzimmer, in dem sie gerade zusammen mit der Mutter den eben gereinigten Teppich legte.

Dieser Teppich, den stets ein Schutztuch verdeckte, war die Pièce de résistance der Baumannschen Wohnung, der Stolz der Mutter und Marthas Hoffnung. Denn er sollte für den Fall, daß Martha einmal heiraten würde, ein Haupt- und Glanzstück ihrer Aussteuer werden. So hatten die Geschwister gemeinsam in heroischem Verzicht zu Marthas Gunsten beschlossen.

Der kostbare Teppich hatte überhaupt im Hause Baumann eine große Rolle gespielt. Er war die einzige Ehrung, die dem verstorbenen Vater in seinem schweren Berufe zuteil geworden war. Die dankbaren Schüler der Unterprima hatten einst Herrn Professor Doktor Baumann diesen Teppich zur Feier seines fünfundzwanzigjährigen Doktorjubiläums gestiftet.

Als Ewald in das Wohnzimmer trat, konnte es ihm nicht entgehen, mit welch liebevoller Sorgfalt Mutter und Schwester dieses Prunkstück des alten Haushaltes behandelten. Sie hatten gar keine Zeit, den Sohn und Bruder zu begrüßen, der sich denn auch in Rücksicht auf diese wichtige Beschäftigung der beiden Frauen stillschweigend in das neben der Wohnstube gelegene Schlafzimmer, das die drei Brüder miteinander teilten, zurückzog.

Das dritte und kleinste Zimmer der bescheidenen Wohnung wurde zusammen von Martha und der Mutter bewohnt.

»Schäme dich, Rolf,« sagte Ewald, in das Schlafzimmer tretend, als er den jüngeren Bruder, eine dicke Zigarre im Munde, die Zeitung in der Hand, am Fenster sitzen sah. »Da plagen sich Mutter und Martha, um die Putzfrau zu sparen, und du bringst deine Groschen für teure Zigarren durch und vertust die Zeit, anstatt dich hinter deine Bücher zu setzen und deinen Tacitus für morgen noch einmal vorzunehmen.«

Rolf pfiff einen Gassenhauer vor sich hin.

Da brauste Ewald auf:

»Ich bitte mir ein anständiges Betragen aus, Rolf.«

Rolf lachte:

»Wer ist denn hier der Störenfried, du oder ich? Wenn ich mir für das Geld, das ich mir mit Stundengeben sauer verdiene, Zigarren kaufe, dann geht das keinen Menschen was an. Und ob ich meinen Tacitus intus habe oder nicht, das werde ich wohl besser beurteilen können, als du, der du kaum auf Prima gewesen bist!«

Ewald fand keine Antwort. Der jüngere Bruder, der Mutter Liebling, der ihm in allem über war, der sich schon äußerlich mit seinem schönen, regelmäßigen Gesichte so vorteilhaft von ihm, dem Blassen, Schmächtigen und Unansehnlichen unterschied, der führte eben hier das große Wort. Der wurde von der Mutter immer in Schutz genommen, in ihm sah man die stolze Hoffnung der Zukunft, während er den Seinen von jeher nichts anderes, als das Arbeitspferd der Gegenwart gewesen war.

Als Rolf Ewalds Stillschweigen bemerkte, tat es ihm doch leid, den Bruder durch den Hinweis auf dessen unvollendet gebliebene Gymnasialbildung gekränkt zu haben, und um das Schweigen zu brechen und rasch über des Bruders peinlichen Vorwurf hinwegzukommen, bemerkte er:

»Du, der Schröder ist aber höllisch hinter unserer Martha her. Heute morgen hat er mich sogar in der Schule angeredet und sich erkundigt, wie denn meinem Fräulein Schwester der gestrige Ausflug bekommen sei. Denk mal, das verstößt doch gegen die fundamentalsten pädagogischen Grundsätze, daß sich ein Pauker bei dem Bruder seiner Angebeteten, dessen Lehrer er ist, nach dem Befinden des Schwesterleins erkundigt.«

Der Ton, in dem Rolf sprach, verletzte Ewald aufs neue.

»Sag' wenigstens der Professor Schröder, wenn du von deinem Klassenlehrer sprichst, das bist du schon dem Andenken unseres verstorbenen Vaters schuldig. Und Martha laß aus dem Spiel. Das war sicher nur eine Höflichkeit ohne Hintergedanken, daß sich Professor Schröder nach Martha erkundigt hat. Martha hat jetzt ihre feste Anstellung und denkt gar nicht ans Heiraten, überhaupt, wer sollte denn?«

Er vollendete den Satz nicht, es wäre ihm peinlich gewesen, auf die mittellose Existenz seiner Schwester hinzuweisen, seiner Schwester, die doch sicher für einen Gymnasiallehrer keine begehrenswerte Partie sein konnte. Aber Rolf erriet seine Gedanken.

»Da hast du recht,« sagte er, »da liegt der Hase im Pfeffer: Pecunia nervus rerum. Aber ich habe eine feinere Spürnase in puncto amoris. Schröder ist Idealist. Er schwärmt für Homer und Horaz. Wenn er die Geschichte liest, wie Odysseus auf dem Eiland der Phäaken landete, dann gerät er in Verlegenheit, und wenn er die Ode des Horaz an die Lalage mit seinen Schülern durchzunehmen hat, dann kriegt er einen roten Kopf und denkt an unsere Martha. Ich glaube, er dichtet im stillen, der gute Schröder, und das kommt wie Zephirhauch von seinen Lippen: Dulce ridentem Lalagen amabo, dulce loquentem.«

Nun hatte Ewald wirklich einen ernsten Verweis auf den Lippen. Was ihm denn einfiele, wollte er Rolf sagen, sich in seiner Gegenwart über Professor Schröder so ungeziemend zu äußern?! Doch ehe er noch zu Wort kommen konnte, stürzte der kleine Paul, der in der Schule wieder einmal eine Stunde nachgesessen hatte, ins Zimmer und klagte:

»Der Taubert hat mir im griechischen Extemporale wieder eine Vier gegeben, und ich hatte doch nur sechs Fehler und ich hab' es genau so geschrieben, wie es mir Herr Weingart gestern gesagt hat.«

Aus dem Wohnzimmer eilte die Mutter herbei.

»Na, beruhige dich, Paulchen, das ist ja halb so schlimm, Paulchen, mein Herzblättchen, weine nur nicht. Ich will den Herrn Weingart schon vornehmen, daß er sich in den Privatstunden größere Mühe gibt.«

Ewald konnte diesen Ton der Mutter nicht vertragen. Es war gerade, als ob sie Rolf und Paul gegenüber wie mit Blindheit geschlagen sei. Er und Martha, sie konnten verdienen, kein Vergnügen sollte sich das junge Mädchen gönnen und so seine Jugend vertrauern. Nach seiner Zukunft fragte niemand. Aber für das faule Paulchen wurden von seinem sauer verdienten Gelde die teuren griechischen Privatstunden bezahlt, weil sich Rolf geweigert hatte, dem dummen Bruder nachzuhelfen, und sich die beiden nicht vertragen konnten.

Und Rolf? Der verbrauchte sein allerdings selbstverdientes Taschengeld für Zigarren und Schlipse nach der neuesten Mode und fragte wenig danach, wer den Metzger und den Bäcker bezahlte, wenn nur das Essen zur richtigen Zeit an jedem neuen Tag auf dem Tische stand.

Als Ewald das Zimmer verließ, um sich drunten auf der Straße den bramarbasierenden Redensarten Rolfs und dem Lamento Paulchens zu entziehen, stieß er unterwegs auf Martha, die, den Putzeimer am Arm, zur Wohnung heraufkam.

»Das sollte auch nicht sein, Martha,« sagte er zärtlich, »daß du dich hier auf der offenen Treppe so überraschen läßt. Die Zimmermanns im ersten Stock haben ein Dienstmädchen, und sogar die Mertens droben haben eine Aushilfe. Sie zucken die Achseln und lachen, wenn sie hinter der Korridortüre stehen und dich so als Donna für alles beobachten können.«

»Aber es muß doch sein, Ewald,« antwortete die Schwester. »Ich kann doch Mutter nicht den Eimer schleppen lassen, das sähe noch besser aus.«

»Na, es wird schon einmal anders werden,« tröstete er die Schwester. »Schröder hat sich nach dir erkundigt, Rolf hat es erzählt.«

Eine Glutwelle stieg in Marthas schönes Gesicht.

»So, hat er das?« stammelte sie.

»Du bist ja so erregt, Kindchen? Hör' mal! –« er drohte mit dem Finger, »da scheint der schlaue Rolf doch recht zu haben, und die Sache sitzt am Ende tiefer?«

Sie nahm des Bruders Arm und ging mit Ewald die Treppe hinauf.

»Ich muß dir was sagen, Ewald, dir allein. Die Mutter denkt ja doch nur an Rolfs Zukunft und an Paulchens Extemporale. Für dich und mich hat sie keine Zeit.«

Sie waren wieder durch die Korridortür eingetreten. Ewald folgte der Schwester in das kleine Zimmer, in dem die Betten von Mutter und Tochter standen. Hier beichtete Martha:

»Liebster Ewald, du mußt es ganz allein für dich behalten: Schröder hat sich gestern auf dem Ausflug heimlich mit mir verlobt.«

Mit großen Augen, als ob er ihren Worten keinen Glauben schenken dürfe, sah Ewald die Schwester an.

»Das wäre möglich, er weiß doch?«

»Er weiß alles,« fuhr Martha fort. »Wir müssen eben warten. Mama hatte ja auch nichts, da Papa um ihre Hand angehalten hat, und es ist doch gegangen, Ewald,« seufzte sie.

»Ja, es ist gegangen, Martha, aber wie?«

Er dachte in diesem Augenblicke weniger an sich selbst, der sich der Familie geopfert hatte, als an die anderen.

Da hatte er ja die Schwester, ganz, als sei sie eine Dienstmagd, die blaue Schürze um das reiche, blonde Haar geschlungen, vor sich. Er dachte an Rolf, der tat, als ob er über Hunderttausende zu verfügen hätte, und an Paulchen, der eben erst auf Quarta saß und vermutlich zu Ostern hängen bleiben würde. Und nicht zuletzt dachte er an die Mutter, die eines schönen Tages wegsterben und sie alle vier fast unversorgt hinterlassen könne.

»Höre, Ewald,« vernahm er nun die Stimme seiner Schwester, »Schröder hat sich gestern erklärt. Im Herbste bekommt er sicher seine feste Anstellung als Oberlehrer und mit dem Gehalte wird es ja in den ersten Jahren gehen. Freilich, wie wir beide zu einer Aussteuer kommen werden, das ist ihm und mir vorläufig noch ein Rätsel. Aber der Teppich ist ja da, und für das übrige gibt es noch Abzahlungsgeschäfte. Man kann mit ein paar Gulden monatlich schon eine recht schöne Ausstattung von Küche und drei Zimmern allmählich im Verlaufe von ein paar Jährchen erstehen.«

Ewald lächelte traurig vor sich hin.

»Und, die tausend anderen Dinge, liebes Kind, die solch ein neuer Haushalt mit sich bringt. Doch ich will dir das Herz nicht schwer machen.«

Aus der Küche vernahmen die beiden die Stimme der Mutter, die zum Essen rief.

»Sage Mama nichts,« bat Martha. »Es gibt nur unnötige Aufregung und führt fürs erste doch zu keinem Ziele.«

Ewald nickte und drückte der Schwester innig die Hand.

»Alles Glück, du Liebe, du Gute,« sagte er leise.

Wieder vernahm man Frau Baumanns Stimme:

»Martha, Martha, wo steckst du denn?«

»Gleich, Mama, gleich,« antwortete das junge Mädchen.

Als Martha die Küche betrat, zankte die Mutter in hartem Tone weiter:

»Ich habe dir doch gesagt, Martha, daß du nach den Bohnen sehen solltest, und nun sind sie doch angebrannt. Da braucht man sich auf was Gutes zu freuen, wenn du das teure Gemüse anbrennen läßt.«

Ohne ein Wort der Erwiderung trat Martha an den Herd und rührte den Inhalt des Topfes um.

»Das ist nicht so schlimm, Mutterchen,« beschwichtigte sie. »Sie hängen ein bißchen. Ein Tropfen Wasser, und umgeschüttet in einen anderen Topf, und kein Mensch merkt was davon.«

»Ja, du hast gut reden. Und Rolf, der so verwöhnt mit dem Essen ist, und Paulchen, von dem der Doktor sagt, daß sein Magen der Schonung bedarf, daran denkst du natürlich nicht?«

Das wurde Martha denn doch zu viel.

»Herr Rolf soll essen, was man ihm vorsetzt, Mutter,« erwiderte sie in bestimmtem Tone. »Er soll sich um seinen Homer und seinen Thukydides kümmern, damit Professor Schröder nicht die ewigen Klagen über ihn hat – und Paulchen –«

Frau Baumann ließ sie den Satz nicht vollenden. Der kleinste Tadel ihrer beiden Lieblinge konnte sie in Wut versetzen.

»Ich begreife dich nicht, Martha, du weißt doch, daß ich solche Angriffe gegen Rolf nun einmal nicht vertragen kann! Und dieser alberne Schröder, dem es kein Mensch, auch der beste Schüler nicht, recht macht.«

Martha biß sich auf die Lippen. Die Bezeichnung albern, die die Mutter dem heimlich mit ihr Verlobten gab, kränkte sie tief. Aber sie schwieg um des lieben Friedens willen.

Sie machte sich daran, das Essen anzurichten. Sie schwenkte die Kartoffeln, von denen sie, um die vielen Mägen zu füllen, reichlich gekocht hatte, und nahm das Pfündchen Kuhfleisch aus der Brühe, von dem, wie sie schon vorher wußte, Herr Rolf den Löwenanteil verzehren würde.

Indessen fuhr Frau Baumann fort:

»Überhaupt gebe ich gar nichts auf das Urteil dieser Herren Gymnasiallehrer. Wenn die den Homer zu ihrem Steckenpferde gemacht haben, dann sind sie der Ansicht, jeder junge Mensch, der nicht wenigstens zehn Gesänge der Odyssee und zehn der Ilias auswendig weiß, sei ein Tunichtgut und werde im Zuchthaus endigen. Und wenn sie zufällig Mathematiker sind, dann halten sie die Tatsache, daß einer den pythagoräischen Lehrsatz nicht beweisen kann, für ein Kapitalverbrechen. Dir steckt auch der Schulmeister im Blute, Martha. Und diese Herren selber? Schau sie mal an. Die dümmsten Schüler haben ihre Lehrer ein paar Jahre nach dem Weggang von dem Gymnasium überflügelt, und ein Offizier, ein Rechtsanwalt, ein hoher Regierungsbeamter denkt überhaupt nur noch des Ulkes halber an den Herrn Pauker, der ihm einst mit den Versmaßen des Horaz das Leben verbittert hat.«

»Da hast du recht, Mamachen,« sekundierte Rolf, der eben in die Küche getreten war und Frau Baumanns Auseinandersetzung mit angehört hatte. »Der Schröder ist überhaupt ein Ekel, wenn du ihn auch im stillen liebst, Marthchen,« scherzte er, die tiefe Röte, die das Gesicht der Schwester bedeckte, gar nicht bemerkend. »Denk' dir, Mamachen, heute sagte der Neunmalweise in der Klasse, ein anständiger Mensch ginge überhaupt nicht, die Zigarre im Munde, über die Straße, als ob das nicht alle Herren vom Regimente täten, der Oberst von Krossin an der Spitze. Na, und wer anständiger ist, die Herren von der hiesigen Garnison oder Herr Gymnasialoberlehrer in spe Dr. Schröder, das überlasse ich der öffentlichen Meinung. Ha, ha! Das sind eben alles solche Übertreibungen der Herren Pauker, die ihre höchst persönliche Ansicht über Anstand zum Vortragsthema in der Klasse machen, fußend auf der Tatsache, daß die Menschen auf den Schulbänken den Mund zu halten haben.«

Martha kochte innerlich vor Wut. Aber ein Blick in das vor Aufregung schon gerötete Gesicht der Mutter hielt sie von einer Entgegnung zurück. Der Starrsinn dieser Frau, an ihm scheiterte eben hier im Hause jeder, auch der vernünftigste Widerstand. Alles steckte man ein, alles schluckte man hinunter, wenigstens sie und Ewald, wenn es die Mutter oder einen von deren beiden Lieblingen, Rolf und Paulchen, galt.

So war es jahrelang gewesen, so würde es vermutlich noch jahrelang sein, wenn nicht ein Zufall einen Umschwung der Verhältnisse brachte.

So war es auch gekommen, daß vor allem der von der Mutter verhätschelte und angebetete Rolf die Oberhand gewonnen hatte. Martha haßte ihren Bruder nicht, o nein. Aber daß Rolf sie und Ewald täglich, ja stündlich mit Füßen trat, sie, die doch mit ihrer Arbeit und ihren Einnahmen die ganze Familie und den bescheidenen Haushalt über Wasser hielten, dieser Umstand hatte ihre schwesterliche Liebe zu Rolf von Jahr zu Jahr merklicher abgekühlt.

Rolf war an den Küchentisch herangetreten, auf dem Martha das Mittagsmahl zum Auftragen fertiggemacht hatte.

»Netter Lappen Fleisch,« näselte er. »Habt ihn wohl auf der Freibank erstanden, Kinder, hm?«

»Du kannst es ja liegen lassen, Rolf,« erwiderte Martha, sich mühsam zur Ruhe zwingend. »Ewald und mir wird es nicht zu schlecht sein. Und wenn du einmal selber dein Geld verdienst, dann wird dich niemand daran hindern, Roastbeef und Filet von unserem ersten Metzger Trümmelmann auf den Tisch zu bringen.«

»Werd' ich auch, Marthchen,« scherzte Rolf, »laßt mich nur erst mal meinen Assessor gebaut haben. Dann hat alle Not ein Ende, dann heirate ich eine reiche Frau – ein jüdischer Kommerzienrat, der seiner Familie mit einem ehrlichen germanischen Namen das nötige Relief zu geben wünscht, findet sich hier in der Stadt immer noch – und dann lade ich Mamachen und dich und Ewald, und wenn es sein muß, auch Herrn Oberlehrer Schröder in meine Villa zu Filet oder Roastbeef von Trümmelmann ein.«

Über Rolfs naive Unverfrorenheit mußte jetzt Martha trotz allem lachen.

»Sieh zu, daß du nach Oberprima kommst und nächste Ostern dein Abitur machst, und dann wollen wir weiter reden,« erwiderte sie ihm. »Wer weiß, ob es dann noch zum Referendar und Dr. iur. und endlich zum Assessor da oben unter deiner Schädeldecke langt?«

»Pah,« lachte Rolf. »Und wenn nicht, Leutnant kann man immer noch werden. Die Zulage ist nicht größer als der Wechsel, und man ist früher fertig. Wir können uns dann das Roastbeef schon in drei Jahren statt erst in zehn zu Gemüte führen. Und an meiner tadellosen Figur als Offizier wirst du wohl nicht zweifeln, Marthchen?«

Er nahm eine stramme Haltung an, machte Kehrt und dann wieder Front. »Ja, ganz so krumm wie Herr Hilfslehrer Schröder sind wir noch lange nicht,« witzelte er, »wenn wir auch Zigarren auf der Straße rauchen und folgerichtig nicht zu den anständigen Leuten zählen.«

Martha verbiß mutig die Tränen, und Frau Baumann lächelte freundlich. Sie freute sich in der Tat über den Witz und die Schlagfertigkeit ihres Rolf.

»Na, nichts für ungut, Marthchen,« sagte er nun, da er eine Träne in dem Auge seiner Schwester bemerkt hatte. »Trag' das Essen ins Zimmer, ich hab' nämlich trotz allem einen Bärenhunger.«

Als sich die Familie um den gemeinsamen Mittagstisch versammelt hatte, maulte Paulchen, Er erzählte von dem mißglückten griechischen Extemporale und wurde von der Mutter, die weidlich über den schlechten Nachhilfelehrer herzog, in Schutz genommen.

Ewald aß stillschweigend das, was ihm die Schwester vorlegte. Die ewigen Klagen der das Gymnasium besuchenden Brüder über die Ungerechtigkeit und die Parteilichkeit ihrer Lehrer hatte er satt. Er verzichtete ein für allemal darauf, in dieser Beziehung mit seinen Ansichten hervorzutreten. Von Rolf wurde er als einer, der in Unterprima abgegangen war, nicht für voll genommen, und Paulchen verschanzte sich hinter die Mutter, der Ewald noch nie zu widersprechen gewagt hatte.

Heute war er zudem viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, als daß er sich um die großen und kleinen Leiden eines Unterprimaners und eines Quartaners bekümmert hätte. Er dachte an diesen Abend, an die Oper, an den Jugendfreund, der nun ein großer Sänger geworden, und zerbrach sich den Kopf, warum wohl der Kommerzienrat gerade ihm vor allen anderen Leuten seines Personals den Platz in seiner Loge angeboten habe.

Freilich, Lang wußte, daß er sehr musikalisch war, daß er einstmals selber sich der Kunst hatte widmen wollen. Bei der Hitze war es für den weidlich runden Lang wahrlich kein Vergnügen, sich ins Theater zu setzen. So hatte er denn faute de mieux ihn gewählt. Langs Verwandte und Bekannte weilten am Ende schon zum größten Teile in der Sommerfrische. Also, damit die doch bezahlte Abonnementskarte nicht unbenutzt liegen bleiben müsse, das war jedenfalls der einzige Grund.

Hätte Marthas Mitteilung von ihrer heimlichen Verlobung mit Schröder Ewald nicht im geheimen gequält, die dem Besuche des Theaters vorangehenden Stunden wären wahrscheinlich auch heute, wie immer, Stunden der festlichen Vorbereitung für ihn gewesen. Aber so mußte er immer an das Schicksal und die Hoffnungen seiner Schwester denken, und das trübte ihm einigermaßen das Vorgefühl des ihm bevorstehenden künstlerischen Genusses.

Auch das Mißbehagen, den Freund der Gymnasiastentage als bewunderten Tenor sehen und hören, und so recht das Gefühl der eigenen Nichtigkeit auskosten zu müssen, ließ eine reine Freude nicht aufkommen.

Die Seinen hatten seine Bemerkung, daß Lang ihm für diesen Abend einen Platz in seiner Loge zur Verfügung gestellt habe, ziemlich gleichgültig aufgenommen. Nur Martha hatte gesagt: »Das freut mich aber, daß du auch einmal eine kleine Zerstreuung hast.« Dann waren ihre Gedanken rasch wieder zu den eigenen Sorgen und Hoffnungen zurückgekehrt.

Auf Rolfs Worte: »Du, da steckt was dahinter, wenn ein Jude einem Christen einen Theaterplatz, den er mit seinem koscheren Gelde bezahlt hat, schenkt, dann steckt immer etwas dahinter,« hatte Ewald kein Wort erwidert. War doch Rolf jede Gelegenheit recht, eine boshafte Bemerkung über Gesellschaftskreise, die seiner beschränkten Anschauung nicht fair erschienen, einfließen zu lassen.

Die Brüder mußten nachmittags nochmals zur Schule. Martha wusch in der Küche auf, und Frau Baumann zog sich zu einem Schläfchen zurück. Da setzte sich Ewald an das alte Klavier im Wohnzimmer und spielte, von der Schwester draußen in der Küche im stillen bewundert, in zartem Anschlage die Hauptpartien der Martha durch, um sich doch einigermaßen für den Abend in der Oper vorzubereiten.

Als er damit zu Ende gekommen, war es Zeit, wieder ins Geschäft zu gehen, zumal da er heute abend etwas früher Schluß machen mußte, um zur rechten Zeit im Theater zu sein.


 << zurück weiter >>