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Als Ewald die Loge des Kommerzienrates Lang im Theater betrat, war der in dunkelm Rot gehaltene, schon etwas altmodische Zuschauerraum noch fast leer. Es schien, als hätte auch der Name Osborn infolge der Hitze dieses letzten Juniabends seine Zugkraft verloren.
Aber es war ja noch früh, zehn Minuten bis zum Aufgehen des Vorhanges, da konnte sich das Theater noch bis auf den letzten Platz füllen.
Ewald gefiel das gerade. Einen künstlerischen, in erster Linie einen musikalischen Genuß, pflegte er von Anfang bis Ende behaglich und gründlich durchzukosten. Dazu gehörten für ihn aber auch die Minuten, die dem Beginn einer Theatervorstellung vorangehen.
Das allmählich sich füllende Haus mit seinem Dämmerlichte, das leise Rauschen und Knistern der eleganten seidenen Toiletten, das Klappen der Sitze, die in unterdrücktem Tone geführte Unterhaltung, die Smokings und Gehröcke der Herren, dies alles zusammengenommen, regte seine Phantasie an. Selbst das Stimmen des Orchesters vermochte ihn nicht nervös zu machen. Das ganze Milieu des Theaters nahm eben seine Sinne gefangen und führte ihn ganz allmählich aus der rauhen Welt der Wirklichkeit hinüber in das schöne Reich der Kunst.
Da er heute den vornehmen Platz in der Loge des Kommerzienrates einzunehmen hatte, war er sehr sorgfältig gekleidet. Freilich, ein wenig altfränkisch sah er aus, das mußte er sich zugestehen, wenn er die eleganten Anzüge der Herren in den Reihen des Parketts durch sein Opernglas musterte.
Kaum hatte er sich auf dem hintersten Platze der Loge dicht an der Wand niedergelassen, als ihn auch schon das unangenehme Gefühl beschlich, daß er eigentlich gar nicht hierher gehöre, und im stillen begann er sich wieder zu fragen, was wohl die Leute sagen würden, wenn sie ihn, den bescheidenen Buchhalter Ewald Baumann, in der Loge Adolf Langs bemerkten!
Dann nahm wieder das Theater seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
Nun kamen die Leute doch. Hie und da sah er einen Bekannten, der ihn aber natürlich im Dunkel der Loge nicht bemerken konnte. Er nahm den Zettel und studierte zum zehnten Male die Besetzung der Rollen.
Endlich erklang das erste Glockenzeichen, und die Ouvertüre begann.
Nun lauschte sein Ohr den wohlbekannten und von ihm selbst am Klaviere oft gespielten Melodien, und das Theater samt seinen Besuchern war für ihn, der doch mitten darinnen saß, mit einem Schlage in weite Fernen gerückt.
Als der Vorhang aufging, bemerkte er nichts mehr von seiner Umgebung und gab sich ganz dem Genusse der einschmeichelnden Musik und der anmutigen Handlung hin. Freilich, als er in dem Darsteller des Lyonel seinen Jugendfreund Osborn erkannte, wollte anfangs sein Geist nicht mehr so recht bei der Sache sein. Erinnerungen aus der Gymnasiastenzeit stiegen wieder empor. Er sah sich in dem alten Arbeitszimmer seines Vaters, wo er diesem eines schönen Tages die Eröffnung gemacht hatte, daß er Musik studieren wolle. Er hörte des Vaters ernste, mahnende, aber liebevolle Worte, die ihn zunächst von dem gewagten Unterfangen abzubringen suchten. Dann erinnerte er sich daran, wie er auf seinem Willen bestanden hatte, und daß der Vater endlich, seine Zustimmung erteilt, ihn prüfen zu lassen, und ihn, falls das Resultat ein günstiges sein sollte, auf das Konservatorium zu schicken.
Dazu war es nun freilich nicht gekommen. Der Vater lag unter der Erde, er war Buchhalter bei Adolf Lang, er hatte für die Mutter und die Geschwister zu sorgen. Und nun saß er mit einem geschenkten Billette in Langs Loge, und da unten auf der Bühne stand Osborn, dem das Publikum gleich bei seinem ersten Schritte aus den Kulissen zugejubelt hatte, und der nun ein großer Sänger geworden war.
Da öffnete sich leise die Tür der Loge, und, von der Beschließerin begleitet, erschien eine Dame, die Ewald infolge des in dem Theatersaale herrschenden Halbdunkels nicht zu erkennen vermochte.
Sie grüßte ihn mit einem leichten Nicken des Kopfes und nahm auf einem der Vordersitze dicht an der Brüstung Platz. Wenige Minuten nach ihrem Eintreten war der erste Akt beendet. Der Vorhang fiel, rauschender Beifall für Osborn aus dem Parkett und von den Galerien.
Das Theater wurde hell. Das Licht der Gaskrone fiel auf das rabenschwarze Haar der jungen Dame, die sich vor Ewald niedergesetzt hatte. Sie drehte sich um. Er erkannte Irma Lang.
Die Röte der Verlegenheit stieg in seine Wangen, als er sich so plötzlich und unvermutet dem einzigen Töchterlein seines Chefs gegenübersah.
»Guten Abend, gnädiges Fräulein,« stammelte er. »Es ist mir eine große Ehre, die Loge diesen Abend mit Ihnen teilen zu dürfen.«
Es war ein seltsamer Blick, der ihn nun aus den Augen Irmas traf. Wie von einem tiefen Schmerze verschleiert erschienen ihm diese Augen, die momentan starr, fassungslos auf ihn gerichtet waren.
»Was sie nur hat,« mußte er im stillen bei sich denken, und »es freut mich ungemein, die Oper an Ihrer Seite hören zu dürfen,« sagte er noch einmal, »ich weiß wirklich nicht, wie ich zu dieser unverdienten Ehre komme.«
Irma hatte einen Moment die Augen niedergeschlagen. Nun hob sie den Blick. Wieder der rätselvolle Schmerz, der in diesen schönen, dunkeln Augen lebte, wieder dieser starre, fassungslose Blick, der ihn plötzlich an den Blick des Wildes erinnerte, das sich verzweifelt und ohne Möglichkeit, zu entrinnen, dem Jäger gegenübersieht.
»Setzen Sie sich doch an meine Seite, Herr Baumann,« sagte nun Irma mit zuckenden Lippen. »Sie hören und sehen dahinten ja so schlecht. Oder ist es Ihnen am Ende nicht angenehm, an meiner Seite im Theater gesehen zu werden?«
Das klang fast wie ein Vorwurf. Ihre Stimme war hart und heiser. Rasch wechselte Ewald seinen Platz, und nun saß er an der Seite Irmas, zu der er treuherzig sagte:
»Ich fürchtete immer, daß mir das gnädige Fräulein meine Taktlosigkeit von damals noch nicht verziehen hätten?«
Mit großen, fragenden Augen sah sie ihn an, dann schauerte sie leise, als ob sie ein Fieberanfall schüttele.
»Sind Sie krank, gnädiges Fräulein,« fragte er teilnahmsvoll.
»O nein, nur die furchtbare Hitze, Herr Baumann, weiter nichts. Man erstickt bei diesem Wetter im Theater.«
»Wenn ich Ihnen eine Erfrischung besorgen darf –«
»Ach ja, holen Sie mir eine Zitronenlimonade – die Hitze – mir klebt die Zunge am Gaumen.«
Er ging nach dem Restaurant und erschien nach wenigen Minuten mit dem Gewünschten. Als sei sie am Verdursten, schüttete Irma den eiskalten Inhalt des Glases hinunter.
»Das tut wohl, ich danke Ihnen von Herzen.«
Dann nahm sie selber das vorhin angeschlagene Thema wieder auf:
»Ich sollte Ihnen böse sein, Herr Baumann?« lachte sie gezwungen, »aber ich bitte Sie. Ich danke Ihnen. Es war doch so nett, daß Sie mir damals die schönen Rosen sandten, und dazu das hübsche Gedicht gemacht haben, als ich die Arie aus der Jüdin gesungen hatte. Es hat mir wirklich große Freude bereitet.«
Nun schlug sie die schwarzen Augen zu ihm empor und sah ihn lange an.
Flammende Röte bedeckte seine Wangen.
Ja, er hatte sie geliebt, ganz ohne Rücksicht auf die Stellung und den Reichtum ihres Vaters, fuhr es ihm da durch den Kopf. Und er liebte sie noch, fügte er sich im Innersten heimlich hinzu, trotz der Kränkung, daß sie ihm damals auf seine Annäherung hin keine Antwort hatte zuteil werden lassen.
Was war das? Ein Zufall oder was sonst, daß ihn Adolf Lang heute mit seiner einzigen Tochter in der Loge zusammentreffen ließ?
Die Musik setzte wieder ein. Der Vorhang hob sich. Ewald war nicht mehr bei der Handlung. Kein Wort wurde zwischen ihm und Irma gewechselt. Aber, als ob die schwärmerischen, dunkeln, verschleierten Augen der wundervollen Jüdin einen Magnet in ihren Tiefen bärgen, zogen sie ihn unwiderstehlich zu sich hinüber, und es war ihm, als müsse er die zarte, weiße, diamantengeschmückte Hand, die Irma auf die rote Logenbrüstung gelegt hatte, an seine Lippen führen und küssen.
Vergebens gab er sich alle Mühe, Sinn und Blick auf das Spiel drunten auf der Bühne zu lenken. Selbst Osborn fesselte ihn nicht mehr. Immer nur die eine bange Frage lebte in seinem Inneren: Was soll Irma hier an deiner Seite? Liebt sie dich? Du liebst sie! Fliehe! Warum hat Lang dich hier mit seiner einzigen Tochter zusammengebracht?
Es war ein furchtbarer Zustand. Die lockenden, girrenden Weisen dort drunten im Theater, und an seiner Seite dieses rätselvolle Mädchen, dem Langs Millionen zur Verfügung standen, und von dem er heute mit einem Schlage, als wenn er aus einem langen Traume erwacht sei, wußte, daß er es immer und immer leidenschaftlich geliebt hatte.
Jawohl, jetzt erinnerte er sich wieder daran, daß er schon als Gymnasiast an der Straßenecke gewartet, bis Irma im Kreise ihrer Mitschülerinnen auf dem Nachhauseweg von der Schule erschien. Wie oft hatte er sich damals gesagt, daß sie, die reiche Jüdin, für ihn gar nicht in Betracht kommen könne, daß sie längst verheiratet sein werde, bis er es zu etwas gebracht hätte.
Und nun hatte ihn das Geschick in das Geschäft ihres Vaters geführt, nun saß er in der Loge dicht an ihrer Seite und las in diesen unergründlichen schwarzen Augen, die schon den Knaben zur Verzweiflung gebracht hatten, ein rätselvolles Etwas, eine seltsame Frage, deren Sinn er nicht verstehen konnte, zu deren Beantwortung er niemals den Mut finden würde.
Die Musik schwieg.
»Sie singen auch Schumann?« hörte er da Irmas Stimme an seiner Seite.
»Ich habe die ganze Dichterliebe durchgespielt und durchgesungen,« sagte er in fast gleichgültigem Tone.
»So ein Lied möchte ich gerne einmal von Ihnen hören,« meinte sie. »Schumann geht mir über alles, über alle Opern. Können Sie das Lied singen: Ich habe im Traume geweinet?«
»Hören Sie,« fuhr sie da fort. »Das müssen Sie mir einmal vorsingen, zu Hause bei mir, und ich werde Sie dazu auf dem Klaviere begleiten, Herr Baumann.«
Er starrte sie an, als ob; er den Sinn ihrer Worte nicht begreifen könne.
Er zu Hause bei ihr. Er, der Kommis im Hause des Kommerzienrates, an Irmas Seite, die Dichterliebe von Schumann singend, bei dem stolzen Lang, der kaum einen Gruß für sein Personal hatte.
»Gerne,« stotterte er, »wenn es Ihnen Vergnügen bereitet, gnädiges Fräulein!«
»Aber nicht als leeres Versprechen, das man nicht hält,« drohte sie. »Sie werden sehen, daß ich Sie beim Wort nehme! Wenn Sie nicht kommen, schicke ich Ihnen den Wagen und lasse Sie holen. Ich muß das Lied: Ich habe im Traume geweinet, von Ihnen hören.«
Da nahm der dritte Akt seinen Anfang.
Osborn war heute ausgezeichnet bei Stimme. Deshalb sah das ganze Publikum voll Spannung der großen Bravourarie des dritten Aktes entgegen. Auch Ewald, der noch an diesem Nachmittage die Oper am Klavier durchflogen hatte, vergaß für einen Augenblick seine schöne Nachbarin und deren ihn in Wahrheit beunruhigende Aufforderung, doch einmal zu ihrer Begleitung Schumanns Lied »Ich habe im Traume geweinet« zu singen, und lauschte nun den wundersamen Tönen, in denen der Komponist die Sehnsucht nach der entschwundenen Liebe zum; vollendeten Ausdruck gebracht hat.
Die silberhelle, in den hohen Lagen geradezu entzückende Stimme des berühmten Tenors füllte nun den Saal, sie vermochte sich bis zu dessen äußerstem Winkel Gehör zu verschaffen. Lautlos verhielten sich die Zuhörer, wie gebannt standen die Hunderte von Menschen unter dem Zauber der einschmeichelnden Melodie, deren Text Ewald in diesem Augenblicke an Irmas Seite etwas wie eine Vorahnung des eigenen Geschickes zu enthalten schien.
Auch Irma schien jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Spiele zugewandt zu haben, und wie ein Echo eigensten, im Tiefsten der Seele verborgenen Gefühls klang es dem jungen Manne und nicht nur ihm allein, auch dem Mädchen an seiner Seite, von der Bühne her entgegen: »Weh' es schwand, was ich fand, ach mein Glück erschaut' ich kaum, bin erwacht, und die Nacht raubte mir den süßen Traum.«
Ewald schlug die Lider empor, sein Blick traf Irmas tiefblasses Gesicht, in dem die Augen wie zwei Kohlen brannten und leuchteten. Aber der Blick dieser Augen schien sich ihm in meilenweite Fernen zu verlieren. Es kam ihm vor, als sei das Mädchen an seiner Seite mit einem Male weit weggerückt aus dem engen Raume dieses Theaters, als suchten ihre Augen in von ihm selbst ungeahnten Fernen ein für immer verlorenes Glück.
Da peitschten ihn Lyonels von prächtigen Tönen umflossenen Worte wie aus einem furchtbaren Traume empor. Die Augen öffnend, als sei er all die Zeit an einem Abgrund hergewandelt, starrte er nach dem Freunde seiner Gymnasiastentage, von dessen Lippen es zu ihm hinüber wie eine Warnung kam:
»Nur ein Spiel, was sie getrieben, nur ein sündhaft Gaukelspiel, ihre Zaubermacht zu üben, o, zu viel, der Schmach zu viel.«
Wieder suchten seine Augen Irmas Blick, diesen rätselvollen, flehenden, angsterfüllten Blick, mit dem sie ihn bei ihrem Eintritt in die Loge und noch des öfteren an diesem Abend erstaunt von oben bis unten gemessen hatte.
Aber diesmal trafen ihn ihre Augen nicht. Eine tiefe Röte beschattete ihre schönen Züge, wie er deutlich im Scheine der an der Logenbrüstung brennenden Notlampe erkennen konnte. Sie starrte vor sich hin, er vermochte sich in diesem Augenblicke keine Rechenschaft darüber zu geben, stand sie im Banne der Handlung und der Musik, oder war es ein anderes, ein Fremdes, ein Eigenstes ihres Innenlebens, das sie unter Lyonels Vorwürfen erschauern ließ?
Ihre Hände zupften krampfhaft an dem roten Sammet, der die Logenbrüstung bedeckte, die feinen Nasenflügel zitterten, und ein leises Erschauern schien durch ihren ganzen Körper zu gehen, als nun wieder Lyonels Klage einsetzte: »Mag der Himmel euch vergeben, was ihr an mir Armem tut, euer Spiel zerstört mein Leben, brach mein Herz in Übermut, all mein Träumen, all mein Hoffen schwand in trüber Zukunft Nacht, Todesschmerz hat mich getroffen, Dank euch, Dank, die es vollbracht.«
Ewald zuckte zusammen. Er hier, Irma an seiner Seite, und dieses wundervollen Mädchens rätselhafte Erregung, die Aufforderung, sich von ihr zu Hause am Klavier begleiten zu lassen, und schon allein die Tatsache, daß sie offenbar doch nach ihrem Willen für die Stunden der Oper die Loge mit ihm teilte. Und da unten wieder Lyonels bange Klage: »Mag der Himmel euch vergeben, was ihr an mir Armem tut!«
Plötzlich packte ihn der Wunsch, unter einem nichtigen Vorwande das Theater zu verlassen, von Irmas Seite zu fliehen, sich dem Einflusse, den sie unweigerlich auf ihn ausübte, mit Gewalt zu entziehen. Aber das ging doch nicht, schon aus gesellschaftlichen Gründen nicht, schon nicht in Anbetracht der Brotstelle, die er im Hause ihres Vaters innehatte! Er mußte bleiben.
Und, während die Handlung auf der Bühne ihren Fortgang nahm, während Irma, ihm den Rücken zuwendend, in dem verführerisch ausgeschnittenen Kleide den wundervollen Ansatz des Nackens in blendender Weiße zeigte, trat ihr Bild auch in der Erinnerung der eigenen Seele immer deutlicher und strahlender hervor.
Ach nein, nicht nur der Gymnasiast Ewald Baumann hatte an der Straßenecke gewartet, um einen Blick der Schülerin Irma Lang zu erhaschen. Noch viel später, schon ein Mann, hatte er sich lebhaft für sie interessiert. Wie ein Wink des Schicksals war es ihm erschienen, daß er nach des Vaters Tode gerade in Langs Hause einen Posten als Lehrling und dann eine Anstellung gefunden. Der Jüngling, dessen feste Grundsätze, dessen schmaler Geldbeutel auch nicht die billigste Liebschaft zugelassen, hatte an jedem Morgen, selige Schauer im Herzen, das Geschäft aufgesucht. War es doch einmal vorgekommen, daß Irma den Vater aus dem Bureau abgeholt hatte gerade in dem Augenblicke, als Ewald die Treppe hinabging, um sich zum Mittagessen zu begeben, und hatte ihn doch diese Begegnung wochenlang entzückt in seinem Inneren und sich gepaart mit der süßen Hoffnung, daß sich ein solches Zusammentreffen eines schönen Tages durch einen Zufall wiederholen könne.
Aber es hatte sich nicht wiederholt. Doch der freundliche Gruß, den das einzige Töchterlein des Chefs damals für den kleinen Kommis gehabt, er war unvergessen geblieben. Etwas Vertrauliches aus der Kinderzeit hatte in diesem Gruße gelegen, eine Erinnerung an die verstohlenen Blicke auf dem Schulwege, die einst der Gymnasiast Ewald Baumann mit der Schülerin Irma Lang getauscht hatte.
Daß er sie zu Hause im Gespräche mit Vater und Mutter, mit der Schwester und den Brüdern des öfteren in Schutz genommen, fiel ihm eben, da er an ihrer Seite saß, plötzlich wieder ein. Daß die Mutter ihre philiströsen Ansichten über die Heirat des Kommerzienrates mit der Sängerin vom Thalia-Theater geäußert, und daß er sich damals in der Hoffnung, selbst einmal Künstler zu werden, dagegen verwahrt hatte, dessen erinnerte er sich deutlich. Daß er sich noch jüngst Rolfs antisemitische Anwandlungen gegenüber der Familie Lang verbeten hatte, diese und viele kleine Vorfälle der Vergangenheit schwirrten wild durch seinen Kopf, immer den einen, einzigen Grundton angebend: Du liebst sie, du liebst sie immer noch, heute mehr denn je, fliehe von ihrer Seite, denn eine Annäherung kann ja nichts anderes als ein Unglück für dich bedeuten.
Aus seinen Gedanken, aus den bangen Fragen, die er sich ein über das andere Mal vorlegte, und die alle in dem geheimen Wunsche gipfelten, von Irmas Seite zu entweichen, riß ihn die Frage seiner Nachbarin:
»Finden Sie es auch hier so drückend, so unerträglich im Theater? Ich dachte schon einer Ohnmacht nahe zu sein.«
Erschrocken sah er sie an. Sie war in der Tat ganz blaß geworden, auch aus den sonst so blühend roten Lippen schien in diesem Augenblicke jeder Tropfen Blutes gewichen zu sein.
»Wollen Sie lieber nach Hause gehen, oder ein paar Minuten draußen in der freien Luft sich erholen?« fragte er teilnahmsvoll.
Er war genötigt, seine Lippen dicht an ihr Ohr zu führen, denn das eben anhebende Crescendo der Musik verschlang jeden Laut.
»Der Akt geht zu Ende,« flüsterte er, »Sie können sich den letzten schenken.
»Wieviel Uhr haben Sie denn?« fragte sie leise.
»Fünf Minuten nach halb zehn.«
»Recht, ich habe den Wagen um halb bestellt. Wollen Sie die Güte haben, mir meine Garderobe zu besorgen und mich an den Wagen zu begleiten, Herr Baumann?«
»Aber selbstverständlich.«
Als sie die Loge verließen, fiel gerade der Vorhang. Ewald sah noch, wie sich Osborn lächelnd wie ein Sieger vor dem in tosenden Beifall ausbrechenden Publikum verneigte. Dann half er Irma in den eleganten Abendmantel, den die Logenschließerin schon bereit gelegt hatte.
Als die beiden am Ausgange des Theaters standen, suchte Irma vergeblich nach dem Wagen, er war hier nicht zu finden.
»Aber Papa hat mir doch versprochen, den Wagen pünktlich um halb zehn zu schicken, ich begreife das nicht,« schmollte sie.
Dann stieg mit einem Male eine flammende Röte in ihr Gesicht, die jäh mit einer tiefen Blässe wechselte.
»Sie sind entschieden krank, gnädiges Fräulein,« sagte Ewald besorgt. »Ich werde Ihnen eine Droschke holen und Sie nach Hause fahren lassen.«
»Nein,« wehrte sie, »nein. Lassen Sie uns die Viertelstunde zu Fuße gehen, wenn der Wagen nicht da ist. Papa hat es wahrscheinlich vergessen.«
Es lag ein seltsamer Ton in ihrer Stimme, es war so, als ob sie diesen an sich so harmlosen Worten eine eigenartige Bedeutung beimessen wolle.
Dann fuhr sie rasch fort:
»Es geht mir schon besser, viel besser in der freien Luft, es waren nur die drückende Hitze und die vielen Menschen. Der kleine Weg wird mir gut tun. Kommen Sie.«
Bescheiden ging er an ihrer Seite. Er wagte es nicht, ihr den Arm zu bieten, obwohl es schon Nacht und menschenleer war.
Da kam es ihm vor, als ob sie schwanke, als ob sie in Gefahr sei, zu fallen.
»Nehmen wir doch lieber eine Droschke,« meinte er wieder.
Aber sie beharrte auf ihrer Weigerung.
»Wenn Sie mir Ihren Arm reichen wollen,« sagte sie leise, »dann habe ich ein wenig Halt.«
Er fühlte ihren weichen, runden Arm in dem seinen und sogleich bemerkte er, wie in der Berührung mit diesem seltsamen, rätselvollen Mädchen das Blut stürmischer in seinen Adern rollte.
Nun schritt sie fest und sicher einher.
Es war eine wundervolle Frühsommernacht, lau und mild die Luft, wie sie am Tage im Brande der Sonne drückend und schwül gewesen war. Tausend glitzernde Sterne blitzten an dem dunkeln Firmamente, das sich wie ein reiner, makelloser Schild ohne Wölkchen über Häuser und Gärten spannte.
Nach fünf Minuten Weges hatten sie die städtischen Anlagen erreicht, in denen der Pfeifenstrauch eben seine balsamisch duftenden Blüten entfaltete, wo der Goldregen die schweren gelben Dolden über die Fläche des Weihers senkte und der Holunder seine reichen Knospen zu brechen begann.
Ein schwerer Blütenduft, gemengt mit dem Dunst und Qualm der Stadt, schwebte über Sträucher und Bäume. Er begleitete die beiden, die nun dem vornehmen und stillen Villenviertel zuschritten, wo sich in prächtigen Vorgärten ein Haus der Reichen an das andere schließt.
»Fühlen Sie sich wohler?« fragte Ewald.
»Viel, viel wohler,« stammelte sie und stützte sich fester auf seinen Arm.
»Die Akazien fangen auch schon an zu blühen,« sagte er nun, um das Gespräch nicht völlig verstummen zu lassen.
»Ja, ja, das ist dieser Duft, der süßeste von allen,« meinte sie leise, »der die Sinne gefangen nimmt und alle Fragen des Gewissens und des Verstandes einlullt. Haben Sie das auch schon einmal empfunden, Herr Baumann, daß der Blütenduft einer Frühlingsnacht den Menschen willenlos und unfähig zum Widerstande macht?«
Sie waren gerade vor einer Villa angelangt, in deren Vorgarten ein Springbrunnen plätscherte. Rotleuchtende Geranien, die in dem künstlichen Lichte zweier Gaskandelaber eine fast blutrote Färbung zeigten, umsäumten ein kleines Bassin, in dem die breiten Blätter der Wasserrose schon üppig zu wuchern begannen.
»Das mag wohl vielen Menschen so gehen, daß sie sich dem magischen Zauber des Frühlings vor allem inmitten einer überwältigenden Natur nicht zu entziehen vermögen,« antwortete Ewald.
Sie stützte sich fester auf seinen Arm.
»Dank, Dank,« stammelte sie in ihm unbegreiflicher Verwirrung. Und dann fügte sie ganz leise und mit zitternder Stimme hinzu:
»Sie könnten es also verstehen und verzeihen, wenn ein Mensch im Banne eines solchen Zaubers eine Schuld auf sich laden würde?«
Erstaunt sah er sie an.
»Wie meinen Sie das? Eine Schuld?
»Was die Menschen so gemeinhin Schuld nennen,« gab sie rasch zur Antwort, »und was doch nichts anderes als den Zauber der Natur, als die Gefangennahme aller unserer Sinne durch einen einzigen, mächtigen äußeren Einfluß bedeuten kann!«
Groß, fragend, flehend waren bei diesen Worten ihre Augen wieder auf ihn gerichtet, und als ob sie seine Meinung beruhigen sollte, sagte er in sanftem Tone:
»Aber, liebes Fräulein, wer wollte sich unterfangen, die Schuld des anderen abzumessen, da wir doch alle unter dem Banne eines Unbegreiflichen stehen, das uns heute oder morgen in Schuld und Sünde verstricken kann? Was ist überhaupt Schuld? Ist es eine Schuld, wenn der Arme stiehlt, der sicher kein Dieb geworden wäre, wenn ihm das Glück das Geld in die Wiege gelegt hätte? Ist es Schuld, wenn der Frühling Mächte und Wünsche in uns weckt, die doch die Allmutter Natur in die Tiefe unserer Herzen senkte, damit sie geweckt werden können?«
Keines Wortes mächtig sah sie ihn an. Plötzlich zuckte es um ihre Lippen, und ein wehes Schluchzen brach sich mit aller Heftigkeit Bahn.
Er erschrak.
»Aber beruhigen Sie sich doch,« stammelte er verwirrt. »Sie hätten unter keinen Umständen in die Oper gehen dürfen, wenn Ihre Nerven dermaßen angegriffen sind.«
Da lächelte sie wieder. Ihre Tränen waren versiegt.
»Es ist kindisch von mir, mich so von meinen Gefühlen hinreißen zu lassen. Entschuldigen Sie, Herr Baumann, noch ein paar Schritte, dann sind Sie mich los!«
Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her. Unter blühenden Bäumen, die hier die schweren Äste über die Gitter der Vorgärten neigten, durch die laue Frühsommernacht, in der die Stimmen der Heimchen im feuchten Grase lebendig wurden.
Er scheute sich, das Wort an sie zu richten. Als er so allein mit ihr in der Nacht, ihren Arm in dem seinen, vorüber an den stillen Gärten, dahinschritt, fühlte er mit einem Male, wie sie ihn ganz in den Bann ihrer rätselvollen Persönlichkeit zog. Ihm war es, als könne jedes laut gesprochene Wort den Zauber vernichten, den diese einsame Frühlingsnacht wie einen undurchdringlichen Schleier um sie beide gewoben hatte, um sie, die sich, wie Ewald nun zu fühlen glaubte, seit langem im geheimsten ihres innersten Wesens gesucht hatten!
Aus dieser zaubervollen Stimmung weckten ihn Irmas Worte:
»Nicht wahr, Sie halten Ihr Versprechen? Am Sonntag nachmittag um halb fünf Uhr kommen Sie zu mir und singen Schumanns Lied: Ich habe im Traume geweinet? Das will, das muß ich von Ihnen hören.«
Er hatte noch gar nicht gemerkt, daß sie schon vor Langs Villa standen. Erst, da sie das Tor des Gartens öffnete, fiel ihm das ein.
»Also am Sonntag um halb fünf Uhr,« hörte er noch einmal ihre Stimme, dann sah er sie über den hellen Kies des Gartens wie eine überirdische Erscheinung seinen Blicken entschwinden.
Und auf dem Nachhausewege stand es bei ihm fest, als sei es sein Schicksal, daß er am Sonntag sein Lieblingslied vor ihr singen würde.