Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der stärkste Wall

Auf Neuenburg, dem Schlosse, weilt Landgraf Ludwig gern.
Heut hat er dort zum Gaste den kaiserlichen Herrn,
Den Hohenstaufen Friedrich, der Rotbart zubenannt,
weithin durch alle Lande berühmt und wohlbekannt.

Lustwandelnd schreiten beide hin durch das stolze Schloß
Und prüfen die Gelasse für Ritterschaft und Troß;
Dann treten sie am Ende zum Tor der Burg hinaus
Und schauen in die weiten Thüringer Lande aus.

Da hebt der bärt'ge Kaiser also zu reden an:
»Das Schloß und seine Lage mir wohl gefallen kann,
Doch sagt, wo nehmt Ihr Ruhe darin zu wohnen her?
Nicht Mauern rings noch Wälle seh' ich zu Schutz und wehr.«

Der Landgraf drauf mit Lächeln: »Mich sorgt die Schutzwehr nicht,
Die bau' ich stark und mächtig, sobald sie mir gebricht.«
»Gut«, spricht der Kaiser wieder, »doch denkt, gar lange Zeit
Braucht's, wolltet Ihr errichten hier Mauern hoch und breit«

»Ei, kaum zwei volle Tage!« –Da lacht der Rotbart: »Traun,
Die Wundermauern möcht' ich bei Tageslicht beschaun.
Und wenn des ganzen Reiches Steinmetzen all' zur Stell',
Sie bauten miteinander die Wälle nicht so schnell.«

Der Landgraf schweigt, doch eilends schickt er die Boten aus
Rings an die Herrn und Großen des Landes, Haus bei Haus,
Und läßt sie all' entbieten in voller Waffentracht
Mit wenig reis'gen Leuten aus Neuenburg zur Nacht.

– Als früh am nächsten Morgen der Kaiser kaum erwacht,
Wird ihm von einem Knappen des Grafen Gruß gebracht:
»Steht auf, mein Herr und Kaiser, die Mauer Euch beschaut,
Die um mein Schloß ich eilends in einer Nacht erbaut!«

Der Kaiser schlägt das Zeichen des Kreuzes: »Teufelsspuk!
will mich mein Schwäher blenden mit schwarzer Kunst und Trug?«
Er tritt aus dem Gelasse, da sieht er, was geschah,
Denn ohne Zauberkünste steht eine Mauer da!

Ringsum von reis'gen Mannen ein dichter, fester Kranz, –
wie blitzen Speer und Schilde im Morgensonnenglanz!
wie hell blinkt auf den Wappen das edle Gold darein!
Gleich einem Wall von Eisen stehn die gedrängten Reih'n.

Mit Eisenhut und Harnisch gerüstet wie zum Streit,
Zum Kampf auf Tod und Leben mit jedem Feind bereit.
Und wo ein Turm mit Zinnen die Mauern sonst durchbricht,
Da flattert hoch ein Banner im ersten Sonnenlicht.

Der Kaiser steht ergriffen: »So edlen Wall fürwahr
Sah bis zu dieser Stunde noch nie mein Augenpaar!
Habt Dank für solche Lehre! – Nicht Eisen und nicht Stein
Kann fester als die Treue des tapfren Volkes sein.«


 << zurück weiter >>