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Eines Tages im eingehenden Augustmond standen wir, von Prien herabgekommen, am Gestade des Chiemsees. Der Ort heißt Stock und besteht aus ein paar Schupfen, ein paar Badehütten und einem Steg. Nicht weit davon, landeinwärts, hat sich aber eine Schenke aufgetan, wo der Wanderer im kühlen Schatten seine Reisehandbücher lesen und sich vorbereiten mag auf die Schauer der Vorzeit, die ihn bald auf den chiemseeischen Eilanden umwehen werden. Mir fiel dort immer der steinalte Hesiodische Vers ein vom »Winkel der heiligen Inseln« (μυχῶ νήσων ἱεράων); es ist, wer's zu fassen vermag, ein urweltlicher Duft um diese Seestätten, obgleich die meisten Pilger nur hinüberfahren, um Hechte zu essen und im Lindenschatten der Verdauung zu obliegen.
Schon raucht der hohe Kamin und die weißen Wölklein ziehen dem Gebirge zu. Zu Stock am Stege landet nämlich das Dampfboot, welches die breiten Fluten des Chiemsees befährt – ein schönes Unternehmen, das etwa auf achtzehn Jahre zurückgeht. Allererst trat ein ländlicher Zimmermann auf und stellte verwegenen Sinnes dem Publikum ein naives Schifflein zur Verfügung, eine Bauernarche von rührender Einfalt. Ich glaube nicht, daß hinten in Minnesota über die stillen Gewässer der Winnepagos je ein Dampfboot brauste, dem der Spruch, daß aller Anfang schwer sei, oder vielmehr die liebe Not so deutlich aus jedem Sparren guckte. Doch dauerte dieser erbärmliche Anfang nicht gar lange; denn als man gefunden, daß der Chiemsee auch für solche Schiffe gangbar, schlug man das erste zusammen und baute ein anderes, fuhr auch so fort bis jetzt, wo schon das vierte oder fünfte Fahrzeug sich in den blauen Wellen wiegt. Das gegenwärtige ist aber ganz reinlich und schmuck und gehört dem Kupferschmied Feßler zu München. Der Kapitän hat zwar nie die Welt umsegelt, ja eigentlich noch nicht das Meer gesehen, ist aber ein Insulaner von Frauenchiemsee und führt sein Schifflein trotz Wind und Wetter ohne Gefahr durch die wogende See. Auch ist er sehr höflich, was ich ausdrücklich anmerke, da mehrere Leute, die es ebenso leicht sein könnten, noch immer so grob sind.
Das Dampfboot hatte vielleicht etliche gute Jahre, aber jetzt sind seine besten Tage auch wieder vorbei. Es florierte, als die Eisenbahn nur bis Rosenheim reichte und der Zug der Fremden dem »bayrischen Meer« gern etliche Stunden schenken mochte; jetzt, da die Schienen das Wasser zu Land umspannen, rollen die meisten in lächerlicher Hast dahin. Nur wenige, aber sinnige Seelen verlassen noch zu Prien den Zug, wandeln einsam nach dem Gestade, rauchen ihre Zigarre auf dem Deck des »Maximilian« oder stricken an ihrem Reisestrumpf und betrachten denkend das Gebirge und den chiemseeischen Archipelagus. Die Eisenbahn, wenn sie nicht so bequem wäre, so geeignet für Hochzeitreisende und flüchtige Schuldner, wenn sie nicht die Völker zueinander führte, ihnen, wie zu erwarten, die Schrullen austriebe und die germanische Freiheit über ganz Europa ausbreitete, man könnte ihr zwar manchmal einen bösen Tag wünschen, aber auf dem Chiemsee hat sie bisher nichts verdorben.
»Als ich eines Nachmittags«, schrieb zwar unlängst mit feinen Worten ein guter Freund, »im April 1860 die Klosterfrauen auf Frauenwörth mit einem ehrwürdigen, pappendeckelumzogenen Perspektiv von hoher Mauer über den See spähen sah, aufgescheucht durch einen schrillen Pfiff, wie er vorher nie über die heiligen Wogen herübergepfiffen, und durch ein weißes, wagrechtes, fremdartiges Rauchwölklein, welches sich länger und qualmender längs der Gestade von Feldwies gegen Grabenstatt hinzog, – als damals, kopfschüttelnd und staunig betrübt, die Hüterinnen des Seeheiligtums den großen, schnaubenden Tatzelwurm der modernen Zeit seine ›Probefahrt‹ gen Traunstein tun sahen, da ward auch mir wehmütig zu Sinn, wehmütig um die stille Poesie jener Lande und jenes Seespiegels, und ich danke Gott, daß ich sie noch beschreiten und im morschen Einbaum rudernd belauschen konnte, eh' die Eisenbahn ihre Auswürflinge massenhaft dorthin schleudert.«
Aber wie gesagt, Meister Feßler hat eher zu klagen, daß der Auswürflinge so wenige, und derer, die vorübereilen, so viele sind. Hat er doch, die Preise so nieder gesetzt, daß man auf allen Gewässern nicht billiger fahren kann, und gleichwohl war's immer so still auf seinem Deck! Wenn man das Dampfboot betrachtet, wie es mit den fünf oder sechs sinnigen Seelen, deren wir oben gedacht, dahinfährt und seinen Dienst so ordentlich tut, ohne alle weitere Nachhilfe oder Unterstützung, so meint man fast, es sei eine alte Wohltätigkeitsstiftung, welche die frommen Pilger nicht um schnöden Gewinn, sondern um Gottes willen über die blauen Fluten führt und in einer besseren Welt jene Vergeltung erhofft, welche ihr die heutigen Reisemenschen in ihrer Blödigkeit versagen.
Bei schönem Wetter stachen wir in den See, fuhren zuerst an Herrenchiemsee mit seinen hohen Gebäuden und ragenden Wäldern, dann an der niederen Au, wo die Krautfelder sind, vorüber und landeten auf Frauenwörth. Heutigen Tages in unseren vorwärtssehenden Zeiten kann man nichts leichter übertreiben, als die retrospektive Altertümelei, und daher schweigen wir von Dobdagrek, dem berühmten Bischof zu St. Bonifazens Zeiten, von seiner Schule, wo die Bajuvarenjünglinge im vorigen Jahrtausend Griechisch gelernt, von dem uralten Portal an dem Münster der Frauen, vielleicht dem ältesten Denkmal bajuvarischer Kunst, von der heiligen Irmengard, von Frau Hildegard und Gerburg, den altdeutschen Prinzessinnen, die hier als Äbtissinnen gewaltet oder das Brot der Verbannung gegessen haben, von dem Turm, den wahrscheinlich der nämliche Meister gebaut, welcher für den Stifter Aribo die Türme zu Seeon aufgemauert, schweigen auch von Bischof Berthold von Chiemsee, dem Verfasser der deutschen Theologey, und von vielem anderen, so daß wir eigentlich nur von dem bekannten Handwerksschild der Maler reden, das vor langen Jahren Engelbert Seibertz im Wirtshaus zu Frauenwörth aufgehängt, und von der Chronik der Insel, die einst Friedrich Lentner da gestiftet.
Die Insel Frauenwörth haben schon manche gute Schriftsteller geschildert. In der Tat, dieses Eiland, gestaltet wie ein Fisch, und der grüne Busch von uralten, mächtigen Linden darauf, einst die Dingstätte des Eilands, und das stille, strengverschlossene Frauenkloster, aus welchem nur der Nonnen Gesang erschallt, und die niedlichen Fischerhäuschen, und die reizenden Gärtchen mit ihren Lilien und Rosen und Nelken und den Reben, die sich über die Fenster hinaufwinden, und das ruhige Wirtshäuslein und die wunderschöne Aussicht gegen Mittag über die spiegelnde Flut auf die Berge des Chiemgaues mit ihren Nachbarn links und rechts – dazu der leidstillende Gottesfriede, der über diesem Erdenfleckchen liegt –, sie haben nicht allein die Dichter und Maler, sondern auch die Prosaisten schon lange begeistert.
Das Jugendalter der Insel fällt übrigens kurz vor die dreißiger Jahre, als sie, früher den Münchnern fast unbekannt, durch fahrende Landschafter aufgeschlossen, behaglich gefunden und mehreren vertrauten Seelen ihre heimliche Lage und Beschaffenheit mitgeteilt worden war. Da hob bald im stillen ein großes Reisen an nach dem Eiland des Friedens, und die Eingeweihten feierten da die fröhlichsten Tage, ja selbst Polterabende, Hochzeiten und Beilager. Unser Haushofer, der da, wie auch Direktor Ruben, sein häusliches Glück gefunden, fing damals den Chiemsee zu malen an und hat ihn seit diesem Anfang wohl dreißig oder vierzig Male gemalt – 's ist immer der alte Chiemsee, aber immer in neuer Auffassung und mit neuen Reizen. Das Gedächtnis jener Zeiten zu erhalten, legte Friedrich Lentner im Jahre 1841, also gerade vor zwanzig Jahren, die Chronik an. Diese ist ein heiterer, fast schnurriger, mit gotischen Randmalereien verzierter Bericht über die Entdeckung der Insel und die Begebenheiten, die seitdem da vorgefallen. Solche, die später kamen, Dichter, Maler und sonstige Naturfreunde setzten dann das begonnene Werk gar fleißig fort, dichteten Elegien, zeichneten Landschaftsbilder, Porträte, auch etliche schätzbare Karikaturen hinein. So ist das Buch ein Kleinod geworden, das mit Sorgfalt erhalten und aufbewahrt, aber den Eilandsgästen, die darnach fragen, gerne gezeigt wird. Gar viele haben darüber, schon eine angeregte Stunde zugebracht. Das Inselchen aber erfreut sich noch immer einer großen Beliebtheit, und es fehlte nicht an elegischen Pilgern, welche seine Einsamkeit suchen und gern etliche Tage oder Wochen da verleben. Für Leute, die viel Zerstreuung und Lustbarkeit begehren, ist es aber kaum mehr geschaffen – denn die lustigen Zeiten sind lange dahin. Still ist es noch immer, das grüne Eiland, aber es mangeln die fröhlichen Gesellen und Gesellinnen, welche einst diese Stille kurzweilig machten. Viele davon ruhen schon lang in der kühlen Erde.
Doch nun fort von dem schönen Frauenwörth, das so viel besungen, und hinaus in den weiten See, der schon so oft gemalt worden ist! Der Chiemsee hat eigentlich ein doppeltes Angesicht, oder vielmehr dem Schiffer, der über das Wasser fährt, bieten sich im Handumdrehen, im Augenwinken, zwei so verschiedene Betrachtungen, als wäre er in Gedankens Schnelle viele Tagereisen weit geführt worden. Schaut er nämlich gegen Norden, so zeigt sich ihm nur die alltägliche Waldgegend, ein niederes Gestade mit Nadelholz bewachsen – wie es etwa um die hundert kleinen Seen in der Mark, in Pommern oder in Preußen auch zu finden sein möchte –, wendet er sich aber gegen Mittag, so steigt ganz nah ein prächtiges Gebirge auf, riesige almenreiche Gehänge, wie sie von der Salzach bis an die Isar nacheinander sich emporrichten, vom Watzmann bis zum Wendelstein, bunt besetzt mit fernen Häusern, Wallfahrtskirchen, Schlössern und Sennhütten, während durch die Einschnitte, in welchen die Bergbäche herausströmen, lilienweiß die entlegenen Pinzgauer und Tiroler Schneehäupter herübergucken.
Von Frauenwörth sticht oft in der Abenddämmerung ein Schifflein in den See und plätschert sich hinaus in die rosenrote Flut. In diesem Nachen sitzt immer eine sinnige Seele, ein Maler, ein Dichter, ein Romantiker. Er rudert mit sanften Schlägen fort in dem stillen Gewässer, bis er kaum mehr das Singen vom Gestade her vernimmt. Nun glaubst du aber nicht, wie wunderlich es dem Schiffer bald zumute wird und wie zweifelhaft, ob neben ihm auch noch Menschen auf der Welt sind, und wie er sich freut, wenn auf den Eilanden die Abendglocken erschallen und allmählich die ersten Lichter in den fernen Fenstern glänzen. Es weht da nämlich eine solitudo wie vor tausend Jahren; dieselbe Einsamkeit, wie sie aus den Urkunden der bajuvarischen Urzeit herausspricht – gegen Anfang, gegen Mittag und gegen Mitternacht alles öde, nur hier und da ein Kirchtürmlein, das verlassen aus dem Fichtenwalde spitzt, obwohl da Raum genug für sieben Städte wäre, welche sich um ihren berühmtesten Dichter streiten könnten, und selbst gegen Westen nur etliche Lichtchen aus den Fischerhütten und der matte Schein der Klosterfenster. Diese tiefe Waldeinsamkeit, welche die bayrischen Seen umgibt, verlangt fast eine Erklärung, die unsere Kulturhistoriker auch nicht lange schuldig bleiben werden. Bis wir die rechte haben, können wir immerhin anführen, daß die Ufer vielfach sumpfig sind. Aber wenn die Ansiedler die nassen Stellen meiden wollten, warum haben sie sich nicht desto dichter auf den trockenen niedergelassen?
Unter diesen oder anderen Betrachtungen fuhren wir an dem Steg zu Seebruck an, alle des Willens, den bestellten Wagen zu besteigen und mit Kind und Kegel nach dem Ort zu fahren, welchem wir noch unsere Aufmerksamkeit widmen werden. Auch sah ich schon von ferne über den langen, schwanken Steg meinen Gönner hereinschimmern, den freundlichen Hausmeister von Seeon nämlich, den ich mir eigens gekommen dachte, um uns mit einer glückwünschenden Festrede zu empfangen, das Gepäck zu übernehmen und die Gesellschaft an den Wagenschlag zu geleiten. Jeder Schritt brachte uns näher und näher, und endlich waren wir dicht beisammen. Unser freundlicher Hausmeister, mit dem ich schon manche Stunde unter der Kellerlinde gesessen – er schien mir zwar so kurz und rund wie immer, aber liebenswürdiger als je, und sagte verbindlichst, die Bestellung sei nicht auszurichten gewesen; ganz Seeon strotze von den anhänglichsten Familien, die um die besten Worte nicht weiterziehen wollten; der Wagen sei also auch nicht da und er selbst nur gekommen, um die kaiserliche Abtei und Badeverwaltung ergebenst zu entschuldigen und für ein andermal zu empfehlen. Welch garstige Äffung! Manche Stirne runzelte sich, manches Auge zuckte, aber das weiseste schien gleichwohl zu fragen: »Was nun?« Unser Gönner riet, mit dem Dampfboot wieder umzukehren, nach Frauenchiemsee, nach Prien zu schiffen, kurz auf und davon zu gehen, je weiter, desto besser.
»Aber wie ist's denn hier im Dorfe?«
»Nicht Raum genug für so viele Leute« (wir waren nämlich, groß und klein ineinander gerechnet, unser neune), »vielleicht wenig Bequemlichkeit.«
»Vielleicht mehr als in Seeon!« rief da mit lauter Stimme ein dabeistehender Landjüngling von Seebruck, der die Ehre seiner Heimat ungern herabgewürdigt sah. »Geht hinein zum Wirt und schaut!«
Dies schien sehr nahe zu liegen und wurde auch gleich versucht. Herr Isaak Wellkammer, der Gastgeber, in dessen christlicher Familie der seltene Taufname von jeher in Übung ist, empfing uns mit der ihm eigenen Freundlichkeit, sprach sehr hochdeutsch, als wenn wir nicht recht Bayrisch verstünden, zeigte uns seine heiteren Zimmer, seine guten Matratzen, und nach schnellem Umsehen fühlten wir uns ganz glücklich, nicht wieder in der Abendkühle auf die treulose Flut zu müssen und eine Stelle gefunden zu haben, wo wir unser müdes Haupt zur Ruhe legen konnten. Und so nahmen wir also Herberge in dem großen und guten Wirtshaus des kleinen Seebrucks, auf der Stelle der alten Römerstadt Bejadum, welche noch durch unterirdische Gewölbe und unverständliches Gemäuer, durch Kaisermünzen, die vor siebenzehnhundert Jahren verloren wurden und jetzt wieder gefunden werden, ihr längst verschollenes Dasein zu bezeugen sucht.
Doch gefiel es uns, noch ein halbes Stündchen zu lustwandeln, hinaus und auf die lange, breite Brücke, welche hier über den Ausfluß des Sees, die ruhig flutende Alz, geschlagen ist. Auf der Brücke aber ein wunderschöner, unvergeßlicher Anblick! Gegen Süden das ragende Gebirge des Chiemgaues in tiefer, blauer Dämmerung, mit einem durchsichtigen, feinen Schleier umwoben, großartig und ehrfurchtgebietend; darüber die rosenroten Abendwolken, und weiter herüber gegen das Flachland ein goldgelber Schein, in den der finstere Kirchturm von Seebruck und die schweigsamen nächtlichen Bäume des Dorfes seltsam hineinstarrten, und im ruhigen See diese Farben wieder, das tiefdunkle Blau, wo sich die Berge spiegelten, die rosenroten Wolken, der goldgelbe Schein, und dann, wo dieser nicht mehr hinreichte, die grasgrüne Flut, die sich ganz hell und klar ins Röhricht hineinzog, wo die Tauchentchen schwammen und hie und da ein Fischlein aufsprang. Diese Brücke zur Abendzeit und das ganze Dörflein in seinem Obsthaine schien mir so neu, so niegesehen und überraschend! Bin schon mehrmals da vorbeigekommen, gehend und fahrend, ist mir doch nie aufgefallen, wie schön das ist! So mag es oft dem Dichter aus der Stadt ergehen, der jahrelang an einem Gesellen vorüberwandelt, den er zwar dem Namen nach kennt, der ihm aber spröde und widerwärtig und ungenießbar scheint, worauf dieser dann gesteht, daß er alle durchgefallenen Tragödien, Liebeslieder, Romanzen, Balladen und Lehrgedichte seines Nachbars sämtlich gelesen und wunderschön gefunden, sogar Zufriedenheit, Trost und Lebensmut daraus entnommen habe, so daß jener vorwurfsvoll zu sich selber sagt: Welch ein edler Geist! Konnt' ich an dieser Stelle so lange vorübergehen, ohne zu ahnen, wie schön sie ist?
Bejadums weitere Umgebungen sind auch nicht zu verachten. Wer zum Beispiel nach Endorf, nach der nächsten Bahnstation sich wendet, der kommt auf dem allen Römerweg einmal an eine Stelle, wo die Straße abwärts führt und dann auf schmaler Landenge zwischen zwei Seen durchzieht. Die Seen sind waldumschlossen, dunkelschattig, einsam, fast melancholisch. Es ist ein eigentümlicher Fleck, wo für ein romantisches Auge, für einen »blinden Seher« vielleicht mancherlei zu schauen oder zu ahnen wäre; denn auf der Landenge stand einst eine Burg, Hademarsberg, später Hartmannsberg genannt, wo ein Zweig jener mächtigen Falkensteiner hauste, welche sich nach der Veste bei Brannenburg nannten, die jetzt verfallen ist. In einem alten pergamentenen Buche im Archiv zu München ist noch ein Stück des Schlosses abgebildet zu finden, ein mächtiger Grundbau, der aus dem See aufsteigt, und darüber ein Laubengang von romantischen Rundbogen, in dessen Pracht das Edelfräulein erscheint, wie es angelt, Fische angelt aus dem blauen See – wahrscheinlich wußte sie, die holde Unbekannte, auch unvorsichtige Ritterherzen zu angeln und hat es vielleicht nicht selten versucht. Ach, das fröhliche Mädchen liegt schon lang im kühlen Grabe, schon seit sechshundert Jahren, und weiß kein Mensch mehr, wie sie geheißen und wen sie geheiratet hat und wie es ihr ergangen ist. Ich lebe der Hoffnung, daß sie eine brave Hausfrau geworden und ordentlich gewirtschaftet, nicht in Saus und Braus ihre Habe vertrödelt, ihre Zahlungen eingestellt und hunderte von fleißigen Handwerkern um ihre Mühe und Arbeit gebracht hat, wie es jetzt mitunter vorkommen soll. Später, in milderen Zeiten, wurde die Burg zu Hartmannsberg ein offener Edelsitz, den zuerst die Pinzgauer und vor hundert Jahren die Grafen und Gräfinnen von Hörl sommerlich bewohnten, bis sie vergantet wurden.
Jetzo ist der Edelsitz ein großes Wirtshaus, das aber, seit die Eisenbahn errichtet worden, nur wenig Besuch mehr sieht. Die Wirtin führt uns gern herum in dem oberen Stock, wo noch die Schloßkapelle, eingelegte Kommoden und Tische, getäfelte Türen und anderer verschlissener und vergilbter Wohlstand vergangener Zeit – nunmehr alles zur Verfügung zufälliger Herbergsgäste, Fuhrleute, Viehtreiber und wandernder Schneidergesellen. An den Wänden hängen auch etliche alte, nachgedunkelte Gräfinnen aus der Zeit des spanischen Erbfolgekrieges, jungferlichen Standes, wie es scheint, welche jetzt, natürlich nur mit gemalten Augen, den unsauberen Handwerksburschen zusehen, wenn diese abends in das Bett steigen. Nichts ist so erhaben und so ausschließlich als der hohe Adel, solange der Portier mit dem breiten Wehrgehänge unter dem Tore steht und die Wappenwagen anfahren, die schweren Seidenroben über die Treppe hinaufrauschen und die Ballmusik aus den erleuchteten Sälen schallt; aber wenn die Noblesse einmal auf der Retirade, so überläßt sie Hausgötter, alte Kommoden und alte Jungfern – letztere sogar zum Aufheiraten – schließlich gern dem bescheidenen Bürgerstande.
Seebruck rühmt sich ferner der Auszeichnung, daß es zur nachmittäglichen Kaffeezeit von Seeons Badegästen in großer Anzahl besucht wird. Wer diesen geselligen Freuden etwa ausweichen wollte, könnte gerade um solche Zeit nach Seeon wandern, welches nur eine Stunde entfernt ist. Er ginge dabei zuerst die Alz entlang, den stillen, glatten Strom, der sich hier glänzend in schattige Waldbuchten verliert, aber bald von steigenden Höhen in Empfang genommen wird, die ihn lange begleiten und ein so reizendes Tal bilden, daß unser Siegelt wahrlich gut getan, es das Tempe des Chiemgaues zu nennen. Allmählich erreicht man auch Ischl, ein Dörflein, welches einsam im waldigen Grunde liegt. Man weiß nicht, ob dieser Ort vielleicht vor tausend Jahren, als die Chiemgauer in großen Haufen nach der Ostmark, dem heutigen Österreich wanderten, Stamm- und Namensmutter jenes anderen berühmteren Ischl im Salzkammergut geworden; aber so viel ist gewiß, daß wenigstens jetzt zwischen diesem und jenem nicht die geringste Ähnlichkeit besteht. Dort europäischer Zusammenlauf, Vornehmheit, Luxus und Prellerei, hier die tiefste Einsamkeit und ländliche Stille. Hier im chiemgauischen Ischl ist auch der Kaiser von Österreich noch nie mit dem König von Preußen zusammengekommen, wie dort anno 1851, obgleich es hier ebenfalls sehr wünschenswert wäre und vielleicht zur Aufrichtung aller guten Chiemgauer und sonstigen Deutschen gedeihen möchte. Um den Berlinern ein politisches Interesse an dieser Zusammenkunft beizubringen, könnte man auch einen französischen Friseur oder Marschall dazu einladen und ein paar Poeten von der Spree, die zu deren Ehren wohl willig in die Harfe klingen würden. Das Örtchen besteht übrigens nur aus ein paar Bauernhöfen und einer Mühle am klaren Bach, welche ein Kirchlein, das mitten im Friedhof steht, verbindet – stilles Kirchlein ohne Altertum und Denkmal.
Auf dem Friedhofe hielt ich einst ein bißchen an und las z. B. über einem Grabe: »Johann Reitmayer zu Ischl wollte nach dem Wallfahrtsorte Unser Herr auf der Wies gehen, starb aber ganz unvermutet zu Trauchgau.« Wer uns sagen könnte, warum Johann Reitmayer dazumal nicht zur bayrischen Muttergottes im nahen Altötting pilgerte, oder wenn er ein minder kräftiges Heilmittel seinen Umständen zuträglicher erachtete, warum nicht nach Maria-Eck, nach Tuntenhausen, nach dem Birkenstein bei Fischbachau? Warum so weit über Berg und Tal und Wasserflüsse bis hinaus nach Steingaden, an den Lech, zum schwäbischen Herrgott auf der Wies? Anziehungskraft und Ruf der Gnadenbilder haben auch ihre Geheimnisse, die noch wenig enträtselt sind. Manchmal reißt es den Pilger fort mit Sturmesdrang nach fernen Wallfahrtsorten, an die kein Mensch mehr denkt, deren Namen kaum bekannt, deren Gegend der Schullehrer gar nicht und der Pfarrer erst auf Nachschlagen angeben kann. Der Liebhaber steckt einen ledernen Schlauch mit Silbermünzen und seine Tabakspfeife zu sich und wandert des Gottes voll, wohin ihn die Gestirne leiten!
Auch ein geringes Bildchen an der Friedhofsmauer zog mich seltsam an. Oben kniet ein Jüngling in einer Uniform, wie sie die Bayern in den Freiheitskriegen getragen, und darunter steht: »Mein Sohn, welcher als Feldjäger, fünfundzwanzig Jahre alt, in einer entlegenen Landschaft, die wir nicht wußten, gestorben ist, 1814.« Weil er bei seiner »Freundschaft« auf dem Friedhofe zu Ischl doch nicht schlafen konnte, der junge Freiheitsheld, so errichtete ihm der Vater dort an dem stillen Ort ein Zenotaphium. Wie einfach und wie lieb! ». . . in einer entlegenen Landschaft, die wir nicht wußten . . .«. Wo mag es wohl gewesen sein? Zu Arcis in der Schlacht, zu Nancy im Spital, oder sonstwo jenseits der Vogesen! Hätte nicht gedacht, da zu Ischl diese wehmütige Erinnerung an jene Kriege zu finden, an den schönen Wahn und die große Zeit, als die hochherzigen Deutschen ihre Kaiser und Könige vom Napoleon befreiten, um selbst der traurigsten Herrschaft anheimzufallen. Der Feldjäger von Ischl hat's gewiß auch anders gemeint! Gott geb' ihm eine fröhliche Urständ, wo immer auch im fernen Frankreich seine Asche ruht!
Rechts von Ischl fließt die Alz, und wenn wir nicht nach Seeon gehen, so erreichen wir, dem chiemgauischen Tempe folgend, in einer guten Stunde die Gegend, wo das Kloster Naumburg weithin sichtbar auf seiner schönbelaubten Anhöhe steht und der alte Markt an dem rauschenden Fall des Stroms sich ausbreitet, und Trostberg, der freundliche Flecken, mit der Siegertshöhe von ferne glänzt, und gegen Anfang die Brauerei von Stein zu ihrem flüssigen Golde winkt, lauter Schönheiten, die wir heute nicht näher zu beschreiben brauchen.
Es ist überhaupt eine Eigenheit des Chiemgaues, so schaulich, so belvederisch zu sein, oder, um diese bedenklichen Adjektive zu umschreiben, es ist ihm eine so geschickte Anordnung, ein so wohlbemessenes Gewebe des wogenden Hügellandes zuteil geworden, daß der Wanderer alle Viertel-, alle halbe Stunden, nachdem er ein Tal durchschritten, wieder auf eine Höhe gelangt, von der sich die ungeheure Gebirgsansicht und der See, und über den Inn hinaus die unermeßliche bayrische Ebene zeigt. In allen Landschaften, die sich vor den Bergen ausbreiten, finden sich natürlich vielfach Stellen, wo sie übersichtlich vor Augen liegen; aber eine so regelmäßige Wiederkehr von Senkung und Hebung, und auf dieser von endloser Fernsicht sowohl einwärts in die Alpen, als in die grüne Heide, ins Flachland hinaus, sie hat nur der Chiemgau.