Ludwig Steub
Sommer in Oberbayern
Ludwig Steub

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Der Seebühler erzählt

Die Gegend von Reichenhall ist klassisch für die deutsche Sage. In Reichenhall im Dienst des Stadtschreibers stand Lazarus Aigner oder Gitschner, der an Maria Geburt im Jahre 1529 von einem Mönche in den Untersberg geführt wurde, alle seine unterirdischen Herrlichkeiten, auch den Kaiser Karl sah, und glücklich wieder an die Oberwelt und zum Stadtschreiber zurückkam. Hernach hat er seine wundersame Fahrt beschrieben und den Bericht davon fünfunddreißig Jahre später veröffentlicht. Als ich einmal im Kaitlgarten am späten Tage mit dem wackeren Förster, der da seinen Abendtrunk einzunehmen pflegt, über diese Dinge sprach, empfahl er mir einen ehrengeachteten Mann der Gegend, der viele Sagen – Lügen nannt' er sie – zu erzählen wisse und seine Freude haben würde, einen gläubigen Zuhörer zu finden; denn es gehe ihm nachgerade ziemlich schlecht mit seinen Geschichten, weil sie der Zehnte nicht mehr hören wolle. Dieser schätzbare Freund alter Sagen ist der Salinenbrunnenwärter Joseph Schweiger, den man den Seebühler heißt, weil seine Brunnenwarte auf einem waldigen Bühel am Thumsee liegt. So erging denn die Einladung an ihn, sich sonntags früh im Kaitlgarten einzufinden, und als er kam, setzten wir uns – es war ein warmer Sommertag – unter einen Kastanienbaum zu Bier und Brot; er fing an zu erzählen und ich hörte zu.

Der Seebühler ist ein Mann von neunundfünfzig Jahren, mit einem schöngefärbten, heiteren Gesicht, in das schlichte weiße Haare hineinhängen. Er kann ordentlich schreiben und lesen und spricht dabei die altbayrische Mundart in voller Reinheit. Die Worte rinnen ihm geläufig von der Zunge und zuweilen bringt er einen guten Scherz an. Außer seinem Gedächtnis hat er keine Behelfe für seine Erzählungen.

Mit der alten Sage vom Untersberg ist der Seebühler sehr vertraut; da sie aber unsere Leser wohl schon kennen, so erwähnen wir nichts davon, sondern erzählen unserem Gewährsmann eine andere Geschichte nach. Der Seebühler spricht also:

»Zwei Jahre vor der teuren Zeit starb in Feldwies, einem Dorf am Chiemsee, der Weber und hinterließ in seinem kleinen Hause zwei Söhne und zwei Töchter, sämtlich erwachsen und ganz rechtschaffen. Diese lebten nun im Frieden auf dem väterlichen Anwesen, widerfuhr ihnen auch nichts Seltsames, bis sich die Sterbezeit ihres Vaters etwa zu jähren anfing. Da hörten sie nun einmal gegen Mittag im obern Stocke ein Winseln, den zweiten Tag wurde gehaspelt, am dritten aber vernahmen sie ein völliges Geräusch, wie wenn jemand am Webstuhl säße und arbeitete. Am vierten Tage gab es gar Musik, Klarinette und Querpfeife, die überaus schön zusammenspielten, und am fünften kamen noch ein paar Instrumente dazu, die sie früher nie und nirgends gehört zu haben sich erinnerten. Wenn nun die Weberkinder, wie sie es jedesmal taten, in den oberen Stock hinaufgingen, um nachzusehen, so war alles still. Kaum waren sie aber wieder in der Wohnstube, so fiel die Musik von neuem ein und dauerte bis gegen zwei Uhr nachmittags. Die Weberkinder hatten nun zwar keine sonderliche Furcht oder Beschwerde darob, da die Musik nur bei Tag verlautete und gar schön und heimlich klang; weil ihnen aber, wenn sie es erzählten, die Nachbarsleute nicht glauben wollten, so luden sie auf den sechsten Tag mehrere Befreundete beiderlei Geschlechtes ein, damit sie sich selbst überzeugen sollten. Diese fanden sich nun alle zusammen, und da sie bei guter Zeit gekommen waren, so fielen sie darauf, ein wohlfeiles Kartenspiel zu machen, umsomehr, als sie wohl dachten, sie würden umsonst zu warten haben. Nun spielten sie aber nicht lange, so ließ sich die Musik hören, vollständiger noch, als tags zuvor, mit Trompeten und Pauken und allen Instrumenten, so schön, daß sie alle sagten, nie ihres Lebens hätten sie herrlichere Musik gehört, wurde aber zuletzt so stark, daß sie gar nicht mehr spielen konnten. So gingen sie sämtlich miteinander hinauf unter das Dach, suchten jeden Winkel aus, konnten aber nichts Unheimliches entdecken. Während sie hinaufstiegen, war die Musik schnell eingeschlafen, kaum aber waren sie wieder unten, so brach sie abermals los wie vorher. Nun sagte einer, man solle im Kalender nachsehen, was heute für ein Tag sei, und da dies geschah, so fand sich, daß es der Sterbetag des Vaters war, woraus sie denn leicht abnehmen konnten, weß Ursprungs die Musik sein möchte. Von diesem Tage aber nahm der Spuk wieder ab, in gleicher Weise wie er zugenommen, und endete am fünften mit einem leisen Winseln, wurde auch späterhin nie mehr etwas gehört.«

Solche Geschichten erzählen der Seebühler und seine Altersgenossen einfach, treuherzig und ohne alle Zweifel. Sie mäkeln nicht daran und scheinen wenigstens geneigt, sie so lange für wahr zu halten, bis ihnen das Gegenteil bewiesen wird. Die Leute mittleren Alters vermeiden es, sich entschieden über ihre Glaubwürdigkeit auszusprechen, die reifere Schuljugend aber lacht dazu unverhohlen. Der halbe Unglaube der einen und das Lachen der andern ficht aber den Seebühler ebensowenig an, als wenn ihn die junge Frau Kaitlwirtin das ›Lügenhaferl‹ nennt, was man zu hochdeutsch etwa mit ›Lügentöpfchen‹ wiedergeben könnte. Er hält fest an der Wahrheit seiner Erzählungen und glaubt dabei umso unbefangener zu erscheinen, als er selbst gerne etliche Geschichten hören läßt, in denen das anscheinend Gespensterhafte entweder von einem Schwanke ausging oder in einen solchen endete, und die somit als vollgültige Zeugnisse für seine uneingenommene Beurteilungskraft gelten müssen. Wir lassen auch eine solche mitkommen, die wir dem interessanten Manne verdanken.

Derselbe erzählt also: »An einem warmen Maiabend stieg vor mehreren Jahren Jungfrau Maria . . . aus Reichenhall zu St. Pankraz hinauf, in feierlichster Stimmung. Ihr Hochzeitstag stand bevor, der Abschied von ihren Eltern, ihren Befreundeten, ihren trauten Bergen, denn ihr Verlobter war weit draußen angesessen in der Ebene. So pflegte sie noch einmal voll wehmütiger Rührung ihrer Andacht in der kleinen Kapelle, und als sie wieder herausgetreten war, sah sie mit feuchten Augen hinunter in das grüne Tal ihrer Vaterstadt, wo sie die fröhlichen Jahre ihrer Jugend verlebt hatte, die nun zu Ende gingen, um nie mehr wieder zu kommen. Dabei fiel ihr Blick auch auf das alte Gemäuer des Karlsteins, wo einst die Reichenhaller im schönen Sommer oft mit Bierfäßchen und Musik aufgezogen waren, festliche Abende zu begehen, in den Tagen, als die Bänke und Lauben noch bestanden, die der Herr Förster vordem gepflanzt. Im stillen Schauen kam es ihr an, auch zur verfallenen Burg noch einmal emporzuklimmen, um dort vergangener Freuden zu gedenken.

So stieg sie also von St. Pankraz herab und den Burgfelsen hinan und trat in die grauen Mauern, ließ sich unter einer Buche nieder, nahm eine Wiesenblume und zerpflückte sie in tiefem Träumen. – Als sie aber wieder einmal aufblickte gegen das Tor zu, sah sie ein schwarzes Frauenbild, hoch und edel, bleichen, geisterhaften Antlitzes, über dem Gesteine langsam daherschweben und den Zeigefinger warnend emporheben. Maria schaute, glaubte das Burgfräulein zu sehen, hatte einen jähen Schreck und fiel halb ohnmächtig an die Buche zurück. Als sie sich wieder erholt, war die Gestalt verschwunden, sie aber fühlte sich unbaß, wankte mühsam den Burgfelsen hinunter, ging nach Hause und lag vierzehn Tage krank, so daß die Hochzeit verschoben werden mußte, was dem sehnsüchtigen Bräutigam sehr schmerzlich dünkte.

Am selben Tage und vielleicht zur selben Stunde kam ein anderes Mädchen, welches Kathi hieß, aus ihrem Kämmerlein ins Freie, um sich in der Abendluft zu zerstreuen. Man erzählt, ihr Großvater sei kurz vorher eines schnellen Todes verblichen, und sie habe sich den guten alten Herrn so schnell nicht aus dem Sinne schlagen können. So ging sie also in ihrer Trauer einsam in der Au und bedachte sich nebenher, daß es wohl zu ihrer Erheiterung dienen möchte, wenn sie den Karlstein bestiege, um oben der freien Aussicht froh zu werden. Deswegen nahm sie ihren Weg gegen den Burgfelsen, kletterte dann frisch die hölzerne Treppe hinauf und schritt durch den verfallenen Torweg in den schattigen Hof. Hier aber tat sie plötzlich einen lauten Schrei, denn sie sah unter einer Buche das Burgfräulein sitzen, weiß gekleidet, wie es in unheimlicher Ruhe mit einer Wiesenblume spielte. Kathi wollte zusammensinken in ihrer Angst, raffte sich jedoch glücklich wieder auf, stürzte in halsbrechenden Sätzen die Treppe hinunter, lief nach Hause und legte sich ins Bett, welches sie vor vierzehn Tagen nicht mehr verließ, so sehr hatte ihr der Schrecken zugesetzt.

Die Begebenheit machte Aufsehen in der Gegend. Die älteren Leute fanden darin eine willkommene Bestätigung jener Sagen von dem Burgfräulein, die man ihnen so oft belächelt hatte, die jüngeren wurden stutzig und weniger freigebig mit ihren Spöttereien, die denn doch einer durch zwei unverwerfliche Zeugen beglaubigten Tatsache gegenüber ziemlich viel von ihrer Berechtigung eingebüßt zu haben schienen. Die Mädchen aber fanden bei aller Langeweile des Krankenlagers jede einen Trost in der Erscheinung, die, wie sie alsbald hörten, der andern geworden war; denn dieses Zusammentreffen allein war es, was sie vor den Verdächtigungen der Reichenhaller Freigeister rettete und den Vorwurf eines lächerlichen Selbstbetrugs von ihnen nahm. Vorher schon Freundinnen, konnten sie nun kaum den Augenblick erwarten, wo sie die Erscheinung miteinander besprechen und ihre Gefühle dabei einander schildern könnten, und als er endlich gekommen war, fielen sie sich mit dem Adel einer höheren Würde, wie zwei durch den Verkehr mit einer hereinragenden Geisterwelt geweihte Priesterinnen in die jungfräulichen Arme.

Darauf setzten sie sich vertraulichst zusammen, nachdem Krankheit und Genesung kurz beredet war, begann Maria zu fragen:

›Aber sag nur, Kathi, wie hat denn dein Burgfräulein ausgesehen?‹

›O, es hatte etwas Geisterhaftes‹, erwiderte die Freundin, ›es war ganz schneeweiß angezogen.‹

›Schneeweiß angezogen?‹

›Ja, und saß unter einer Buche.‹

›Unter einer Buche?‹

›Ja, und hatte eine Blume in der Hand.‹

›Eine Blume in der Hand?‹

›Ja, und dabei hatte es den eisigen, fürchterlichen Blick und das bleiche, schaurige Gesicht, wie es die Gespenster haben.‹

›Laß gut sein, Kathi‹, sagte Maria mit unverkennbarer Gereiztheit. ›Du hast dir wohl nicht die Zeit genommen, es genauer anzusehen. Also schneeweiß, unter einer Buche, eine Blume in der Hand? Nein, liebe Kathi‹, fuhr das Mädchen fort, allen Ärger aufgebend, und griff der Freundin schmeichelnd an das Kinn, ›nimm's mir nicht übel, aber ich glaube schier, ich war dein Burgfräulein. Ich war damals weiß angezogen, ich saß unter der Buche, ich spielte mit einer Blume – ja, ich bin dir erschienen!‹

›Meinst?‹ fragte die Kathi langgezogen und wagte es beschämt kaum mehr, der Freundin in die treuen Augen zu schauen, ›Möglich wär's ja; aber wie sah denn dein Gespenst aus?‹

›Ja, das hatte schon die rechte Farbe, war ganz schwarz von Kopf zu Fuß, hatte so eine kleine Tasche an der Seite, wie die Ritterfräulein sie trugen, und auf dem Haupte etwas Glänzendes wie eine Riegelhaube, aber ganz anders, und kam zum Burgtor herein, ganz erhaben und . . .‹

›O du lieber Gott!‹ fiel Kathi ein, ›das war ja ich! Ich war schwarz gekleidet, weil der Großvater gestorben, ich hatte meine neue Stricktasche bei mir und auf dem Kopfe etwas Glänzendes, das gar leicht einer Riegelhaube gleichsehen konnte, weil es wirklich eine war, und dann kam ich auch vom Burgtor herein und ging langsam vorwärts, bis du mir erschienst, worauf ich zuvörderst einen Schrei tat und dann schleunigst wieder umkehrte.‹«

Frauenwörth
Steinzeichnung von Fr. Wilh. Doppelmayr um 1820

 


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