Stendhal
Armance
Stendhal

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Totus mundus stult.
        Hungariae R . . .

 

Etwa zur Zeit von Octaves Verwundung war eine neue Persönlichkeit aus Saint-Acheul gekommen und in der Gesellschaft der Marquise erschienen: der Chevalier von Bonnivet, der dritte Sohn ihres Gatten.

Im Ancien régime hätte man ihn zum bischöflichen Stande bestimmt, und obwohl sich vieles verändert hat, war er und war alle Welt aus einer Art Familientradition überzeugt, daß er ein Mann der Kirche werden müsse.

Dieser kaum zwanzigjährige Jüngling galt für sehr gelehrt und zeigte vor allem eine für sein Alter ungewohnte Verständigkeit. Er war klein, sehr bleich, hatte grobe Züge und alles in allem etwas von einem Priester an sich. Eines Abends wurde die »Etoile« gebracht. Der Papierstreifen, der die Zeitung umschloß, war verschoben; offenbar hatte der Portier sie gelesen. »Auch diese Zeitung«, rief der Chevalier von Bonnivet unwillkürlich aus, »ist so schäbig, den zweiten grauen Papierstreifen zu sparen, durch den ein Kreuzband entstände, und sie setzt sich so der Gefahr aus, vom Volke gelesen zu werden, als ob das Volk zum Lesen da wäre! Als ob das Volk das Gute vom Schlechten unterscheiden könnte! Was ist da erst von den Jakobinerzeitungen zu erwarten, wenn sich schon monarchische Blätter derart benehmen!«

Diese Regung unfreiwilliger Beredsamkeit machte dem Chevalier viel Ehre. Sie gewann ihm sofort die alten Leute und alles, was in der Gesellschaft von Andilly mehr Ansprüche als Geist besaß. Der schweigsame Baron von Risset, dessen sich der Leser wohl kaum noch entsinnt, stand feierlich auf und umarmte den Chevalier wortlos. Dieser Vorgang verbreitete für ein paar Minuten eine feierliche Stimmung im Salon und belustigte Frau d'Aumale. Sie rief den Chevalier zu sich, suchte ihn zum Sprechen zu bringen und nahm ihn gewissermaßen unter ihren Schutz.

Alle jungen Damen ahmten sie nach. Man machte den Chevalier sozusagen zum Nebenbuhler Octaves, der damals verwundet in Paris lag. Aber bald fühlte man sich von dem Chevalier von Bonnivet trotz seiner großen Jugend gewissermaßen abgestoßen. Man spürte bei ihm einen seltsamen Mangel an Mitgefühl für alles, was für uns von Belang ist. Dieser junge Mensch hatte seine Zukunft für sich. Man erriet bei ihm eine tiefe Heimtücke gegen alles, was besteht.

Am Tage nach jenem Vorfall, wo er auf Kosten der »Etoile« geglänzt hatte, trat der Chevalier bei Frau d'Aumale, die er schon frühmorgens besuchte, etwa wie Tartuffe auf, als er Dorine ein Taschentuch anbietet, um Dinge zu bedecken, »die man nicht sehen soll«. Er machte ihr ernstliche Vorhaltungen über irgendeine leichtfertige Äußerung, die sie sich anläßlich einer Prozession erlaubt hatte.

Die junge Gräfin gab ihm eine lebhafte Antwort, lud ihn angelegentlich zum Wiederkommen ein und war von seiner Lächerlichkeit begeistert. »Ganz wie mein Mann«, dachte sie. »Schade, daß der arme Octave nicht hier ist. Das gäbe was zum Lachen!« Der Chevalier von Bonnivet ärgerte sich vor allem über den Ruf, der dem Namen des Vicomte von Malivert anhaftete; er fand ihn in aller Munde. Octave kam nach Andilly und erschien wieder in der Gesellschaft. Der Chevalier hielt ihn für Frau d'Aumales Liebhaber, und bei diesem Gedanken faßte er selbst den Plan, eine Leidenschaft für die hübsche Gräfin zu hegen, und war höchst liebenswürdig gegen sie.

Die Unterhaltung des Chevaliers bestand aus fortwährenden und höchst geistreichen Anspielungen auf die Meisterwerke der großen französischen und lateinischen Schriftsteller und Dichter. Frau d'Aumale, die wenig davon wußte, ließ sich die Anspielungen erklären und war darob höchst belustigt. Das wahrhaft staunenswerte Gedächtnis des Chevaliers leistete ihm gute Dienste. Ohne zu stocken, sagte er die Verse Racines oder die Sätze Bossuets her, an die er hatte erinnern wollen, und erklärte elegant die Art des Bezuges der beabsichtigten Anspielung zum Gegenstand der Unterhaltung. Das alles besaß für Frau d'Aumale den Reiz der Neuheit.

Eines Tages sagte der Chevalier: »Ein einziger Artikel der ›Pandora‹ kann alles Vergnügen, das die Macht gewährt, verderben.« Das galt für äußerst tief.

Frau d'Aumale hegte große Bewunderung für den Chevalier, aber schon nach einigen Wochen hatte sie Angst vor ihm. Eines Tages sagte sie zu ihm: »Sie kommen mir vor wie ein giftiges Tier, dem ich in der Tiefe des Waldes begegne. Je geistvoller Sie sind, um so mehr Macht besitzen Sie, mir etwas anzutun.« Ein andermal sagte sie, sie wette, er habe ganz allein den großen Grundsatz erraten: Das Wort ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen.

Bei andern Mitgliedern der Gesellschaft hatte der Chevalier großen Erfolg. So war er seit den acht Jahren, die er in Saint-Acheul, in Brigg und anderswo verbracht hatte, von seinem Vater getrennt gewesen, und dieser wußte nicht einmal, wo er sich aufhielt; aber kaum war er heimgekehrt, so verstand er binnen zwei Monaten den Geist des alten Herrn, eines der feinsten Höflinge seiner Zeit, völlig zu beherrschen.

Der Marquis von Bonnivet hatte stets gefürchtet, die Restauration möchte in Frankreich das gleiche Ende nehmen wie einst in England, und seit zwei bis drei Jahren hatte diese Angst ihn geradezu zum Geizhals gemacht. Wie groß war also das allgemeine Staunen, als er seinem Sohne, dem Chevalier, 30 000 Franken als Beitrag zur Errichtung einiger Jesuitenhäuser zur Verfügung stellte.

Allabendlich hielt der Chevalier gemeinsame Andachten mit den vierzig bis fünfzig Dienstboten der Gäste ab, die im Schloß oder in den für sie hergerichteten Bauernhäusern untergebracht waren. Auf das Gebet folgte eine kurze einstudierte und sehr geschickte Ansprache. Die älteren Damen begannen sich allmählich in das Orangenhaus zu begeben, wo diese Abendandachten stattfanden. Der Chevalier ließ reizende Blumen aufstellen, die aus Paris kamen und oft erneuert wurden. Bald erregte die fromme und strenge Ansprache allgemeines Interesse; sie bildete einen scharfen Kontrast zu der Leichtfertigkeit, mit der man den übrigen Teil des Abends verbrachte.

Der Komtur von Soubirane wurde zu einem der wärmsten Anhänger dieser Bestrebungen zur Einwirkung auf die Gesinnung der Dienstboten, die ja die notwendige Umgebung der Hochstehenden sind und, wie er hinzufügte, beim Ausbruch der Schreckenszeit so viel Grausamkeit gezeigt haben. Eine Redensart des Komturs, die er überall zum besten gab, war, daß man binnen zehn Jahren einen zweiten Robespierre erleben würde, wenn man den Malteserorden und die Jesuiten nicht wieder herstellte.

Frau von Bonnivet hatte nicht verfehlt, diejenigen unter ihren Leuten, deren sie sicher war, zu den frommen Übungen des Chevaliers zu schicken. Sie war sehr erstaunt, als sie hörte, daß er Geld an die Dienstboten verteilte, die ihm unter vier Augen ihre Geldverlegenheiten anvertrauten.

Da die Verleihung des Heiligen-Geist-Ordens sich hinauszog, erklärte Frau von Bonnivet, ihr Baumeister habe ihr aus Poitou geschrieben, er hätte jetzt eine hinreichende Zahl von Arbeitern gewonnen. Sie rüstete sich zur Abreise mit Armance und war nur mäßig erbaut von der Absicht des Chevaliers, sie nach Bonnivet zu begleiten, um, wie er sagte, das alte Schloß, die Wiege seines Geschlechts, wiederzusehen.

Der Chevalier merkte wohl, daß seine Anwesenheit seiner Stiefmutter nicht paßte; ein Grund mehr für ihn, sie auf dieser Reise zu begleiten. Er hoffte, bei Armance die Erinnerung an den Ruhm seiner Ahnen zur Geltung zu bringen, denn er hatte bemerkt, daß Armance die Freundin des Vicomte von Malivert war, und wollte sie ihm wegschnappen. Diese von langer Hand vorbereiteten Pläne traten jedoch erst im Augenblick ihrer Ausführung in Erscheinung.

Der Chevalier, der bei der Jugend ebensoviel Erfolg hatte wie bei den gesetzten Leuten, hatte es verstanden, Octave vor dem Verlassen von Andilly sehr eifersüchtig zu machen. Nach Armances Abreise verstieg sich Octave bis zu der Annahme, der Chevalier von Bonnivet, der für Armance grenzenlose Hochachtung und Verehrung zur Schau trug, möchte jener geheimnisvolle Gatte sein, den ein alter Freund seiner Mutter für sie gefunden hatte. Beim Abschied wurden Armance und ihr Vetter von finsterem Argwohn gequält. Armance fühlte, daß sie Octave bei Frau d'Aumale zurückließ, aber sie glaubte, ihm nicht schreiben zu dürfen.

Während dieser grausamen Trennung konnte Octave nur an Frau von Bonnivet ein paar sehr hübsche, aber im Ton sehr eigenartige Briefe richten. Hätte ein diesem Kreise Fernstehender sie gelesen, er hätte angenommen, daß Octave in Frau von Bonnivet wahnsinnig verliebt sei, ihr aber seine Liebe nicht zu gestehen wage. Während dieser einmonatigen Trennung stellte Armance ernste Betrachtungen an, zumal ihr gesunder Verstand nicht mehr durch das Glück verwirrt ward, unter einem Dach mit ihrem Freunde zu leben und ihn täglich dreimal zu sehen. Obgleich ihr Benehmen tadellos war, konnte sie sich nicht verhehlen, daß es ein leichtes sein müsse, in ihren Augen zu lesen, wenn sie ihren Vetter anblickte.

Die Zufälligkeiten der Reise führten dazu, daß sie ein paar Bemerkungen von Frau von Bonnivets Zofen auffing, die ihr viele Tränen kosteten. Da diese Mädchen wie alles, was mit hochstehenden Personen in Berührung kommt, überall nur das Geldinteresse sahen, suchten sie damit die augenscheinliche Leidenschaft zu erklären, die Armance, wie sie sagten, zeigte, um Vicomtesse von Malivert zu werden. Das war für ein armes Mädchen ohne Herkunft ja nichts Geringes.

Der Gedanke, in diesem Maße verleumdet zu werden, war Armance nie gekommen. »Ich bin verloren«, sagte sie sich. »Mein Gefühl für Octave ist mehr als verdächtig, und das ist nicht mal das größte Unrecht, das man mir zuschiebt. Ich lebe mit ihm in einem Hause, und er kann mich nicht heiraten . . .« Fortan wurde ihr Leben durch den Gedanken an die Verleumdungen vergiftet, deren Gegenstand sie war, und dieser Gedanke war stärker als all ihre Vernunftgründe.

Manchmal glaubte sie selbst ihre Liebe zu Octave vergessen zu haben. »Heiraten ist für meine Stellung nichts«, dachte sie; »ich werde ihn nicht heiraten und muß mich viel mehr von ihm zurückziehen. Vergißt er mich, was sehr wahrscheinlich ist, so werde ich mein Leben in einem Kloster beschließen. Das ist ein sehr passender und sehr erwünschter Aufenthaltsort für den Rest meiner Tage. Ich werde an ihn denken, werde von seinen Erfolgen hören. Es gibt viele Beispiele aus der Gesellschaft für ein ähnliches Dasein, wie ich es führen werde.«

Diese Voraussicht war richtig, aber der für ein junges Mädchen furchtbare Gedanke, mit einem Schein von Berechtigung den Verleumdungen eines ganzen Hauses ausgesetzt sein zu können, noch dazu des Hauses, in dem Octave lebte, verdüsterte Armances Dasein unwiederbringlich. Versuchte sie, die Erinnerung an ihr Unrecht loszuwerden – denn so nannte sie das Leben, das sie in Andilly geführt hatte –, so dachte sie an Frau d'Aumale und übertrieb sich deren Liebenswürdigkeit unwillkürlich. Die Gesellschaft des Chevaliers von Bonnivet trug noch dazu bei, alles Böse, das eine gekränkte Gesellschaft einem Menschen zufügen kann, ihr noch weit schlimmer erscheinen zu lassen, als es wirklich ist. Gegen Ende ihres Aufenthalts in dem alten Schlosse Bonnivet verbrachte Armance all ihre Nächte mit Weinen. Ihre Trübsal fiel ihrer Tante auf, und diese verhehlte Armance ihr Mißfallen darüber nicht.

Während dieses Aufenthalts im Poitou erfuhr Armance ein Ereignis, das sie wenig rührte. Sie hatte drei Onkel in russischen Diensten; diese jungen Leute endeten in den Wirren jenes Landes durch Selbstmord. Ihr Tod wurde verheimlicht, aber nach Monaten erhielt Fräulein von Zohiloff schließlich Briefe, deren Beseitigung der Polizei nicht gelungen war. Sie erbte ein schönes Vermögen, so daß sie zur guten Partie für Octave werden konnte. Dies Ereignis war nicht geeignet, Frau von Bonnivets schlechte Laune zu verringern, denn Armance war ihr unentbehrlich. Das arme Mädchen bekam ein sehr hartes Wort über ihre Bevorzugung des Salons der Frau von Malivert zu hören. Die vornehmen Damen sind nicht boshafter als der Durchschnitt der reichen Frauen; aber man wird ihnen gegenüber empfindlicher und fühlt unangenehme Worte tiefer und, wenn ich so sagen darf, unvergeßlicher.

Armance glaubte, daß zu ihrem Unglück nichts mehr fehlte, als ihr der Chevalier von Bonnivet eines Morgens mit der gleichgültigen Miene, die man bei einer schon alten Nachricht zeigt, die Mitteilung machte, daß es Octave wieder recht schlecht ginge und daß seine Armwunde aufgebrochen sei und Anlaß zu Befürchtungen gäbe. Seit Armances Abreise langweilte sich Octave, der im Glück anspruchsvoller geworden war, oft im Salon. Er beging auf der Jagd Unvorsichtigkeiten, die ernste Folgen hatten. Er war auf den Einfall gekommen, eine kleine, sehr leichte Flinte mit der linken Hand abzudrücken; das Gelingen ermutigte ihn.

Eines Tages, als er ein angeschossenes Feldhuhn verfolgte, sprang er über einen Graben und stieß mit dem Arm gegen einen Baum, so daß er wieder Fieber bekam. In diesem Fieber und dem nachfolgenden Unwohlsein schien ihm das gleichsam künstliche Glück, das er in Armances Gegenwart genossen, nur noch die Flüchtigkeit eines Traumes zu haben.

Endlich kehrte Fräulein von Zohiloff nach Paris zurück. Schon tags darauf sahen die Liebenden sich im Schlosse von Andilly wieder. Aber beide waren sehr traurig, und diese Traurigkeit war von der schlimmsten Art: kam sie doch von gegenseitigen Zweifeln. Armance wußte nicht, welchen Ton sie ihrem Vetter gegenüber anschlagen sollte, und am ersten Tage sprachen sie fast kein Wort miteinander.

Während Frau von Bonnivet sich das Vergnügen machte, im Poitou gotische Türme aufzuführen und das 12. Jahrhundert, wie sie meinte, zu neuem Leben zu erwecken, hatte Frau d'Aumale einen entscheidenden Schritt für den großen Erfolg getan, der Herrn von Bonnivets alten Ehrgeiz endlich krönen sollte. Sie war die Heldin von Andilly. Um sich während der Abwesenheit der Marquise von einer so nützlichen Freundin nicht trennen zu müssen, hatte Frau von Bonnivet bei Frau d'Aumale durchgesetzt, daß sie eine kleine Wohnung im Schloßgiebel dicht neben Octaves Zimmer bezog. Und Frau d'Aumale schien sich nach allgemeiner Ansicht sehr häufig zu erinnern, daß Octave gewissermaßen ihretwegen seine Wunde erhalten hatte und fieberte. Es war freilich sehr geschmacklos, an jene Geschichte zu erinnern, die Herrn von Crêveroche das Leben gekostet hatte, aber Frau d'Aumale spielte nichtsdestoweniger häufig darauf an. Das kommt, weil Lebensart und Zartgefühl etwa in dem gleichen Verhältnis stehen wie Wissenschaft und Geist. Diesem ganz äußerlichen und unromantischen Charakter machten vor allem Tatsachen Eindruck. Kaum hatte Armance ein paar Stunden in Andilly verbracht, als das ständige Verweilen jener sonst so flatterhaften Seele bei ein und demselben Gedanken ihr lebhaft auffiel.

Sie war sehr traurig und mutlos angekommen. Zum zweitenmal im Leben fühlte sie sich von einem Gefühl bedrückt, das besonders dann furchtbar ist, wenn es in einem Herzen mit der ausgeprägtesten Empfindung für das Schickliche zusammentrifft. In dieser Hinsicht glaubte Armance sich schwere Vorwürfe machen zu müssen. »Ich muß streng auf mich aufpassen«, sagte sie sich, ihre Blicke von Octave zu der glänzenden Gräfin d'Aumale lenkend. Und jeder Reiz der Gräfin war für Armance ein Anlaß zu tiefster Demütigung. »Wie sollte Octave ihr nicht den Vorzug geben!« sagte sie sich. »Ich fühle doch selbst, sie ist anbetungswürdig.« Solche peinvollen Empfindungen verbanden sich mit den Gewissensbissen, die Armance gewiß zu Unrecht empfand, aber sie waren deshalb nicht minder grausam und machten sie gegen Octave recht wenig liebenswürdig. Am Tage nach ihrer Ankunft ging sie nicht nach alter Gewohnheit frühzeitig in den Garten, obwohl sie wußte, daß Octave sie dort erwartete. Tagsüber sprach er sie zwei-, dreimal an. Eine übergroße Schüchternheit ergriff sie bei dem Gedanken, daß alle Welt sie beobachtete. Sie blieb unbeweglich und gab kaum Antworten.

Am selben Tage, bei Tisch, war von dem Vermögen die Rede, das der Zufall Armance geschenkt hatte. Sie bemerkte, daß diese Mitteilung Octave offenbar unangenehm war, denn er sprach mit ihr über dies Ereignis kein Wort. Und hätte ihr Vetter dies Wort auch gesprochen, es hätte in ihrem Herzen nicht ein Hundertstel soviel Freude erweckt, als der Schmerz über sein Schweigen ihr verursachte.

Octave hörte nicht zu; er dachte an Armances sonderbares Benehmen gegen ihn seit ihrer Rückkehr. »Zweifellos liebt sie mich nicht mehr«, sagte er sich, »oder sie hat sich mit dem Chevalier von Bonnivet so gut wie verlobt.« Octaves Gleichgültigkeit bei der Nachricht von Armances Erbschaft ward für das arme Mädchen zur neuen Quelle schrecklicher Qualen. Zum ersten Male dachte sie lange und ernsthaft über diese Erbschaft nach, die ihr aus dem Norden zufiel und die sie zu einer fast passenden Partie für Octave machte, wenn er sie geliebt hätte.

Um einen Vorwand zu haben, ihr ein paar Zeilen zu schreiben, hatte Octave ihr nach dem Poitou ein kleines Gedicht über Griechenland gesandt, das Lady Nelcombe, eine junge Engländerin, die mit Frau von Bonnivet befreundet war, kürzlich veröffentlicht hatte. Es gab in Frankreich nur zwei Abzüge von diesem Gedicht, von dem viel die Rede war. Wäre das nach dem Poitou gereiste Exemplar im Salon aufgetaucht, so hätten zwanzig Indiskrete versucht, es abzufangen; Octave bat seine Kusine daher, es ihm zu schicken. In ihrer großen Ängstlichkeit wagte Armance nicht, ihre Zofe damit zu betrauen. Sie ging ins zweite Stockwerk des Schlosses und befestigte das kleine englische Gedicht derart an Octaves Türgriff, daß er es beim Eintreten bemerken mußte.

Octave war sehr verwirrt; er sah, daß Armance entschieden nicht mit ihm sprechen wollte. Da er durchaus nicht in Stimmung war, sie anzureden, verließ er den Salon schon vor zehn Uhr. Tausend düstere Gedanken bestürmten ihn. Frau d'Aumale begann sich bald zu langweilen; man sprach in weinerlicher Art von Politik; sie klagte über Kopfweh und ging schon vor halb elf Uhr in ihr Zimmer. Wahrscheinlich ging sie nun mit Octave spazieren, dachte jedermann, und Armance erbleichte darüber. Dann aber warf sie sich selbst ihren Schmerz als etwas Unpassendes vor, das sie in der Achtung ihres Vetters herabsetzte.

Am nächsten Morgen früh war Armance bei Frau von Malivert, die einen bestimmten Hut haben wollte. Ihre Zofe war ins Dorf gegangen. Armance lief in das Zimmer, wo sich der Hut befand, dabei mußte sie an Octaves Zimmer vorüber. Wie vom Blitz getroffen blieb sie stehen, als sie das englische Gedicht noch ebenso am Türgriff festgeklemmt sah, wie sie es am Abend vorher angebracht hatte. Es war klar, daß Octave sein Zimmer nicht betreten hatte.

Es war nur allzu wahr. Trotz seines letzten Unfalls mit dem Arme war er auf die Jagd gegangen, und um am Morgen unbemerkt aufstehen zu können, hatte er die Nacht beim Förster verbracht. Um elf Uhr, als es zum Frühstück läutete, wollte er ins Schloß zurückkehren und so den Vorwürfen entgehen, die man ihm über seine Unvorsichtigkeit gemacht hätte.

Als Armance zu Frau von Malivert zurückkam, schützte sie Unwohlsein vor. Fortan war sie nicht mehr die gleiche. Sie sagte sich: »Das ist die gerechte Strafe für die schiefe Stellung, in die ich mich gebracht habe und die für ein junges Mädchen unpassend ist. So kommt es, daß ich Schmerzen habe, die ich mir nicht mal eingestehen darf.«

Beim Wiedersehen mit Octave hatte sie nicht den Mut, die geringste Frage an ihn zu stellen, wie es gekommen sei, daß er das englische Gedicht nicht gesehen hätte. Sie hätte gegen alles zu verstoßen geglaubt, was sie sich schuldig war. Dieser dritte Tag war noch düsterer als die vorhergehenden.

 


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