Stendhal
Armance
Stendhal

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Viertes Kapitel

Half a dupe, half duping,
The first deceived perhaps by her deceit
And fair words, as all those philosophers.
Philosophers they say? mark this, Diego,
The devil can cite scripture for his purpose.
O, what a goodly outside falsehood hath!
        Massinger

 

Das törichte Auftreten des Komturs versenkte Octave fast wieder in seine gestrige Menschenfeindschaft. Sein Ekel vor den Menschen hatte den Höhepunkt erreicht, als sein Diener ihm ein dickes Paket brachte, das sehr sorgfältig in englisches Velinpapier eingeschlagen war. Das Bild des Siegels war meisterhaft geschnitten, aber der Gegenstand wenig ansprechend. Zwei gekreuzte Knochen auf einem Sandfelde. Bei seinem feinen Geschmack bewunderte Octave die Naturwahrheit der Zeichnung dieser beiden Beinknochen und die vollendete Gravierung. »Das ist Picklers Schule«, sagte er sich; »es wird irgendeine Narrheit meiner frommen Kusine, der Frau von C . . . sein.« Er wurde enttäuscht, als er ein prachtvolles Exemplar der Bibel auspackte, das von Thouvenin gebunden war. »Die Frömmlerinnen verschenken keine Bibeln«, sagte Octave, das Begleitschreiben öffnend, doch umsonst suchte er eine Unterschrift. Sie fehlte, und er warf den Brief in den Kamin. Kurz darauf trat sein Diener, der alte Johann, mit etwas boshafter Miene ein. »Wer hat dies Paket abgegeben?« fragte Octave. – »Das ist ein Geheimnis. Man will vor dem Herrn Vicomte verborgen bleiben. Aber es war ganz einfach der alte Perrin, der es beim Hausmeister abgab und sich dann aus dem Staube machte wie ein Dieb.« – »Und wer ist der alte Perrin?« – »Ein Diener der Frau Marquise von Bonnivet, den sie zum Schein entlassen hat und der jetzt geheime Aufträge besorgt.« – »Hat man Frau von Bonnivet denn im Verdacht einer Liebschaft?« – »Gott behüte, nein, Herr! Die geheimen Aufträge sind für die neue Religion. Es ist vielleicht eine Bibel, die die Frau Marquise dem Herrn in tiefstem Geheimnis schickt. Der Herr hat die Schrift der Frau Rouvier, der Kammerfrau der Frau Marquise, doch wohl erkannt?« Octave blickte in den Kamin und ließ sich den Brief geben, der über die Flammen hinausgeflogen und nicht verbrannt war. Wie er zu seiner Überraschung sah, war es wohl bekannt, daß er Helvétius, Bentham, Bayle und andre schlechte Bücher las. Man machte ihm das zum Vorwurf. »Auch die reinste Tugend«, sagte er zu sich, »kann einen nicht vor dergleichen schützen. Sobald jemand Sektierer ist, gibt er sich zu Ränken her und hält Spione. Offenbar bin ich seit dem Entschädigungsgesetz so wichtig geworden, daß man sich um mein Seelenheil und um den Einfluß besorgt, den ich eines Tages haben könnte.«

Der ganze Tag verging in der Unterhaltung mit dem Marquis von Malivert, dem Komtur und zwei bis drei Hausfreunden, die man zum Essen bitten ließ, fast stets unter recht geschmacklosen Anspielungen auf Octaves Verheiratung und seinen neuen Wohlstand. Noch erregt von der inneren Krise, die er in der Nacht durchgemacht hatte, war er weniger eisig als gewöhnlich. Seine Mutter fand ihn noch bleicher, und er erlegte sich die Pflicht auf, wo nicht fröhlich zu sein, so doch den Anschein zu erwecken, als beschäftige er sich nur mit Gedanken, die zu angenehmen Vorstellungen führten. Er machte das so geistreich, daß es ihm gelang, seine Umgebung zu täuschen. Nichts konnte ihm Einhalt tun, nicht mal die Scherze des Komturs über die wunderbare Wirkung zweier Millionen auf den Geist eines Philosophen. Octave benutzte diesen angeblichen Leichtsinn zu der Bemerkung, auch wenn er ein Fürst wäre, würde er nicht vor seinem sechsundzwanzigsten Jahre heiraten – dem Alter, in dem auch sein Vater geheiratet hatte. »Es ist ganz klar, daß der Junge den geheimen Ehrgeiz hat, Bischof oder Kardinal zu werden«, sagte der Komtur, sobald Octave hinaus war. »Seine Geburt und Gelehrsamkeit werden ihm den roten Hut einbringen.« Diese Bemerkung, die Frau von Malivert ein Lächeln abnötigte, beunruhigte den Marquis tief.

»Du hast gut reden«, erwiderte er auf das Lächeln seiner Frau, »Octave verkehrt nur mit Geistlichen und mit jungen Gelehrten gleichen Schlages, und was noch nie in meiner Familie vorgekommen ist, er zeigt ausgesprochene Abneigung gegen junge Militärs.« »Es steckt etwas Befremdendes in dem jungen Manne«, pflichtete Herr von Soubirane bei. Über diese Bemerkung mußte Frau von Malivert ihrerseits seufzen.

Octave, dem der Zwang zu sprechen überaus lästig war, ging frühzeitig aus und ins Gymnasetheater, obwohl der Esprit der hübschen Stücke von Scribe ihm unerträglich war. »Trotzdem«, sagte er sich, »haben sie einen Bombenerfolg, und etwas verachten, ohne es zu kennen, ist eine in meinen Gesellschaftskreisen zu verbreitete Lächerlichkeit, als daß ich mir ein Verdienst erwürbe, wenn ich sie vermiede.« Umsonst stellte er sich während zweier der hübschesten Stücke auf die Probe. Die angenehmsten und geistreichsten Redewendungen erschienen ihm grob, und der Schlüssel, den der zweite Akt der »Vernunftehe« gibt, vertrieb ihn aus dem Theater. Er ging in ein Restaurant, und in der geheimnisvollen Art, die alle seine Handlungen umgab, bestellte er Kerzen und eine Suppe. Als diese gebracht war, schloß er sich ein, las aufmerksam zwei eben gekaufte Zeitungen, verbrannte sie sehr sorgfältig im Kamin, bezahlte und ging. Dann kleidete er sich zu Hause um und fühlte einen gewissen Drang, zu Frau von Bonnivet zu gehen. »Wer bürgt mir dafür«, fragte er sich, »ob die boshafte Herzogin d'Ancre Fräulein von Zohiloff nicht verleumdet hat? Mein Onkel glaubt ja auch, die zwei Millionen hätten mir den Kopf verdreht.« Dieser Gedanke, der ihm bei einem gleichgültigen Zeitungswort gekommen war, beglückte ihn. Er dachte an Armance wie an seinen einzigen Freund, oder vielmehr wie an das einzige Wesen, das für ihn fast ein Freund war.

Liebe lag ihm meilenfern; vor diesem Gefühl hatte er einen Graus. Heute empfand seine durch Tugend und Unglück gestählte Seele, die nur Tugend und Kraft war, nichts als die Furcht, einen Freund zu leichtfertig verurteilt zu haben.

Octave blickte Armance kein einziges Mal an, doch am ganzen Abend ließ er keine ihrer Bewegungen aus den Augen. Nachdem er den Salon betreten hatte, machte er zunächst der Herzogin d'Ancre auffällig den Hof und sprach mit so tiefer Aufmerksamkeit mit ihr, daß die Dame voller Vergnügen glaubte, er habe sich zu den ihrem Stande schuldigen Rücksichten bekehrt. »Seit er Aussicht hat, reich zu werden, gehört dieser Philosoph zu uns«, flüsterte sie Frau de la Ronce zu.

Octave wollte sich über den Grad der Niedertracht dieser Frau Gewißheit verschaffen. Wenn er sie recht boshaft fand, war das gewissermaßen ein Unschuldsbeweis für Fräulein von Zohiloff. Er bemerkte, daß allein das Gefühl des Hasses etwas Leben in das dürre Herz der Herzogin brachte, dagegen flößte alles Edle und Hochherzige ihr Widerwillen ein. Man hätte sagen können, sie empfand das Bedürfnis, sich dafür zu rächen. Nur Gemeinheit und Niedrigkeit des Gefühls, aber mit dem elegantesten Ausdruck, hatte das Vorrecht, die kleinen Augen der Herzogin erglänzen zu lassen.

Octave besann sich, wie er das Interesse abschütteln könne, mit dem man ihm zuhörte, als Frau von Bonnivet ihr Schachspiel verlangte. Das war ein kleines Meisterwerk chinesischer Schnitzerei, das der Abbé Dubois aus Kanton mitgebracht hatte. Diese Gelegenheit ergriff Octave, um sich von der Herzogin zu entfernen; er bat seine Kusine, ihm den Schlüssel zu dem Aktenschrank zu geben, worin das prachtvolle Schachspiel aus Angst vor der Ungeschicklichkeit der Leute aufbewahrt wurde. Armance war nicht mehr im Salon, den sie kurz vorher mit ihrer Busenfreundin, Fräulein Méry de Tersan, verlassen hatte. Hätte Octave nicht um den Schlüssel des Aktenschrankes gebeten, so wäre Fräulein von Zohiloffs Abwesenheit unliebsam bemerkt worden, und bei ihrer Rückkehr hätte sie vielleicht einen jener kurzen, sehr gemeßnen und sehr harten Blicke erhalten. Armance war arm und erst achtzehn Jahre alt; Frau von Bonnivet hatte die dreißig überschritten. Sie war noch sehr schön, aber auch Armance war schön. Die beiden Freundinnen standen vor dem Kamin eines großen, an den Salon anstoßenden Boudoirs. Armance wollte Méry ein schönes Bild von Lord Byron zeigen, von dem der englische Maler Philips seiner Tante soeben einen Abzug geschickt hatte. Als Octave durch die Seitentür neben dem Boudoir trat, hörte er sehr deutlich die Worte: »Was willst du? Er ist wie alle andern! Eine Seele, die ich für so schön hielt, ist durch die Aussicht auf zwei Millionen wie umgewandelt!« Die Betonung dieser schmeichelhaften Worte »die ich für so schön hielt« traf Octave wie ein Blitzschlag; er blieb starr stehen. Als er weiterging, waren seine Schritte so leicht, daß auch das feinste Ohr sie nicht gehört hätte. Als er mit dem Schachspiel in der Hand wieder bei dem Boudoir vorbeikam, blieb er einen Augenblick stehen, errötete aber bald über seine Indiskretion und kehrte in den Salon zurück. Die Worte, die er soeben erlauscht hatte, waren nicht entscheidend in einer Welt, wo der Neid jede Gestalt annimmt, aber der treuherzige und ehrliche Ton, mit dem sie gesprochen wurden, klang in seinem Herzen wider. Das war nicht der Ton des Neides.

Nachdem er der Marquise das chinesische Spiel gebracht hatte, fühlte er das Bedürfnis nachzudenken. Er setzte sich in eine Ecke des Salons hinter einen Whisttisch, und dort wiederholte ihm seine Phantasie zwanzigmal den Klang der soeben vernommenen Worte. Diese tiefe, köstliche Träumerei hielt ihn schon lange in Bann, als Armances Stimme an sein Ohr schlug. Er besann sich noch nicht, welche Mittel er anwenden sollte, um die Achtung seiner Kusine zurückzugewinnen; er genoß mit Wonne das Glück, sie verloren zu haben. Als er die entlegene Ecke der stillen Whistspieler verließ und wieder zu der Gruppe der Frau von Bonnivet trat, bemerkte Armance den Ausdruck seiner Augen. Sie ruhten auf ihr mit jener Art Zärtlichkeit und Erschlaffung, die den Blick nach großen Freuden gleichsam unfähig machen, allzu lebhaft zu sein.

An jenem Abend sollte Octave kein zweites Glück mehr finden; er konnte mit Armance kein Wort wechseln. »Nichts ist schwerer, als mich zu rechtfertigen«, sagte er sich, während er anscheinend den Ermahnungen der Herzogin d'Ancre lauschte, die den Salon mit ihm als letzte verließ und darauf bestand, ihn nach Hause zu fahren. Es war klarer Frost und prächtiger Mondschein; Octave verlangte sein Pferd und ritt ein paar Meilen auf dem neuen Boulevard. Als er gegen drei Uhr morgens heimkehrte, ritt er am Hause Bonnivet vorbei, ohne zu wissen warum und ohne es zu bemerken.

 


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