Stendhal
Armance
Stendhal

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Neuntes Kapitel

Möge Friede in deinem Schoße wohnen,
arme Behausung, die du dich selbst beschützt.
        Cymbeline, 3. Akt

 

Am Abend zuvor, nach einem furchtbaren Tage, von dem man sich nur dann einen schwachen Begriff machen kann, wenn man an den Zustand eines unglücklichen, völlig mutlosen Menschen denkt, der sich einer lebensgefährlichen Operation unterziehen muß, war Armance der Gedanke gekommen: »Ich stehe Octave nahe genug, um ihm zu sagen, daß ein alter Freund meiner Familie mich zu heiraten gedenkt. Haben meine Tränen mich verraten, so gewinnt diese Anvertrauung mir seine Achtung zurück. Diese bevorstehende Heirat und die Aufregung, in die sie mich versetzt, werden meine Tränen durch eine etwas zu unmittelbare Anspielung auf meine Lage erklären. Liebt er mich ein wenig, ach, so wird er von seiner Liebe genesen, aber ich kann wenigstens seine Freundin bleiben. Ich brauche mich nicht in ein Kloster zu verbannen, mich nicht dazu zu verurteilen, ihn nie mehr im Leben zu sehen.«

Armance begriff an den folgenden Tagen, daß Octave zu erraten suchte, wer der Bevorzugte sei. »Er muß erfahren, welcher Mann es ist«, sagte sie seufzend. »So weit geht meine grausame Pflicht. Nur um diesen Preis kann ich ihn künftig noch sehen.«

Sie dachte an den Baron von Risset, einen früheren heldenhaften Führer im Vendéeaufstand, der ziemlich häufig im Salon der Frau von Bonnivet erschien, aber nie den Mund auftat. Gleich am nächsten Tag sprach Armance mit dem Baron über die Memoiren der Frau von Rochejacquelin. Sie wußte, daß er eifersüchtig darauf war; er sprach sehr abfällig und weitschweifig über das Buch. »Liebt Fräulein von Zohiloff einen Neffen des Barons?« fragte sich Octave. »Oder wäre es denkbar, daß sie über den Heldentaten des Generals seine fünfundfünfzig Jahre vergäße?« Umsonst suchte er den schweigsamen Baron zum Sprechen zu bringen; der war noch stiller und mißtrauischer geworden, als er sich als Gegenstand solcher merkwürdigen Zuvorkommenheit sah.

Eine Mutter mit heiratsfähigen Töchtern war so übertrieben höflich gegen Octave, daß seine Misanthropie überwallte. Er sagte zu seiner Kusine, die die jungen Mädchen lobte: auch wenn sie eine noch beredtere Fürsprecherin hätten, hätte er sich gottlob doch jede ausschließliche Bewunderung vor seinem sechsundzwanzigsten Jahre versagt. Dies unerwartete Wort traf Armance wie ein Blitzstrahl; nie im Leben war sie so glücklich gewesen. Wohl zehnmal seit seinem neuen Wohlstand hatte Octave in ihrer Gegenwart von dem Zeitpunkt gesprochen, wo er zu heiraten gedächte. An der Überraschung, die der Ausspruch ihres Vetters ihr bereitete, merkt sie, daß sie dies vergessen hatte.

Dieser Augenblick des Glückes war köstlich. Am Abend zuvor war Armance so sehr im Bann des furchtbaren Schmerzes gewesen, den ein großes, von der Pflicht gefordertes Opfer verursacht, daß sie diese herrliche Quelle des Trostes ganz vergessen hatte. Solche Vergeßlichkeiten trugen ihr bei Gesellschaftsmenschen, denen ihre Herzensregungen Muße lassen, alles zu beobachten, den Vorwurf ein, daß es ihr an Geist fehle. Da Octave erst kürzlich zwanzig Jahre alt geworden war, konnte Armance hoffen, noch sechs Jahre lang seine beste Freundin zu sein, und das ohne Gewissensbisse. »Und wer weiß«, sagte sie sich, »vielleicht habe ich das Glück, vor Ablauf dieser sechs Jahre zu sterben.«

Für Octave begann ein neues Leben. Angesichts des Vertrauens, das Armance ihm entgegenbrachte, wagte er, sie über die kleinen Ereignisse seines Lebens um Rat zu fragen. Fast allabendlich genoß er das Glück, sich mit ihr zu unterhalten, ohne von den Nachbarn gehört zu werden. Mit Entzücken sah er, daß auch seine geringsten Anvertrauungen ihr nie lästig wurden. Um sein Mißtrauen zu verscheuchen, sprach Armance auch von ihren Sorgen, und so entstand zwischen ihnen eine eigenartige Vertrautheit.

Auch die glücklichste Liebe hat ihre Stürme; ja man kann sagen, sie lebt ebensosehr von ihren Schrecknissen wie von ihren Wonnen. Aber weder Stürme noch Besorgnisse trübten je die Freundschaft Armances und Octaves. Er fühlte, daß er keinerlei Rechte auf seine Kusine hatte; er hätte sich über nichts beklagen können. Weit entfernt, die Bedeutung ihrer Beziehungen zu überschätzen, hatten diese zartfühlenden Seelen nie ein Wort darüber gewechselt. Selbst das Wort Freundschaft wurde nicht mehr ausgesprochen, seit sie ihm am Grab Abälards ihren Heiratsplan anvertraut hatte. Da sie sich zwar immerfort sahen, aber nur selten unbelauscht miteinander reden konnten, hatten sie sich in den kurzen Augenblicken der Freiheit stets so viel zu erzählen, sich rasch so viele Ereignisse mitzuteilen, daß alles eitle Zartgefühl aus ihren Gesprächen verbannt war.

Wie man zugeben muß, hätte Octave schwerlich einen Anlaß zu klagen gehabt. Alle Gefühle, welche die überschwenglichste, zärtlichste, reinste Liebe in einem Frauenherzen erwecken kann, empfand Armance für ihn. Die Hoffnung auf den Tod, die dieser Liebe ihre ganze Perspektive gab, verlieh sogar ihrer Sprache etwas Himmlisches, Entsagungsvolles, das Octaves Wesenart völlig entsprach.

Das stille, vollkommene Glück, mit dem Armances holde Freundschaft ihn erfüllte, empfand er so lebhaft, daß er dadurch ein anderer Mensch zu werden hoffte.

Seit er mit seiner Kusine Frieden geschlossen, hatte er nicht mehr solche Verzweiflungsausbrüche gehabt wie damals, als er bedauerte, von dem Wagen, der im Galopp in die Rue de Bourbon einbog, nicht totgefahren zu sein. Er sagte zu seiner Mutter: »Ich beginne zu glauben, daß ich nicht mehr solche Wutanfälle bekomme, die dich um meinen Verstand fürchten ließen.«

Octave war jetzt glücklicher und zugleich geistvoller. Mit Verwunderung sah er in der Gesellschaft manches, was ihm früher nicht aufgefallen war, obwohl er es seit langem hätte sehen können. Die Welt schien ihm weniger hassenswert und vor allem weniger darauf erpicht, ihm zu schaden. Er sagte sich, mit Ausnahme der frömmelnden oder häßlichen Damen denke jeder viel mehr an sich selbst als daran, dem Nächsten zu schaden, was er früher zu bemerken geglaubt hatte.

Er erkannte, daß stete Oberflächlichkeit jedes geistige Eindringen unmöglich macht; er merkte schließlich, daß diese Welt, von der er in seinem tollen Hochmut gewähnt hatte, sie sei in böser Absicht gegen ihn eingerichtet, ganz einfach nur schlecht eingerichtet war. »Aber man muß sie halt nehmen, wie sie ist, oder sie verlassen«, sagte er zu Armance. »Man muß entweder rasch und unverzüglich mit einem Tropfen Blausäure ein Ende machen oder das Leben lustig nehmen.« Mit diesen Worten suchte er sich aber weit mehr selbst zu überzeugen als eine Überzeugung auszusprechen. Seine Seele war bestrickt von dem Glück, das er Armance verdankte.

Seine Anvertrauungen waren für das junge Mädchen nicht immer ungefährlich. Wenn Octaves Gedanken sich verdüsterten, wenn ihn die Aussicht auf die künftige Vereinsamung unglücklich machte, dann vermochte Armance ihm nur mit großer Mühe zu verbergen, wie unglücklich sie der Gedanke gemacht hätte, einen Augenblick im Leben von ihm getrennt zu sein.

»Wenn man in meinen Jahren keine Freunde hat«, sagte Octave eines Abends zu ihr, »kann man dann noch hoffen, welche zu erwerben? Liebt man aus Berechnung?« Armance fühlte verräterische Tränen aufquellen; sie mußte ihn rasch verlassen. »Ich sehe, meine Tante will mir etwas sagen«, entschuldigte sie sich.

Ans Fenster gelehnt, fuhr Octave fort, allein seinen trüben Gedanken nachzuhängen. Schließlich sagte er sich: »Man soll der Welt nicht grollen. Sie ist so boshaft, daß sie nicht mal zu bemerken geruhte, daß ein junger Mensch, der sich in einem zweiten Stockwerk der Rue Saint-Dominique doppelt einschließt, sie leidenschaftlich haßt. Ach, ein einziges Wesen würde es merken, wenn ich in der Welt fehlte, und ihre Freundschaft wäre tief betrübt.« Und er begann Armance von weitem zu betrachten. Sie saß auf ihrem Stühlchen neben der Marquise, und in diesem Augenblick schien sie ihm entzückend schön. Octaves ganzes Glück, das er so gefestigt und wohl begründet wähnte, hing doch nur an dem Wörtchen Freundschaft, das er eben ausgesprochen hatte. Man entgeht schwer der Krankheit seines Jahrhunderts. Octave hielt sich für einen Philosophen und für tief.

Plötzlich trat Fräulein Zohiloff mit unruhiger, fast zorniger Miene auf ihn zu und sagte: »Man hat Sie eben bei meiner Tante recht seltsam verleumdet. Eine ernsthafte Person die sich Ihnen bisher noch nie feindlich zeigte, hat ihr erzählt, daß Sie oft um Mitternacht, wenn Sie hier fortgehen, Ihren Abend in merkwürdigen Salons beschlössen, die fast nichts weiter als Spielhöllen sind. Aber das ist nicht alles. An diesen Orten, wo der gemeinste Ton herrscht, sollen Sie sich durch Ausschreitungen hervortun, die die ältesten Stammgäste verblüffen. Sie sind dort nicht nur von Frauen umgeben, deren Anblick schon beschmutzt; Sie reden, Sie führen das große Wort in ihrer Unterhaltung. Man hat sogar behauptet, Sie glänzten an jenen Orten durch Witze, deren Geschmacklosigkeit alles Denkbare übersteigt. Die Leute, die sich für Sie interessieren – denn selbst an jenen Stätten gibt es solche –, haben Ihnen zuerst die Ehre erwiesen, diese Worte für angelernte Witze zu halten. Sie haben sich gesagt: ›Der Vicomte von Malivert ist noch jung; er wird wohl zugehört haben, wie diese Witze in gewöhnlicher Gesellschaft gemacht werden, um Aufmerksamkeit zu erregen und die Augen einiger roher Menschen aufleuchten zu lassen.‹ Aber Ihre Freunde haben mit Schmerz bemerkt, daß Sie sich die Mühe geben, Ihre empörendsten Witze an Ort und Stelle zu erfinden. Kurz, der unglaubliche Skandal Ihres angeblichen Benehmens hat Ihnen eine zweifelhafte Berühmtheit unter den jungen Leuten vom schlechtesten Ton in Paris eingetragen.«

»Die Person, die Sie verleumdet«, fuhr Armance fort, durch Octaves beharrliches Schweigen etwas außer Fassung gebracht, »hat schließlich Einzelheiten berichtet, denen meine Tante nur infolge ihres Erstaunens nicht widersprochen hat.«

Mit Entzücken hörte Octave Armances Stimme während dieser langen Rede zittern. »Alles, was man Ihnen erzählt hat, ist wahr«, sagte er schließlich. »Aber es soll nicht mehr vorkommen. Ich werde nicht wieder an Orten erscheinen, wo man Ihren Freund nie hätte sehen sollen.«

Armances Erstaunen und Betrübnis war grenzenlos. Einen Augenblick empfand sie fast Verachtung. Als sie aber Octave am folgenden Tag wiedersah, hatte sie ihre Ansicht über das, was sich für einen Mann schickt, stark geändert. In dem vornehmen Geständnis ihres Vetters und vor allem in seinem so schlichten Versprechen sah sie einen Grund mehr, ihn zu lieben. Armance glaubte gegen sich selbst streng genug zu sein, wenn sie sich gelobte, Paris zu verlassen und Octave nie wiederzusehen, wenn er nochmals jene Häuser aufsuchte, die seiner so unwürdig waren.

 


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