Stendhal
Armance
Stendhal

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

To the dull plodding man whose vulgar soul is awake only to the gross and paltry interests of every day life, the spectacle of a noble beeing plunged in misfortune by the resistless force of passion, serves only as an object of scorn and ridicule.
        Deckar

 

Als die Zeugen unterzeichnet hatten, wurde Octave von neuem ohnmächtig. Die sehr besorgten Bauern waren gegangen, um ihren Pfarrer zu holen. Endlich kamen zwei Wundärzte aus Paris an und beurteilten Octaves Zustand sehr ernst. Da es den Herren sehr langweilig dünkte, täglich nach Clamart hinauszufahren, bestimmten sie, daß der Verwundete nach Paris gebracht würde. Octave hatte seinen Brief an Armance durch einen dienstwilligen Bauernjungen befördert, der ein Postpferd nahm und binnen zwei Stunden im Schloß von Andilly zu sein versprach. Dieser Brief überholte Herrn Dolier, der sich lange in Paris aufgehalten hatte, um Wundärzte zu finden. Der Bauernjunge verstand sehr gut, sich zu Fräulein von Zohiloff führen zu lassen, ohne Lärm im Hause zu machen. Sie las den Brief. Kaum hatte sie die Kraft, ein paar Fragen zu stellen. All ihr Mut war dahin.

Als sie die verhängnisvolle Nachricht erhielt, befand sie sich in jener mutlosen Stimmung, die auf die großen, von der Pflicht gebotenen Opfer folgt, die nichts als Ruhe und Erschlaffung hervorrufen. Sie suchte sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß sie Octave nie wiedersehen werde, aber der Gedanke an seinen Tod war ihr noch nie gekommen. Diese letzte Härte des Schicksals überfiel sie ganz unerwartet.

Während sie die sehr beunruhigenden Einzelheiten anhörte, die der Bauernjunge erzählte, erstickte sie vor Schluchzen, und dabei waren Frau von Bonnivet und von Malivert im Nebenzimmer! Armance zitterte bei dem Gedanken, von ihnen gehört zu werden und in diesem Zustand vor ihren Augen erscheinen zu müssen. Dieser Anblick hätte Frau von Malivert den Tod gegeben, und später hätte Frau von Bonnivet daraus eine tragische und rührende Anekdote gemacht, die für die Heldin sehr peinlich gewesen wäre. Unter keinen Umständen konnte Fräulein von Zohiloff der unglücklichen Mutter den mit dem Blut ihres Sohnes geschriebenen Brief zeigen. Sie blieb bei dem Gedanken, nach Paris zu fahren und sich von einer Kammerfrau begleiten zu lassen. Diese ermutigte sie dazu, den Bauernjungen mit in den Wagen zu nehmen. Ich will nichts von den traurigen Einzelheiten sagen, die ihr während der Fahrt wiederholt wurden. Endlich kamen sie in der Rue Saint-Dominique an.

Sie schauderte, als sie von weitem das Haus erblickte, in dem Octave vielleicht seinen letzten Atemzug tat. Es fand sich, daß er noch gar nicht da war. Nun zweifelte Armance nicht mehr; sie wähnte ihn in der Bauernhütte in Clamart tot. In ihrer Verzweiflung vermochte sie nicht die einfachsten Befehle zu geben. Schließlich fand sie die Kraft zu sagen, daß ein Bett im Salon aufgestellt werden sollte. Die verwunderten Dienstboten gehorchten, ohne sie zu verstehen.

Armance hatte nach einem Wagen geschickt und dachte nur daran, einen Vorwand zu finden, um nach Clamart zu fahren. Alles schien ihr hinter der Pflicht zurückstehen zu müssen, Octave in seinen letzten Augenblicken beizustehen, wenn er noch am Leben war. »Was liegt mir an der Welt und an ihren eitlen Urteilen?« sagte sie sich. »Ich nahm nur seinetwegen Rücksicht darauf. Außerdem muß die öffentliche Meinung mir beipflichten, wenn sie vernünftig ist.«

Als sie gerade abfahren wollte, entstand großer Lärm am Torweg: sie begriff, daß Octave ankam. Die Anstrengung der Wagenfahrt hatte ihn von neuem in einen Zustand völliger Unempfindlichkeit versetzt. Als Armance ein Hoffenster halb öffnete, sah sie zwischen den Schultern der Bauern, die die Bahre trugen, das bleiche Gesicht des tief Bewußtlosen. Dies leblose Haupt, das bei den Bewegungen der Bahre auf dem Kissen hin und her fiel, war für Armance ein zu grausamer Anblick. Sie sank bewußtlos am Fenster nieder.

Als die Wundärzte den ersten Verband angelegt hatten, erstatteten sie ihr als dem einzigen anwesenden Familienmitglied Bericht über den Zustand des Verwundeten. Sie fanden sie schweigsam, mit starrem Blick, unfähig zu antworten und in einem Zustand, der nach ihrer Meinung an Wahnsinn grenzte.

Armance glaubte nicht ein Wort von dem, was sie ihr sagten; sie glaubte nur, was sie gesehen hatte. Dies so verständige Mädchen hatte jede Selbstbeherrschung verloren. In Schluchzen erstickend, las sie immer wieder Octaves Brief. In der Verstörtheit ihres Schmerzes wagte sie, den Brief in Gegenwart einer Kammerfrau an ihre Lippen zu führen. Als sie ihn immer wieder las, fiel ihr endlich der Befehl auf, ihn zu verbrennen.

Kein Opfer war je so schmerzlich; sie mußte sich also von allem trennen, was ihr von Octave blieb; aber es war sein Wunsch. Trotz ihres Schluchzens begann Armance den Brief abzuschreiben. Sie unterbrach sich bei jeder Zeile, um ihn an ihre Lippen zu drücken. Zuletzt fand sie den Mut, ihn auf ihrem Marmortischchen zu verbrennen; dann sammelte sie sorgsam die Asche.

Octaves Diener, der treue Voreppe, schluchzte an seinem Bett. Er erinnerte sich, noch einen Brief seines Herrn zu haben: es war das Testament. Dies Schriftstück mahnte Armance, daß sie nicht allein die Leidende war. Sie mußte nach Andilly zurück und Octaves Mutter Nachricht bringen. Sie trat an das Bett des Verwundeten, dessen Leichenblässe und Unbeweglichkeit den nahen Tod zu verkünden schienen; indes atmete er noch. Ihn in diesem Zustand der Pflege der Dienstboten und eines kleinen Wundarztes aus der Nachbarschaft zu überlassen, den sie hatte rufen lassen, war für sie das allerpeinlichste Opfer.

Bei der Ankunft in Andilly traf Armance Herrn Dolier, der Octaves Mutter noch nicht gesehen hatte. Armance hatte vergessen, daß die ganze Gesellschaft an diesem Vormittag einen Ausflug nach dem Schloß Ecouen unternommen hatte. Lange warteten sie auf die Rückkehr der Damen, und Herr Dolier hatte Zeit, die Vorgänge des Morgens zu erzählen. Den Anlaß des Streites mit Herrn von Crêveroche kannte er nicht.

Endlich hörte man die Pferde in den Hof einfahren. Herr Dolier wollte sich zurückziehen, um nur für den Fall zu erscheinen, daß Frau von Malivert seine Anwesenheit wünschte. Mit so ruhiger Miene wie möglich teilte Armance Frau von Malivert mit, ihr Sohn sei bei einem Morgenritt mit dem Pferde gestürzt und hätte sich einen Knochen des rechten Armes gebrochen. Aber ihr Schluchzen, das sie schon beim zweiten Satze nicht mehr unterdrücken konnte, strafte jedes Wort ihrer Erzählungen Lügen.

Es wäre überflüssig, Frau von Maliverts Verzweiflung zu schildern; der arme Marquis war niedergeschmettert. Frau von Bonnivet, gleichfalls gerührt, wollte sie durchaus nach Paris begleiten; sie vermochte ihr nicht den geringsten Mut einzusprechen. Frau d'Aumale war beim ersten Wort über Octaves Unfall fortgeeilt und galoppierte auf der Straße zur Barrière de Clichy. Sie kam lange vor der Familie in der Rue Saint-Dominique an und erfuhr von Octaves Diener die volle Wahrheit. Als sie Frau von Maliverts Wagen am Tor halten hörte, verschwand sie.

Die Ärzte hatten erklärt, daß jede starke Erregung bei der außerordentlichen Schwäche des Verwundeten sorglich vermieden werden müsse. Frau von Malivert trat hinter das Bett ihres Sohnes, so daß sie ihn sehen konnte, ohne von ihm bemerkt zu werden. Sie ließ schleunigst ihren Freund, den berühmten Chirurgen Duquerrel, rufen. Am ersten Tage sprach sich der geschickte Arzt günstig über Octaves Wunden aus; man schöpfte im Hause Hoffnung. Armance war vom ersten Augenblick an so niedergeschmettert, daß sie sich nicht die geringsten Illusionen machte. Octave, der in Gegenwart so vieler Zeugen nicht mit ihr reden konnte, versuchte einmal, ihr die Hand zu drücken.

Am fünften Tag trat Starrkrampf ein. In einem Augenblick, wo ein besonders heftiger Fieberanfall ihm Kraft verlieh, bat Octave Herrn Duquerrel sehr ernstlich, ihm die volle Wahrheit zu sagen. Dieser, ein wahrhaft mutiger Mann, der selbst mehrfach auf den Schlachtfeldern von Kosakenlanzen getroffen worden war, antwortete ihm:

»Ich verhehle Ihnen nicht, daß Gefahr vorhanden ist, aber ich habe mehr als einen Verwundeten in Ihrem Zustande dem Starrkrampf Trotz bieten sehen.«

»In welchem Prozentsatz?« fragte Octave.

»Da Sie als Mann sterben wollen«, sagte Herr Duquerrel, »so ist zwei gegen eins zu wetten, daß Sie in drei Tagen nicht mehr leiden werden. Wenn Sie sich mit dem Himmel versöhnen wollen, so ist der Augenblick gekommen.«

Octave blieb nach dieser Erklärung nachdenklich, aber bald trat ein Gefühl der Freude und ein deutliches Lächeln an Stelle seiner Nachdenklichkeit. Der treffliche Duquerrel war besorgt über diese Freude, die er für den Beginn des Deliriums hielt.

 


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