Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Da der Lärm der Dienstboten, die in den Dachstuben wohnten, Octave lästig sein konnte, brachte Frau von Malivert sie in einem benachbarten Bauernhaus unter. In dieser Art von sozusagen materiellen Rücksichten triumphierte der Geist der Marquise. Darin besaß sie vollendete Anmut. Und sie verstand ihr Vermögen geschickt zu verwenden, um den Ruf ihres Geistes zu verbreiten.
Der Kern der Gesellschaft bestand aus Leuten, die seit vierzig Jahren nie von der striktesten Konvenienz abgewichen sind, aus jenen Leuten, die die Mode machen und sich nachher darüber wundern. Sie erklärten: da Frau von Bonnivet sich das Opfer auferlege, den Herbst statt auf ihren Gütern in Andilly zu verbringen, um ihrer Busenfreundin, Frau von Malivert, Gesellschaft zu leisten, sei es gebieterische Pflicht für alle zartfühlenden Herzen, ihre Einsamkeit zu teilen.
Diese Einsamkeit fiel derart aus, daß die Marquise genötigt war, in dem auf halber Höhe gelegenen Dörfchen Zimmer zu mieten, um ihre scharenweise herbeiströmenden Freunde unterzubringen. Sie ließ sie tapezieren und Betten hinschaffen. Bald war das halbe Dorf auf ihren Befehl verschönert und besetzt. Man machte sich die Wohnungen streitig, schrieb von allen Landsitzen in der Umgegend von Paris und bat um ein Zimmer. Es wurde guter Ton, dieser bewunderswerten Marquise Gesellschaft zu leisten, die die arme Frau von Malivert pflegte, und Andilly stand im Monat September im Glanz eines Badeortes. Selbst bei Hofe sprach man von dieser Mode. »Hätten wir zwanzig Damen von Frau von Bonnivets Geist«, sagte jemand, »so könnte man wagen, in Versailles zu wohnen.« Und das blaue Ordensband für Herrn von Bonnivet schien sicher.
Octave war nie so glücklich gewesen. Die Herzogin d'Ancre fand dies Glück ganz natürlich. »Octave«, sagte sie, »kann ich sozusagen – für den Mittelpunkt dieses ganzen Treibens in Andilly halten. Morgens läßt sich ein jeder nach seinem Befinden erkundigen: gibt es in seinen Jahren etwas Schmeichelhafteres? Der kleine Kerl hat viel Glück«, setzte die Herzogin hinzu. »Ganz Paris wird ihn kennen, und seine Dreistigkeit wird sich verdoppeln.« Aber das war nicht gerade die Ursache von Octaves Glück.
Er sah die geliebte Mutter, der er solche Sorgen gemacht hatte, völlig glücklich. Sie freute sich über die glänzende Art, wie ihr Sohn in die Welt eintrat. Seit seinen Erfolgen verhehlte sie sich nicht mehr, daß seine Vorzüge von zu besonderer Art und zu wenig ein Abklatsch bekannter Vorzüge waren, als daß sie nicht der Unterstützung durch die Allgewalt der Mode bedurft hätten. Ohne diesen Beistand wären sie unbeachtet geblieben.
Eine der größten Freuden Frau von Maliverts zu jener Zeit war eine Unterredung mit dem berühmten Fürsten von R . . ., der vierundzwanzig Stunden im Schlosse von Andilly verbrachte.
Diesem erfahrenen Höfling, dessen geistreiche Bemerkungen in der Gesellschaft tonangebend waren, schien Octave aufgefallen zu sein. »Haben Sie wie ich bemerkt«, fragte er Frau von Malivert, »daß Ihr Herr Sohn nie ein Wort von jenem angelernten Geist sagt, der die Lächerlichkeit unseres Zeitalters ist? Er verschmäht es, in einem Salon durch sein Gedächtnis zu glänzen; sein Geist hängt von den Empfindungen ab, die man ihm entgegenbringt. Deshalb sind die Dummköpfe oft so unzufrieden mit ihm und versagen ihm ihren Beifall. Wenn man den Vicomte von Malivert zu fesseln versteht, scheint sein Geist plötzlich aus seinem Herzen oder aus seinem Charakter hervorzusprühen, und sein Charakter scheint mir sehr groß. Glauben Sie nicht, daß der Charakter bei den Menschen unserer Zeit ein sehr abgenutztes Organ ist? Ihr Herr Sohn scheint mir berufen, eine eigenartige Rolle zu spielen. Er wird just ein bei seinen Zeitgenossen sehr seltnes Verdienst haben: er ist der sachlichste Mensch, und zwar der am klarsten sachliche, den ich kenne. Ich wünschte, er käme frühzeitig ins Herrenhaus oder Sie machten ihn zum Ministerialrat.« – »Aber Octaves Erfolg ist nichts weniger als allgemein«, entgegnete Frau von Malivert, der die Freude über das Urteil eines so guten Richters fast den Atem raubte. »Das ist ein Vorteil mehr«, lächelte der Fürst von R . . . »Die Einfaltspinsel hierzulande werden vielleicht drei bis vier Jahre brauchen, um Octave zu verstehen, und Sie können ihn auf den rechten Platz bringen, bevor der Neid sich geltend macht. Ich bitte Sie nur um eins: hindern Sie Ihren Herrn Sohn, etwas drucken zu lassen: das ist für ihn nicht standesgemäß.«
Der Viscomte von Malivert hatte noch große Fortschritte zu machen, um das glänzende Horoskop, das ihm da gestellt ward, zu bewahrheiten; er hatte noch manche Vorurteile zu überwinden. Tief wurzelte in seiner Seele sein Widerwille gegen die Menschen: war er glücklich, so flößten sie ihm Abneigung ein; war er unglücklich, so war ihr Anblick ihm erst recht zur Last. Nur selten hatte er den Versuch machen können, diesen Widerwillen durch Wohltätigkeit zu überwinden. Wäre ihm das geglückt, so hätte schrankenloser Ehrgeiz ihn mitten unter die Menschen getrieben, wo der Ruhm durch die größten Opfer erkauft wird.
Zu der Zeit, bei der wir jetzt angelangt sind, war Octave noch weit entfernt, sich eine glänzende Zukunft zu versprechen. Frau von Malivert war so klug gewesen, ihm nichts von der eigenartigen Zukunft zu sagen, die der Fürst von R . . . ihm prophezeite; nur Armance gegenüber wagte sie sich die Freude zu machen, davon zu reden.
Verstand Armance doch die schwere Kunst, aus Octaves Geist allen Kummer zu verscheuchen, den die Welt ihm verursachte. Jetzt, wo er ihr seinen Kummer zu gestehen wagte, erstaunte sie immer mehr über seinen eigenartigen Charakter. Noch immer gab es Tage, an denen er aus den gleichgültigsten Reden die düstersten Folgerungen zog. In Andilly wurde viel von ihm geredet. »Da spüren Sie die unmittelbare Folge der Berühmtheit«, sagte Armance zu ihm. »Man spricht auf Ihre Kosten viel dummes Zeug. Soll ein Dummkopf bloß deshalb auf geistreiche Äußerungen kommen, weil er die Ehre hat, von Ihnen zu sprechen?« Das war eine merkwürdige Probe für einen argwöhnischen Menschen.
Armance verlangte von ihm restlose und sofortige Anvertrauung aller ihn kränkenden Bemerkungen, die ihm etwa zu Ohren kamen. Sie bewies ihm ohne Mühe, daß man dabei gar nicht an ihn gedacht hatte oder daß sie nur jenes Maß von Übelwollen zeigten, das jeder für jeden hat.
Octaves Eigenliebe hatte vor Armance keine Geheimnisse mehr. Diese beiden jungen Herzen waren zu einem schrankenlosen Vertrauen gelangt, das der holdeste Reiz der Liebe ist. Sie konnten von nichts mehr sprechen, ohne ihre jetzige reizvolle Vertrautheit heimlich mit dem gezwungenen Wesen zu vergleichen, das sie noch vor wenigen Monaten gehabt hatten, wenn sie über die gleichen Dinge sprachen. Und selbst jener Zwang, der ihnen noch deutlich in Erinnerung war, obwohl sie damals schon so glücklich waren, war ein Beweis für ihre alte und lebendige Liebe.
Als Octave am nächsten Tage in Andilly eintraf, hatte er einige Hoffnung, daß Armance auch hinkäme. Er gab vor, krank zu sein, und verließ das Schloß nicht. Wenige Tage darauf kam Armance tatsächlich mit Frau von Bonnivet an. Octave richtete seinen ersten Ausgang so ein, daß er genau um sieben Uhr morgens stattfinden konnte. Armance traf ihn im Garten, und er führte sie zu einem Orangenbaum, der just unter den Fenstern seiner Mutter stand. Es war die Stelle, wo Armance vor ein paar Monaten in eine kurze Ohnmacht gefallen war, als seine seltsamen Worte ihr das Herz zerrissen. Sie erkannte den Baum wieder, lächelte, stützte sich mit geschlossenen Augen auf den Kübel. Bis auf die Blässe war sie fast ebenso schön wie an jenem Tage, da sie aus Liebe zu ihm ohnmächtig geworden war. Octave empfand den Unterschied der Lage lebhaft. Er erkannte das kleine Diamantkreuz wieder, das Armance aus Rußland erhalten hatte; es war ein Weihgeschenk ihrer Mutter. Gewöhnlich verborgen, wurde es durch eine Bewegung Armances sichtbar. Octave hatte einen Augenblick der Geistesverwirrung. Er ergriff ihre Hand wie an dem Tage, da sie in Ohnmacht fiel und er ihre Wange mit den Lippen zu berühren wagte. Armance richtete sich heftig auf und errötete tief. Sie warf sich diese Schäkerei bitter vor. »Wollen Sie mir mißfallen?« fragte sie ihn. »Wollen Sie mich zwingen, nur in Begleitung einer Zofe auszugehen?«
Ein mehrtägiges Zerwürfnis war die Folge von Octaves Unbescheidenheit. Aber bei zwei Wesen, die füreinander vollkommene Zuneigung hegen, waren Anlässe zu Streit selten. Was Octave auch vorhatte, ehe er an die eigene Annehmlichkeit dachte, suchte er zu erraten, ob Armance darin einen neuen Beweis seiner Hingebung sehen könne.
Befanden sie sich des Abends an zwei entgegengesetzten Enden des weiträumigen Salons, in dem Frau von Bonnivet damals alles vereinigte, was in Paris angesehen und einflußreich war, und hatte Octave auf eine Frage zu antworten, so benutzte er ein soeben von Armance geäußertes Wort, und sie sah, daß er über dem Vergnügen an der Wiederholung dieses Wortes das Interesse an seinen eigenen Worten verlor. Unabsichtlich entstand so für beide inmitten der angenehmsten und angeregtesten Gesellschaft zwar keine besondere Unterhaltung, wohl aber eine Art von Echo, die, ohne etwas Besonderes auszudrücken, von vollkommener Freundschaft und grenzenloser Sympathie zu reden schien.
Dürfen wir die äußerste Höflichkeit, die die Gegenwart von dem glücklichen 18. Jahrhundert geerbt zu haben glaubt, in dem es nichts zu hassen gab, als etwas nüchtern bezichtigen? Angesichts dieser so fortgeschrittenen Kultur, die für jede, noch so gleichgültige Handlung ein Muster liefert, das man befolgen oder mit dem man sich wenigstens auseinandersetzen muß, ist solch ein Gefühl aufrichtiger, schrankenloser Hingebung beinahe imstande, vollkommenes Glück zu gewähren.
Armance war mit ihrem Vetter nie allein, außer beim Spazierengehen im Garten unter den Fenstern des Schlosses, dessen Erdgeschoß bewohnt war, oder in Frau von Maliverts Zimmer und in ihrem Beisein. Freilich war dies Zimmer sehr geräumig, und bei ihrer angegriffenen Gesundheit hatte Frau von Malivert oft das Bedürfnis nach ein paar Augenblicken der Ruhe. Dann bat sie ihre Kinder, wie sie sie stets nannte, sich in die Nische des Gartenfensters zu setzen, um durch den Klang ihrer Stimmen nicht in ihrer Ruhe gestört zu werden. Auf diese stille und ganz intime Lebensweise am Morgen folgte am Abend das Leben der großen Welt.
Außer der im Dorfe wohnenden Gesellschaft kamen viele Gäste zu Wagen aus Paris und kehrten nach dem Souper zurück. Diese wolkenlosen Tage gingen im Fluge dahin. Die beiden noch so jungen Herzen waren weit entfernt, sich zu sagen, daß das Glück, das sie genossen, zu dem seltensten auf Erden gehört. Sie glaubten vielmehr, noch vieles zu wünschen zu haben. Ohne Erfahrung, sahen sie nicht, daß diese glücklichen Augenblicke nur von kurzer Dauer sein konnten. Solches Glück, das ganz Gefühl und ohne Eitelkeit oder Ehrgeiz war, mag vielleicht im Schoße einer armen Familie, die keinen Verkehr hat, von Dauer sein. Sie aber lebten in der großen Welt, zählten erst zwanzig Jahre, verbrachten ihr Leben miteinander und – das war der Gipfel der Unklugheit – man konnte erraten, daß sie glücklich waren, und sie schienen sehr wenig an die Gesellschaft zu denken. Die mußte sich rächen.
Armance dachte nicht an diese Gefahr. Nur von Zeit zu Zeit verwirrte die Notwendigkeit sie, sich von neuem zu geloben, nie und unter keinen Umständen die Hand ihres Vetters anzunehmen. Frau von Malivert ihrerseits war sehr ruhig; sie zweifelte nicht, daß die jetzige Lebensweise ihres Sohnes ein Ereignis vorbereiten würde, das sie leidenschaftlich herbeiwünschte.
Trotz der glücklichen Stunden, mit denen Armances Gegenwart Octaves Leben erfüllte, hatte er in ihrer Abwesenheit doch düstere Augenblicke, wo er über sein Schicksal nachgrübelte und zu diesem Schlusse gelangte: »Eine höchst vorteilhafte Illusion herrscht in Armances Herz. Ich könnte ihr die seltsamsten Dinge über mich gestehen, und statt mich zu verachten oder zu verabscheuen, würde sie mich beklagen.«
Octave erzählte seiner Freundin, er hätte in seiner Kindheit eine Leidenschaft zum Stehlen gehabt. Armance grauste vor den furchtbaren Einzelheiten, die Octaves Phantasie sich über die verhängnisvollen Folgen dieser seltsamen Schwäche auszumalen beliebte. Dies Geständnis warf ihr ganzes Dasein um. Sie versank in tiefes Träumen, und man neckte sie damit, aber kaum waren acht Tage nach dieser seltsamen Anvertrauung verstrichen, so beklagte sie Octave und war, wenn möglich, noch sanfter gegen ihn. »Er braucht meinen Trost«, sagte sie sich, »um sich selbst zu verzeihen.«
Da Octave durch diese Probe der schrankenlosen Hingebung seiner Geliebten sicher war und keine düsteren Gedanken mehr zu verheimlichen hatte, ward er in der Gesellschaft weit liebenswürdiger. Vor seinem durch die Nähe des Todes herbeigeführten Liebesgeständnis war er eher ein sehr geistvoller und beachtenswerter, als ein liebenswürdiger junger Mann gewesen. Vor allem hatte er trübsinnigen Menschen gefallen. Sie glaubten in ihm das tägliche Bild eines zu Großem Berufenen zu sehen. Sein Pflichtgefühl prägte sich in seinem ganzen Wesen zu sehr aus und gab ihm bisweilen sogar eine englische Physiognomie. Seine Menschenfeindschaft galt bei den älteren Mitgliedern der Gesellschaft für Hochmut und Laune und schreckte von jeder Annäherung ab. Wäre er damals Pair gewesen, man hätte ihm einen Namen gemacht.
Die Schule des Unglücks fehlt oft den jungen Leuten, die geschaffen sind, eines Tages höchst liebenswürdig zu sein. Octave wurde durch diesen harten Lehrmeister erzogen. Man kann sagen, daß zu der Zeit, von der wir reden, nichts an der Schönheit des jungen Vicomte und an dem glänzenden Dasein fehlte, das er in der Gesellschaft genoß. Wie um die Wette wurde er von den Damen d'Aumale und von Bonnivet und von den bejahrten Leuten gepriesen.
Mit Recht sagte Frau d'Aumale, er sei der verführerischste Mann, den sie je getroffen habe, »denn er langweilt nie«, setzte sie unbesonnen hinzu. »Bevor ich ihn kennenlernte, hatte ich mir von derartigen Vorzügen nicht mal träumen lassen, und die Hauptsache ist doch, daß man belustigt wird.« – »Und ich«, sagte sich Armance, als sie diese naive Äußerung hörte, »ich versage diesem anderswo so beliebten Manne die Erlaubnis, mir die Hand zu drücken. Doch das ist Pflicht«, setzte sie seufzend hinzu, »und die darf ich niemals verletzen.« An manchen Abenden überließ sich Octave dem höchsten Glück, nicht zu reden und Armance zuzusehen. Solche Augenblicke entgingen weder Frau d'Aumale, die sich ärgerte, daß er es unterließ, sie zu belustigen, noch Armance selbst, die mit Entzücken sah, daß der angebetete Mann sich allein mit ihr beschäftigte.
Die Ernennung zum Ritter des Heiligen-Geist-Ordens schien sich hinauszuziehen. Es war die Rede von Frau von Bonnivets Abreise nach dem alten Schloß fern im Poitou, nach dem die Familie sich nannte. Eine neue Person sollte mitreisen, nämlich der Chevalier von Bonnivet, der jüngste Sohn des Marquis aus erster Ehe.