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13

Das Wennrichsche Haus auf der Feldgasse trug mit seinem gepflegten Blumenvorgärtlein, seinen klaren Fenstern, seinen sauberen gesandeten Gängen zwischen den Beeten noch immer den Stempel friedvoller, behüteter Beschaulichkeit. Aber wenn vorher hinter seinen weißen Wänden das Leben gegen Verfall und Verzweiflung gerungen hatte, so füllten sich nun, da aus dem Niedergang ein Aufschwung, aus müder Hoffnungslosigkeit rühriger, rüstiger Lebensglaube geworden war, alle Räume mit der Spannung zwischen Lotte und Maechler, die, ohne es selbst Zu wissen oder zu glauben, mit verdeckten Karten um einen Einsatz spielten, gegen den sich das Mädchen wie besessen wehrte und auf den der Mann kaum zu hoffen wagte. Indessen ging das Leben weiter und führte die Entscheidungen auf Wegen herbei, die niemand übersehen konnte. In jener Zeit entbrannte nicht nur in Wilkau, sondern in weiteren Umkreisen der Streit um eine Straße, durch den eine unglaubliche Erhitzung der Gemüter erzeugt wurde. Der alte Handelsweg, der an einem niedrigen Ausläufer des Isergebirges abseits gegen die Landesgrenze hinführte, war schadhaft geworden und sollte durch eine neue Kunststraße ersetzt werden. Man wollte sie von Rehberg durch volkreichere und zukunftsichere Orte bauen, unter denen Wilkau obenan stand. Wie es nicht anders sein konnte, platzten die aus den verrotteten Sturmjahren herrührenden Gegensätze hart aufeinander. Die einen prophezeiten Wilkau ein schnelles ungemeines Aufblühn, wenn es durch die neue Straße näher an Rehberg und die zu erwartende Gebirgsbahn gerückt würde, die anderen wehrten sich dagegen, den kleinen Badeort durch den erhöhten Lärm des Verkehrs aus seiner Stille und der für das Wohl der Kranken so notwendigen Beschaulichkeit zu reißen. Auf der Seite der Anhänger der alten Straße stand der Graf Schilling und der katholische Teil der Bevölkerung. Die Partei der Neuerer rekrutierte sich vornehmlich aus dem Kreise der Evangelischen, die eine Stütze in dem Pastor und einen geheimen Förderer in dem vorsichtigen, ein wenig hindämmernden Gemeindevorsteher Schlicker fand, der niemand wehe tun wollte und es so mehr und mehr mit allen verdarb. Die Hetzereien Zwischen Katholiken und Evangelischen, von den beiden Geistlichen immer mehr angefacht, zerrütteten die kaum erreichte Beruhigung. Die Gemeinde knurrte gegen den standesherrlichen Grafen. Die Geschäftsleute kämpften gegen die Fremdenheimbesitzer. Die Armen beschwerten sich und die Besitzenden waren besorgt. Am leidenschaftlichsten gebärdete sich der Schlosser Neefe, der die Umstände benutzte, sein gesunkenes Ansehen wieder auf die alte Höhe zu bringen. Dieser geschwollene Trommelbauch tobte durch die Gassen, lärmte zum Maulreißen jedes Haus voll, stänkerte sich durch die Stuben, brüllte in Gaststätten und in jedem Marktwinkel.

Immer zudringlicher und unverschämter stellte er sich als Helfer des gnädigen Herrn Grafen und zuletzt als dessen geschätzten Freund und beauftragten Bundesgenossen vor, obwohl es ihm nie gelang, im Schlosse empfangen zu werden. Oft ging er hinein, versteckte sich eine Zeit in einem Winkel des geräumigen Flures und trat dann breitbeinig und triumphierenden Gesichts auf den Schloßplatz heraus, als habe er eben wieder von dem Grafen eine schmeichelhafte Anerkennung seines Kampfes für das wahre Wohl Wilkaus geerntet.

Maechler sah in dem lächerlichen wirren Wirbel, der alles in Wilkau durch- und gegeneinander drehte, die ruhige, tätige Besonnenheit, für die er in den zwei Jahren seines Aufenthaltes überall gewirkt hatte, vollkommen in Frage gestellt. Sein Glaube an den guten Wesensgrund aller Menschen fing an zu wanken, und weil er nach so vielen fruchtlosen Versuchen auch sonst an der Hoffnung zu Zweifeln begann, seine Tätigkeit im Wennrichschen Hause zu einem erfolgreichen Ende zu führen, bemächtigte sich seiner eine Müdigkeit, gegen die er nicht einmal ernstlich ankämpfte.

Wohl trat er dem Schlosser auf offener Straße einmal so unerschrocken entgegen, daß er mit dem Erfolg wohl hätte zufrieden sein können, schmälerte aber damit sein sowieso geringes Glücksgut noch mehr. Dieser Aufwiegler und Unruhestifter Neefe fiel nämlich, wo es immer war, mit aufreizenden, beleidigenden Worten alle an, die auf der Seite der Verfechter der Straßenneuerung standen, und betrachtete sie als persönliche Feinde. Maechler, als umsichtiger Förderer des Wennrichschen Aufstiegs und mutiger Schildhalter von dessen Ehre, war ihm besonders verhaßt. Ihn machte er mit Recht verantwortlich für das Sinken seines Ansehens, das er nun durch rücksichtsloses Toben wieder auf die alte Höhe zu treiben versuchte, und war auch über ihn aufgebracht, daß er den, wie er sich ausdrückte, »rammdösigen« Gemeindevorsteher unterstützte und beriet. Darum arbeitete er auf eine Gelegenheit hin, ihn öffentlich herabzusetzen und lächerlich zu machen. Eines Tages stand er mit einem Haufen seiner Anhänger auf dem Schloßplatz und setzte mit lauter Stimme seine Ansichten über die beste Weise, für das allgemeine Wohl zu sorgen, auseinander. Müßige Neugierige, Geschäftsinhaber, die untätig an ihrer Ladentür lehnten, Weiber und Kinder traten herzu. Es bildete sich ein kleiner Auflauf. Denn man erwartete sich einen jener unterhaltsamen Skandale, in deren Anzettelung Neefe eine gefürchtete Meisterschaft besaß. Selbst der Graf Schilling trat hin und wieder an das geöffnete Fenster.

Da kam Maechler mit einem bis über die Leitern mit nassen Häuten geladenen Handwagen, der von zwei Arbeitern in den Schuppen auf der Vogelsdorfer Straße zum Trocknen gezogen wurde, von der Feldgasse her die Rehberger Straße herauf. Kaum hatte der Schlosser den Gerber gesehen, der, eine Hand an dem Leiterbäumlein, aufrecht und ruhig einherging, so fing er unvermittelt über hergelaufene Straßentraber zu schimpfen an, die von irgendwem abstammten und mit dem Unrat, den sie in aller Welt gesammelt hätten, heimlich in dem guten Wilkau hausieren gingen, auf Erbschleicherei aus seien und die einfachen, arglosen Gemüter mit Redensarten um Freiheit und Selbständigkeit brächten. Alle sahen sich nach Maechler um, auf den die Worte gemünzt waren, und auch der Graf lehnte sich einen Augenblick aus dem Fenster. Der Gerber reckte sich noch mehr in seine breiten Schultern und ging, wenn auch einen Ton blasser, doch lächelnd seines Weges. Aber eben, als er dem Haufen gegenüber war, schrie der Schlosser mit erhöhter Stimme: »Jawohl, meine lieben Wilkauer, da auf dem Wagen liegen die Felle, die schon vielen über die Ohren gezogen worden sind.« Alles lachte. Maechler faßte die Leiter des Wagens fester und riß das Gefährtlein zurück, daß die Arbeiter still standen. Dann ging er mit so langen Schritten und einem so drohenden Ernst im Gesicht hinüber, daß der Haufen erschreckt zur Seite wich und ihm den Weg zu dem Schlosser frei machte, der jäh verstummt war und erschrocken zurückwich, verächtlich maß ihn Maechler einen Augenblick. Dann hob er seine riesigen braunen Hände dem Ängstlichen bis unters Gesicht und machte sie greifend auf und zu. Dabei sagte er mit leiser, wegwerfender Stimme: »Das sind Hände, die Felle zu gerben und Aas herunterzuschneiden verstehen. Das Ohrfeigen überlasse ich den Weibern im Garten hinterm Haufe, und das Hopsen über den Zaun mit dem Kästchen unterm Arm ist Sache der Lumpen. Und nun, Herr Neefe, ist es höchste Zeit, sich zu verkrümeln. Ihre Frau hat schon nach Ihnen gerufen.« Und da der Schlosser sich jetzt in die Brust zu werfen anfing und zitternd nach Atem zur Widerrede riß, schrie Maechler plötzlich so laut, daß es über den ganzen Schloßplatz dröhnte: »Sofort gehen Sie weg!«

Da trottete der Gezüchtigte, fahl bis in die Haarwurzeln, davon. Ehe er in eine Nebengasse einbog, drohte er mit der Faust und rief etwas von »Gericht« zu Maechler zurück, der die Umstehenden um Verzeihung bat und dann ruhig hinter dem Wagen, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, weiterging. Der Graf erwiderte mit einer beglückwünschenden Handbewegung seinen Gruß, und mancher Beifallsruf klang ihm nach; aber nichts von Triumph kam in seinem Gesicht auf, das eher einen leidenden Zug trug. Es erheiterte ihn auch nicht, als er erfuhr, daß der Schlosser seitdem stumpf wie ein Raubtier mit eingeschlagenem Kreuz zu Hause saß und der ganze Ort aufatmete. Ja, er konnte sogar ein bitteres Lächeln nicht unterdrücken, da ihn der alte Wennrich auf die Kunde von der Züchtigung des Schlossers dankbarer Rührung voll in die Arme schloß. In sich gekehrt arbeitete er, lautlos saß er umher, grübelnd lag er des Nachts im Bett und horchte hinaus, ob sich nicht wieder die schleichenden Schritte um seine Kammertür hören ließen, die seine erste Nacht im Wennrichschen Hause beunruhigt hatten. Denn er betrachtete dieses gewalttätige Losfahren gegen den Schlosser als einen Rückfall in seine alte Rebellenwildheit, und je länger er diesem Schattenwühlen nachhing, desto näher kam er wieder der albischen Dunkelheit des Gedankens, das wilde Wesen der Paula Großmann, das ihn vor zwei Jahren in sich gerissen hatte, ziehe noch immer seine Kreise um ihn. Denn die Menschen jener Zeit nach den verunglückten achtundvierziger Unruhen litten tiefer an der Zwiespältigkeit, die in der Natur des Menschenwesens überhaupt liegt. Ernüchtert rissen sie sich in einen Kampf um ein greifbares Glück auf der Erde. Sie begannen die göttliche Führung des Schicksals zu leugnen. Der Sozialismus rührte sich, religiöse Bindungen fingen an, Fragen der Wirtschaft und Wissenschaft zu werden, und zugleich wurde dieses Geschlecht, das mit freier, ja oft frecher Stirn der Alleinherrschaft des Verstandes in der Welt der Menschen leidenschaftlich zustrebte, von den Gemüts- und Glaubenskräften ihrer Vorfahren beunruhigt, die bei den einen in dumpfen Aberglauben, bei den anderen in sentimentale Schwärmerei entarteten. Vergeblich nannte Maechler seine Spintisierereien Unsinn, umsonst versuchte er das Gelächter wieder aufzubringen, mit dem er vor langen Monaten den ersten Anfall dieser schicksalhaften Ahnung abgeschüttelt hatte. Es schien sich wirklich der uralte Glauben an die Wirkung des bösen Blickes an ihm zu bestätigen, wenn er in der Nacht lag und über sich schaute, war es ihm oft, als bemerke er in der Finsternis zwei schwarze Augen, die unausgesetzt sich auf ihn einbohrten. So sog wahrhaftig dieses Wesen noch immer an seinem Leben. Ja, sogar über Lotte schien seine Verdunkelung mehr und mehr Macht zu gewinnen. Ihre Überheblichkeit sprühte nur noch selten auf. Nie lachte sie über seine Einsilbigkeit. Nie mehr fuhr ihn ihr Blick verwirrend an, wenn er notgedrungen das Wort an sie richten mußte. Ihr Stolz verlor die Schärfe. Aber auch das Schwebende ihres Ganges war nicht mehr so leicht, das Schillern ihres Auges verwandelte sich oft in Überwölkung. Mit einem Wort, es lag ein geheimer Kummer über ihr, den sie wohl vor Maechler bezwang, aber doch nicht ganz unterdrücken konnte.

Und doch hatte diese unleugbare Veränderung im Wesen und Verhalten Lottes dieses Mal noch einen Grund, der sich nicht mit den Befürchtungen Maechlers ganz deckte. Während eines Besuches bei den Schwestern Niedenführ war am Ende durch Lottes Drängen das Gespräch wieder auf ihre Mutter geführt worden und eine der alten Jungfern erinnerte sich, daß irgendwo noch ein Zettel sein müsse, auf den Lottes Mutter mit ungelenker Kinderhand einen Spielvers geschrieben hatte. Man kramte in Schüben und Schränken, wühlte Kasten und Truhen durch und fand nichts. Zuletzt, von dem hartnäckigen Eifer des Mädchens belustigt und zugleich etwas unwirsch gemacht, griff die eine der weißgrauen Jungfrauen in ein Körbchen und hielt Lotte einen Schlüssel vors Gesicht. Da der Zettel offenbar verwunschen und entrückt sei, könne vielleicht dieser fremde Schlüssel, der einst vom Himmel in ihren Garten gefallen war, das Zauberschloß lösen, das den Zettel gefangen hatte. Lotte erkannte in dem alten, angerosteten Ding sofort den Schlüssel für die Kommode der Maechlerschen Kammer, ließ sich aber nichts anmerken, sondern stimmte herzlich in das Gelächter der beiden ein, nahm den Schlüssel an sich und meinte launig, man könnte ja immerhin den Zauber versuchen. Nachdem sie einen und den anderen Tag den Schlüssel unversucht in der Tasche umhergetragen hatte, ohne jemand ein Wort davon zu verraten, siegte doch die weibliche Neugier. Sie überwand endlich die Scheu, in die Geheimnisse Maechlers einzudringen und öffnete den verschlossenen oberen Schub der Kommode. Zu ihrer Enttäuschung war er leer. Nach manchem vergeblichen Umhergreifen geriet ihr, in eine hintere Ecke geschoben, das zusammengefaltete Papier unter die vor Aufregung zitternden Hände, auf dem das Abendgebet der Maechler stand. Sie hatte Mühe, die halb erloschenen, veralteten Schriftzüge zu entziffern. Als es ihr gelungen war, las sie immer und immer wieder diese schmucklosen Verse tiefer, inniger Gläubigkeit und war ergriffen, daß ihr das Herz klopfte. Bebend legte sie das zusammengefaltete, zerlesene Papier an den alten Ort zurück, verschloß den Schub wieder und war einen Augenblick im Zweifel, ob sie den Schlüssel stecken lasse. Aber nein, Maechler durfte nicht wissen, daß sie hinter das Geheimnis seines Wesens gekommen sei. Mit eins erschien er ihr in einem Lichte, das sie nicht für möglich gehalten hatte. Es war also nicht der verstandeskalte, robuste Mensch, sondern hatte nur auf eine Zeit seine tiefe Gläubigkeit von sich geschoben, um von Herzensweichheit nicht im Kampf für das Wohl ihres Hauses behindert zu werden, der nur mit kalter Klugheit und gelegentlicher Härte geführt werden konnte. Nur so war es möglich gewesen, ihren Vater aus dem religiösen Kleinmut und dem verzagten Menschenhaß herauszuleiten und das Gedeihen ihres Hauses wieder zu beflügeln. Welches geheime Märtyrertum hatte er um ihres Wohles halber auf sich genommen! Ihr Herz krampfte sich zusammen vor Scham, wie sie diesen seltenen, großen und guten Mann behandelt hatte. Aber in ihrem Stolz fand sie keinen Ausweg, das Unrecht wieder gutzumachen. Sich vor ihm zu demütigen oder in Weichheit zu zerschmelzen, erschien ihr so, als solle sie sich nackt vor ihm zeigen. Ihr Herz, das darnach schrie, empörte sich zugleich dagegen.

So verfiel sie immer tiefer in den Kummer und einer Verfinsterung, in der Maechler die böse Fernwirkung der Paula Großmann erblickte, der er einmal wider Willen so höllisch verfallen war. Während er in seiner Kammer die Nächte zergrübelte, wie diesem Unsegen zu entrinnen sei, wälzte sich drunten Lotte ruhelos auf ihrem Lager und stöhnte oft laut auf.

Da Maechler wohl ein tief gebundener und bewegter, aber zugleich tätig getriebener Mensch war, ertrug er diese Last nicht länger, die sich aus undurchdringlichen Dämmerbezirken des Daseins auf ihn gewälzt hatte. Geht mir dieser Schatten und offenbare Unsegen nicht aus dem Wege, sann er, so muß ich ihm eben ausweichen, und er faßte den Entschluß, seinen Eichenheister wieder hinter dem Schrank hervorzuholen, Wilkau den Rücken zu kehren und anderswo das Heil seines Lebens zu versuchen. Allein, still wie ein lahmgewürgter Hund wollte er aus diesem Ort nicht gehen, an dem er so viel an Tat und gutem Willen aufgebracht hatte.

Durch die Kreisverwaltung war endlich die Entscheidung in der Straßenführung gefallen und dem Gemeindevorsteher Schlicker in einem Schreiben mitgeteilt worden: Die neue Kunststraße solle über Scherichsdorf und Wilkau an die Landesgrenze gebaut werden, und Schlicker gedachte, eine allgemeine Versammlung der Gemeindemitglieder einzuberufen. Dort wollte er im Anschluß an die amtliche Verfügung vor allem noch einmal die Gründe und Vorteile der neuen Straßenführung durch den Kreisbaumeister vorlegen lassen, um sich so von dem Verdacht seiner Gegner öffentlich zu reinigen, daß er im geheimen besonders für das manchen so verhaßte Projekt gewirkt habe. Auch einen Vertreter des Grafen, der indessen seinen Widerstand aufgegeben hatte, wollte man für die Teilnahme an der Versammlung gewinnen. Maechler sollte aus der Mitte der Teilnehmer auf Zuruf zur vollkommenen Beruhigung in Vertretung seines Meisters einige kluge, abgewogene Worte sprechen und dem Vertrauen des Volkes in die Maßnahmen der Behörde Ausdruck verleihen. Es kostete den Gemeindevorsteher nicht allzuviel Mühe, Maechler zu dieser für einen Gesellen immerhin etwas gewagten Mission zu bewegen. Nach einigem Zögern sagte er zu, weil er bei dieser Gelegenheit noch einmal vor allem von dem Sinn des wahren Bürgers, dem Wohl des Menschen und der Bedeutung der richtig verstandenen Freiheit das sprechen wollte, was er vielen einzelnen in Unterhaltungen nahezubringen versucht hatte. In einer verzeihlichen Überheblichkeit sollte diese Rede des Antritts zugleich die seines Abschieds von Wilkau sein.

*

Der Tag der Versammlung, der 12. August, rückte heran. Maechler hatte Wennrichs Einwilligung unter der Bedingung erhalten, mit dem Schlosser, wenn er etwa auch erscheinen und in die Verhandlung eingreifen sollte, endgültig abzurechnen. Der alte Mann wurde von unbezwinglicher Aufregung durch das Haus, in das Hintergärtlein, auf den Boden getrieben und stand oft versunken auf dem Werkplatz über der Straße an der Ufermauer des Heidewassers und schaute lange auf die kleinen Wellen des Flüßleins, die, von langer Dürre abgezehrt, mühsam zwischen den Steinen hinschlüpften. Bald war er in der Erinnerung an die vielen Schicksalsschläge seines Daseins verdüstert, bald glühte er in der Aussicht auf Erfüllung seiner Rachsucht am Schlosser, bald riegelte er sich in die Schlafkammer ein und rang im Gebet zu Gott um Befreiung von dieser Bosheit seines Herzens, bald war sein Gesicht glückhaft übersonnt in der Erwartung der vollkommenen Wiederherstellung seiner Ehre. Die Unruhe des umgetriebenen Mannes nahm zu, wie die Hitze in der Natur zur Unerträglichkeit stieg. Die Bäume standen erschöpft, ihr Laub hing ausgesogen und fahlgrün. Das Gras raschelte dürr unter den Füßen wie Heu. Das Blau des Himmels war grau gekocht.

Maechler ging ruhig umher und lächelte nur nickend zu den vielen Ausbrüchen Wennrichs über dies unerträgliche Wetter.

»Lassen Sie's gut sein, Meister«, sagte er, »wenn erst der Sturm im Braunen Hirschen vorbei ist (im Saal dieses Gasthauses sollte die Versammlung sein), dann ändert sich auch das Wetter. Verlassen Sie sich auf mich. Ich, als alter Wanderbursch habe eine Nase dafür. Und was an mir liegt, soll geschehen.«

Unauffällig regelte er alles Schwebende im Geschäft und ordnete seine Sachen, denn er hatte vor, unmittelbar nach der Versammlung, vielleicht noch in derselben Nacht, ohne Abschied davonzugehen, wie er es in der Bradlerbaude getan hatte und wie es die Art seines gesammelten Wesens war, aus dem das entscheidende Handeln unwiderstehlich wie ein Feuer hervorbrach. Lotte beobachtete mit Beklemmung seine geladene Ruhe und zuckte oft innerlich zusammen, wenn sie von seinem spürenden Blick getroffen wurde. Was soll bloß werden? fragte sie sich oft im stillen und bebte vor dem, was bevorstand, in einer Furcht, die sie nicht abzuschütteln vermochte, weil dieses Zittern, das nun und nun ihren Körper wie ein heimlicher, kalter Fieberschauer überfiel, aus der süßesten Sucht des Weibes nach völliger Hingabe stammte. Bis zu dieser unerträglichen Spannung hatte sich das Leben in dem Wennrichschen Hause auf der Feldgasse an dem Tage der Versammlung verknäult. Die drei Personen standen von dem Abendbrot auf, das gedrückt, fast wortlos, verlaufen war, in einer fahrigen Stille, die nur manchmal von einem herausfordernd übermutigen Ausruf Maechlers unterbrochen wurde, den der alte Gerber mit einem frommen Spruch bekräftigte.

Lotte und ihr Vater traten mit dem Davongehenden in den Flur. Dort richtete sich Maechler auf und sagte nach einem schneidenden Auflachen:

»So, nun sind wir soweit! Leben Sie wohl! Das ist das letzte, was noch zu tun ist. Dann ist hoffentlich Schluß. Jawohl, Meister, Schluß mit allem. Und vielleicht, Fräulein Lotte, geht es Ihnen dann auch besser.«

»Gott mit Ihnen, lieber Maechler«, rief der erschütterte Meister, der den Sinn der Worte des Entschlossenen nicht verstand, und preßte kräftig seine Hand.

Lotte lächelte gezwungen und sah ihn, mechanisch mit dem Kopfe nickend, ratlos an.

Wennrich eilte in die Schlafstube und riegelte sich zum Gebet ein.

Als der Gesell noch einmal zurückkehrte, um etwas Vergessenes aus seiner Kammer zu holen, sah er Lotte noch an derselben Stelle stehen und versunken auf den Boden starren, wo sie etwas, was nicht zu sehen war, immerfort mit dem Fuß zur Seite schob.

Bei seinem unvermuteten Wiedereintritt fuhr sie erschrocken auf, floh in die Lederausschnittstube, deren Tür sie hinter sich halb offen ließ und stöhnte laut auf.

Maechler sprang sofort von den ersten Stufen der Treppe zurück und trat mit der erschrockenen Frage auf die Schwelle:

»Was ist Ihnen denn, Fräulein Lotte?«

»Maechler!« schrie das Mädchen gequält auf, wurde kalkweiß, schloß die Augen und mußte sich krampfhaft am Tisch festhalten, um nicht wankend gegen Maechler hin zu Boden zu fallen.

Jetzt war der Augenblick gekommen, da er das stolze überwundene Mädchen sich hätte an die Brust reißen können.

Aber er sah nicht das aufgeangelte Tor der Liebe, sondern war von der nahen Ohnmacht des schönen Mädchens so erschüttert, daß er, in Bereitschaft, die Sinkende aufzufangen, stotternd und in großer Angst nur wieder fragte:

»Gott, Fräulein Lotte, was hat's denn?«

Aber da hatte sich das Mädchen schon wieder gefaßt, lachte gell auf und führte bei geschlossenen Augen einen Fauststoß gegen Maechler hin in die Luft. Dann sagte sie schneidend, mit Verachtung:

»Nein! Sie haben recht. Gehen Sie fort von hier. Machen Sie Schluß.«

Maechler hörte aus ihrer Stimme nicht den Schrei gekränkter Inbrunst, sondern nur den wilden Zorn ihrer Demütigung.

»Ja, ja. Ich weiß das schon lange«, sagte er dumpf.

Dann ging er aus dem Hause, denn es war die höchste Zeit.


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