Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Dieser selbe Sturm, der in Paula das erstemal die dumpfe Einsamkeit eines Herzens zerriß, das sich noch nicht kennengelernt hatte, steigerte das Fieber Maechlers, daß es den Anschein hatte, sein Leben müsse noch diese Nacht enden. Fortwährend hörte das Mädchen sein Stöhnen und irre Reden durch die Decke. Dann und wann polterte es, wie von dem Ringen zweier Menschen. Darauf trat Stille ein und die dunkle Stimme ihres Vaters klang in dem Ton einer Güte herauf, die sie seit Jahren an ihm nicht mehr wahrgenommen hatte, monoton, geduldig, ja inbrünstig, so, als bete er. Das trieb sie aus dem Bett, warf sie auf den Boden und drückte ihr das Ohr fest an die Diele, weil sie glaubte, der Unglückliche ringe mit dem Tode und ihr Vater spreche die Sterbegebete. Allein die Worte waren nicht zu verstehen, sie wurden leiser und leiser und verliefen sich in einer Stille, die noch beklemmender war als der Schrecken, der das Mädchen bei den Fieberausbrüchen des Fremden angefallen hatte. Zitternd vor Kälte und einem Beben ihres Herzens, wie sie es noch nie empfunden hatte, tastete sie sich auf das Lager zurück, zog die Decke über ihren Kopf und stammelte immerfort: »Um Gott des Vaters und des Sohnes«, lautlos, ohne zu wissen, was sie sprach, in einem Bangen, als handle es sich um ihr eigenes Leben, bis sie endlich einschlief.
Anderen Tages war an dem Betragen des Mädchens nicht das geringste von der schmerzlich-gütigen Aufgelöstheit des vorigen Abends und der Herzensangst um das Leben des Fremden zu merken, die sie zu Boden geworfen und dann in ein zitterndes Gebet getrieben hatte. Sie bewegte sich scheinbar wie an allen Tagen in einer Art drohender Stummheit umher und verbiß sich noch leidenschaftlicher in ihr Wirtschaftswirken, so, als sei sie mit ihrem Vater allein im Hause, und fragte mit keinem Wort nach dem Ergehen dessen, den sie aus dem Bärengrund hatte herauftragen helfen. Dabei versäumte sie nichts im Dienst um den Kranken, den Großmann für seinen Sohn Franz gehalten hatte. Gleich nach dem Aufstehen, beim ersten Schein des beginnenden Tages, trat sie in die Wohnstube und fand ihren Vater neben dem Bett des Unglücklichen auf einem Stuhl schlafend, zusammengerutscht, blaß, wie ein Gefolterter. Ohne ein Wort zu sprechen, hob sie ihn, unter die Achsel greifend, auf die Füße, gängelte ihn durch den kleinen Flur die Stiege hinauf und legte ihn dort auf das Bett der anderen, der ihren benachbarten Kammer. Zu allen Ansätzen des übermüdeten, abgetriebenen Mannes, von dem zu sprechen, was sich zwischen ihm und dem Kranken diese Nacht ereignet hatte, schüttelte sie nur den Kopf, als wisse sie alles oder als interessiere sie nichts, daß Großmann im Taumel der Schlaftrunkenheit immer nach einigen Worten der Erzählung abbrach. Als er aber mit Hilfe Paulas sich der Stiefel entledigt hatte und angekleidet unter der Decke lag, riß er die zufallenden Augen weit auf und schrie schmerzvoll: »Paula, es ist nicht Franz.« Das Mädchen schloß ihm hastig mit der Hand den Mund und bedeutete ihm, still zu sein. Denn niemand dürfe von der Anwesenheit des Fremden in ihrem Hause wissen, weil ihm sonst allerlei Plackereien von den Grenzjägern drohten. Das alles sagte sie hart, fast lieblos, Großmann schloß die Augen, nickte stumm und schlief sofort ein. Paula aber mußte im Hinabsteigen sich auf eine Stufe der Stiege setzen, hüllte auf einen Augenblick den Kopf in ihre Schürze und stieß ein tiefes, fast tierisch-schmerzliches Stöhnen aus. Dann aber biß sie die Zähne zusammen, packte mit beiden Händen ihre Knie, als wolle sie sich das Fleisch herunterreißen, schnellte sich auf und stieg finster zusammengezogenen Gesichts hinunter zu dem Kranken, zog die Vorhänge an den Fenstern noch fester zusammen, rückte leise den Stuhl vor dem Bett zurecht und bohrte unausgesetzt ihre Augen auf den Kranken, leidenschaftlich und fessellos, als stürze sie sich kopfüber in einen Abgrund.
Maechler lag kalkbleich, regungslos, fast ohne Atem, halbgeöffneten Auges, mehr ein Toter als ein Lebender, in den Kissen. Unter den bohrenden Blicken des Mädchens zerriß auf einen Augenblick seine Starre. Er holte tief Atem, ein Beben lief durch ihn hin, und hauchend sprach er nur das eine Wort »Mutter«. Dann war er wieder still wie ein Toter. Dem Mädchen zog es die Hand nach seiner Stirn. Aber sie riß sich zusammen, floh lautlos aus der Stube, trat vor die Haustür und versank flammenden Auges in das frühlingsbesonnte Waldwogen der Berge und Schluchten unter ihr. Dabei ging ihr Atem leidenschaftlich, inbrünstig, zum Brustzerspringen. Endlich packte sie eine hölzerne Kanne, die auf einem Bänkchen neben der Tür lag, und schleuderte sie so heftig zu Boden, daß die Dauben auseinandersprangen. Dann ging sie glänzenden Gesichts, befreit, an ihre Arbeit.
Den Kranken folterte indes das Nervenfieber weiter und trieb ihn immerfort spukhaft durch die Wirrnisse, Gefahren und Nöte, mit denen sein Leben lange in dem Feuerkessel der Revolution um Gott, Freiheit und Menschenwürde gerungen hatte. Scheinbar gleichgültig ging Paula unter den Augen des Vaters an diesem Kampfe seines kranken Wahnes vorüber. Großmann aber riß sich immer wieder aus dem kurzen Schlaf der Übermüdung und saß tags und nachts an dem Lager Maechlers, weil er sich nicht von der Hoffnung ganz trennen wollte und konnte, dieser landfahrende Flüchtling, den er auf so wunderbare Weise ins Haus gerettet hatte, sei doch sein Sohn Franz. Denn wir wissen ja, wenn eine inbrünstige Hoffnung auch in dem unruhigen Geiste zu erblassen beginnt, im Herzen lebt sie auf unbegreifliche, nicht zu verstehende Art weiter. So lauschte er aufmerksam auf alle wirren Fieberreden des Kranken, um ja kein Wort zu verlieren, durch das der leidende Flüchtling sich als der Mensch enthüllte, den er die ganzen Jahre ersehnt hatte. Allein niemals sprach er von Wien, nie von dem Riesengebirge, nie berührte er einen Ort, eine Begebenheit, die in die Jugend seines Sohnes eingebettet lagen. Bald lief er in Mannheim am Ufer des Rheines hin und schoß als Kanonier nach Ludwigshafen, bis es brannte, bald war er auf dem Bahnhof, wo man ihn gefangennehmen wollte, fluchte und wetterte gegen die hundsmiserablen Dragoner und schrie endlich keuchend: »...schnell, aber schnell rein!« und brach darauf in gellendes Gelächter aus. Nach solch wilden Erschütterungen lag er still, sah mit weiten, übergedanklichen, abwesenden Augen über sich und sagte eine zusammenhanglose Reihe von Namen mit einer ergreifend stillen Stimme, daß Großmann sich nahe über seinen Mund beugen mußte, um zu verstehn, was Maechler sprach, denn es klang so, als spräche ein erschütterter Frommer seine Sterbegebete. Auch sein Gesicht hatte schon den Ausdruck jenseitiger Feierlichkeit. Aber was er mühsam, wie mit dem letzten Atem, in großen Abständen redete, waren nicht Worte der Andacht, nein, abgetrieben flüsterte er Namen, aus denen Großmann nichts zu machen wußte: »Waghäusel... Käfertal... Corvin... Neckargemünd... Struve... Heidelberg... Bretten... Sigel...« Und als er damit fertig war, verzog sich sein Gesicht in qualvoller Enttäuschung. Mühsam hob er die Hand ein wenig und winkte verzweifelt lächelnd ab. Doch ehe er wieder in vollkommene Starre verfiel, schrie er überlaut: »Was ist? was ist?! – Ach so – ja, lieber Mann, Sie haben ganz recht. Es ist gut, ich danke Ihnen, Sie können gehen. – Und das mir? – mir? – mir? –« – Die letzten Worte wurden fast lautlos gesprochen. Dann röchelte es leise in seiner Brust, so wie starke Männer zu weinen beginnen. Aber Maechler weinte nicht, sondern lag bald wieder still wie ein Toter.
Auf diese Weise verbrannte die Vergangenheit des Gerbers, und wie die Glut schwächer und schwächer wurde, verlor sich nach und nach das Beängstigende seiner leiblichen Krankheit. Nach vierzehn Tagen hörten die wilden Ausbrüche ganz auf, und Maechler lag erschöpft und wohlig in den Kissen, wie ein Bergsteiger nach einer gefährlichen Tour in tiefem, traumlosen Schlaf sich von tödlicher Überanstrengung erholt. So vollkommen war die Erschöpfung, so schwach der Feuerfunke, der von dem fieberflammenden Rasen zutiefst in ihm zurückgeblieben war, daß all seine Sinne noch lange verschlossen, ja wie verfallen blieben. Er hörte kein Wort, empfand keine Berührung, verlangte nach nichts, öffnete nicht einmal die Augen und schluckte nur mechanisch hie und da einen Löffel voll Wasser oder Milch, der ihm in den willigen Mund eingeführt wurde. Er sah auch aus wie ein Büßer am Ende seiner Peinigungen: das eingefallene, elfenbeinfarbene Gesicht verklärt, der schmale Mund rein, wie im Wohllaut ruhend, die Augen in Frieden versunken und durch innere Schau geschlossen, die Stirn hell und klar von geheimnisvoller Sicherheit. So überwältigend war dieses Duldergesicht, daß Paula, wenn sie es hinter dem Rücken ihres Vaters eine Weile betrachtet hatte, fluchtartig das Zimmer verließ, weil sie sich sonst laut aufschreiend über den Unbeweglichen hätte stürzen müssen, der in einem rätselhaften Dasein ruhte, das über Tod und Leben hinausgetragen zu sein schien.
Großmann verließ eines Morgens den Platz an dem Krankenbette und schlich sich heimlich aus dem Hause. Auf einem Umwege durch den Wald des Vogelsteines suchte er den Ort auf, wo er den zusammengebrochenen Flüchtling gefunden hatte. Dort verharrte er den ganzen Tag in Gedanken, die er nicht vollkommen begriff. Aber am Ende war er beruhigt und den Finsternissen entronnen, die ihn jahrelang in sich und auf der Welt ruhelos umhergetrieben hatten. Gegen Abend betrat er das Haus und rief Paula.
»Wir wollen den Menschen«, sagte er ruhig, »hinauf in die andere Kammer betten. Denn die Krankheit ist wohl vorbei und droben hat er mehr Ruhe. Ich muß auch wieder in den Wald und kann mich nicht mehr so um ihn kümmern. Was dann werden soll, das wird sich ja zeigen.«
Vorsichtig trugen die beiden Maechler in die stubenartige Kammer, die neben der Paulas lag. So war das Mädchen nachts bei der Hand, wenn Maechler eine Hilfe benötigte.
Aber lange noch war er wie eine Pflanze, die wohl Regen und Sonnenschein braucht, Pflege und Güte, die Bedürfnisse jedoch nicht äußern kann. Wohin Paula seine Hand legte, wenn sie ihm am Morgen den Trank eingeflößt hatte, dort fand sie sie noch, stieg sie auf Augenblicke nach Stunden zu ihm hinauf. Doch sein Atem ging ruhig und tief, sein Herz bewegte sich leise aber sicher. Er schwand also nicht unmerklich in den Tod, sondern wurde langsam zurück ins Leben geschoben.
In einer Nacht tauchte er einige Atemzüge lang ins Bewußtsein und fühlte sich mit zwei Körpern im Bett liegen, erschrak, zwei Leiber zu haben, wagte nicht, seinen anderen Körper anzufühlen, der an ihn gepreßt war und mit ihm verwachsen zu sein schien. Ein Duft wie von Thymian ging von diesem anderen Ich aus, und Maechler öffnete die Augen, um sich von diesem Alptraum zu erlösen. Doch es war finster um ihn, und als er die Hand nach dem anderen Wesen ausstrecken wollte, das er selbst und rätselhafterweise doch ein fremdes war, versank er wieder in Bewußtlosigkeit. Nacht um Nacht ereignete sich diese unerklärliche Heimsuchung, über die nachzudenken seine Kraft nicht hinreichte. Sein ganzes Bett duftete nach Thymian. Eines Morgens erwachte er aus dem Schlafe und zum klaren Bewußtsein. Er sah sich in einem kleinen, hölzernen Zimmer, und ein Mädchen mit schwarzen, flammenden Augen stand an seinem Bett, hielt ihm eine Tasse Milch hin und sagte mit harter Stimme: »Gott sei Dank, endlich! Nun aber zugelangt.« Dabei lächelte sie über ihr ganzes knochiges Gesicht, unbeholfen und unschön. Maechler schloß die Augen und drehte sich auf die Bretterwand zu, denn er meinte, bei offenen Augen zu träumen. Als er aber mit seinen Fingern über die Bretter gefahren war und wirklich Holz gefühlt hatte, erkannte er, in klarer Bewußtheit zu sein, kehrte sich wieder zu Paula und fragte: »Ja, sagen Sie, was ist denn das! Wo bin ich denn?«
Da stürzten dem Mädchen die Tränen aus den Augen. Sie begann am ganzen Leibe zu beben, so, daß sie die Tasse auf den Stuhl stellen mußte. Dann stand sie atemlos und verschlang ihn mit den Augen. Es trieb sie, ihn zu umarmen, sich in ihn zu wühlen. Aber die Kühle und Erschrockenheit in den Augen Maechlers riß sie aus dem Sturm ihres unberührten Blutes, daß sie mit einem Ruck ihres gewalttätigen Willens sich in die Hand bekam. Immer noch mit ihrem verschlagenen Atem ringend, erzählte sie nun stockend und ungelenk, wie ihr Vater jahrelang nach dem in der Wiener Revolution verschollenen Bruder gesucht, Maechler auf der Hohenelber Straße getroffen und für seinen Franz gehalten habe; wie durch ein Wunder beide ihn im Bärengrunde gefunden und vor dem sichern Tode herauf ins Haus gerettet hätten. Als sie ans Ende gekommen war, machte sie eine kleine Pause. Dann wurde sie von innen her wieder überwältigt und sagte: »Und nun sind Sie da, und wir sind glücklich, daß wir Sie haben. Gelt, ja?« Doch diese liebreichen Worte sprach sie hart, kalt, fast feindselig. In ihr tobte so ein Taumel, daß sie am liebsten den Mann da vor sich erwürgt hätte, denn nun sah die Kühle in seinen so klaren aber so erschöpften Augen gar wie Entsetzen aus. Um nicht von diesem Drang übermannt zu werden, lief sie aus der Kammer und sprang die Treppe hinunter. Dort stand sie lange in dem halbdunkeln Flur und starrte finster zu Boden. Dann kehrte sie sich leidenschaftlich um, hämmerte mit geballter Faust auf die Treppenstufen und schwor sich dabei mit leiser Stimme: »Und doch! – Und doch!« Maechler aber, ins sichere Bewußtsein erwacht, wurde von der Brunstwolke Paulas nicht weiter beunruhigt, denn er war ein zu männlicher Mann, der wohl von dem andern Geschlecht zeitweise stark bewegt, jedoch nie unterjocht wurde. Als das Mädchen aus seiner Kammer geflüchtet war, roch er in der ganzen Stube den Duft des Thymian, der ihn bisher rätselhaft nur aus dem Bett beunruhigt hatte. Nun wußte er auch das Geheimnis seines zweiten Körpers. Er lächelte eine Weile schalkhaft darüber, strich sich aber bald diese Lustigkeit mit der Hand aus dem Gesicht und versuchte, sein Leben zu überdenken und ins klare zu stellen. Aus Schwäche geriet er bald ins Traumhafte, verwischt Ahnungsvolle; und ob er ermüdet dabei einschlief und beim Erwachen sich wieder darüber hermachte, in die Zusammenhänge aller Ereignisse einzudringen, er kam nicht weiter als zu der Erinnerung über ein sonnendurchglühtes, vulkanisch wogendes Feld gelaufen, durch einen Abgrund gestürzt, aber nicht unten, sondern rätselhafter Weise oben angelangt zu sein, so, als habe es ihn in die Höhe gerissen. Wenn er aber darauf bestand, in die Finsternis einzudringen, durch die er gesaust war, sah er immer nur in die schwarzen, flammenden Augen des unschönen Mädchens, das ihm nach dem Auftauchen aus der Bewußtlosigkeit die Tasse Milch gereicht hatte. Dann fielen ihm aus einer inneren Abgewandtheit abermals die Augen zu, und er stellte sich schlafend, als nach langer Zeit Paula wieder in die Stube trat, ihn zum Essen aufforderte, ja sogar an der Schulter rüttelte. Benommen lag er da und duldete alle Bemühungen ihrer robusten Liebenswürdigkeit, ohne die Augen zu öffnen, bis sie enttäuscht abließ und mit den zu sich selber gesprochenen Worten »Nun ja, ich stell das Essen auf den Stuhl. Wenn er erwacht, wird er's wohl finden« die Kammer verließ.
Gegen den Abend erschien Großmann, aus dem Walde vom Holzschlag zurückgekehrt, an seinem Bett, begrüßte ihn in seiner gütigen Kargheit und betrachtete dann lange sein Gesicht, wohl um sich endlich zu vergewissern, ob dieser Mann da vor ihm im Bett sein Sohn Franz oder ein Fremder sei. Als er mit seiner Prüfung fertig war, schüttelte er mit einem schweren Atemzuge den Kopf, erhob sich jäh von dem Stuhle und ging ein paarmal mit langen Schritten den engen Raum hin und her. Dann ließ er sich wieder auf den Stuhl nieder und sagte: »Nun jaja, es ist nicht anders. Also Maechler heißen Sie?«
Der Gerbergeselle nickte bestätigend, ohne ein Wort zu sagen, und lag auch still und lautlos, während Großmann von seinem jahrelangen schmerzvollen Warten auf seinen Sohn sprach, umständlich die Begegnung mit Maechler auf der Spindelmühler Straße und die Rettung des scheinbar Todgeweihten aus dem Bärengrunde erzählte und am Schluß vieles von dem berichtete, was Maechler in seinem Fiebertoben geredet und getan hatte, und daß Großmann oft wie mit einem Feinde habe ringen müssen, richtig, als ginge es um die letzte Wurst, wie er sich ausdrückte, vor allem auch, um ihn daran zu hindern, aus der Stube, aus dem Haus hinauszulaufen, um nach Preußen hinüberzukommen.
Während der Erzählung Großmanns war Paula leise eingetreten, hatte sich hinter den Vater gestellt, bekräftigte seine Erzählung da und dort mit einem stummen Neigen des Kopfes und verwandte keinen Blick von Maechler, der horchend mit weitgeöffneten Augen bald Großmann ansah, bald wieder sinnend sich ins weite verlor und so, still und wortlos, alle Fragen überging, die Großmann an ihn über seine Familie und Herkunft richtete. Er faltete stumm seine Hände und blickte sie nachdenklich lange an. Dann sagte er mit der machtlosen klaren Stimme der Genesenden, indem er seine großen blauen Augen auf Großmann richtete: »Hm, hm. Ihr habt mich vom Tode errettet, und ich danke euch von Herzen. Ich hoffe, daß ich das kann.« Dann mußte er erschöpft innehalten. Er schloß die Augen wieder und Paula sah, wie eine Träne unter den Lidern auf seine gelbe, eingefallene Wange trat. Das ergriff sie so, daß sie aus der Kammer huschte und draußen einen Balken dergestalt umklammerte, als wolle sie ihn zerdrücken.
Kaum daß die Tür hinter dem Mädchen ins Schloß geschnappt hatte, erhob Maechler wieder seine Augen und sah, lange nach dem rechten Wort suchend, auf den Gebirgler, der bedrückt und fassungslos auf seinem Stuhl saß.
»Herr Großmann«, sagte der Kranke endlich leise, »wenn ein Rad sich dreht, so glauben die Menschen, es wird etwas, was noch nie dagewesen ist. Aber das Rad dreht sich nur, weil es in seiner Art ist. Auch das ganz, ganz große Rad macht es so.« Dabei hob Maechler seinen rechten Arm etwas in die Höhe und wollte wohl damit auf den Himmel zeigen. Dann sank er in die Kissen zurück. Seine Augen fielen ihm zu und im nächsten Moment schlief er schon.
Diese Worte, die Maechler an das Ende der Unterredung gefügt hatte, erschienen dem einfachen Manne der Bradlerbauden nur aus der Verwirrung der Krankheit zu stammen, die noch immer, wenn auch ganz schwach, in ihm regierte, so unbegreiflich, so versprengt waren sie. Nachdem Großmann noch eine Weile in der Hoffnung auf dem Stuhle gesessen hatte, der Kranke werde bald erwachen und gekräftigt an die Erklärung seiner geheimnisvollen Worte herangehen, erhob er sich und verließ auf den Zehen die Kammer, denn Maechler war in so tiefen Schlaf entrückt, daß es eine Versündigung bedeutet hätte, ihn darin zu stören. Außerdem tröstete sich Großmann beim behutsamen Hinabgehen über die steile Stiege, daß sich ja noch vielerlei Anlässe bieten würden, den Fremden über den Sinn seiner rätselhaften Worte zu befragen, wenn er erst wieder sicher und gesund auf den Beinen stände. Darüber aber war er jetzt schon klar, daß Maechler nicht zu den vertrottelten Landfahrern und Diebesvögeln gehörte, die von Zeit zu Zeit in den Wäldern und Bauden des Riesengebirges vor der Polizei Schutz suchten. In einer ihm selbst unbegreiflichen Befreitheit durchschritt er den Flur und tat sich vor dem Hause mit allen Sinnen in der Welt um, als sei es wohl möglich, daß von irgendwoher, durch die Luft, wieder eine Radwer voll Glück unter sein Dach gefahren werde.
Das ganze Gebirge, wohin er auch seinen Blick wenden mochte, lag in der letzten Klarheit des Abends, alle Züge, Rücken und Kuppeln in jungem Grün, so frisch, so lebendig, als ständen sie nicht seit Ewigkeit auf demselben Fleck, sondern seien bereit, unaufhaltsam und mächtig unter dem Himmel dahinzufahren, irgendwohin. Der Krokonosch drüben hob seinen langen Buckel, drauf und dran, seine riesige Last höher zu stemmen und fortzurücken, der Ziegenrücken schnellte sich keck von der anderen Seite durch glasklare Luft, als habe er es satt, seit Jahrhunderten vor dem Spindelmühler Kessel jäh zu erschrecken, sondern sei entschlossen, jetzt, gleich den Sprung über die Tiefe zu wagen, mochte es dem alten, dösigen Krokonosch behagen oder nicht. Die Sturmhaube pfiff leise mit einer himmlischen Sirene. Aus dem Elbgrund orgelte es geheimnisvoll, im Bärengrund pinkte leise und verschwebend das Wasser hinunter, und die wenigen kleinen Wölkchen, die bisher still und verklärt am blauen Himmel gestanden hatten, erröteten über diese allgemeine glückliche Unruhe auf der Erde und zogen weiter.
Großmann, in den das alles wie eine Offenbarung eindrang, die nicht zu fassen und auszudrücken ist, wandte sich endlich zurück und auf einmal war jedes Erschrecken über die Verschollenheit seines Sohnes verschwunden, und der verwunderte Glaube näherte sich ihm, die Fügung habe diesen Fremden als Ersatz des Entschwundenen ins Haus gesandt. Erstaunt, betroffen, aber auch auf rätselhafte Weise erlöst, trat er ins Haus.