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2

Großmann war kurz vor dem Abend in sein Baudenhaus zurückgekehrt, das nur eine halbe Stunde unterhalb des Mädelkamms, der sanften, langen Einsattelung zwischen der großen Sturmhaube und den Mädelsteinen, so nahe an dem steilen Abfall nach Bärengrund lag, daß man von den Fenstern des wettergrauen Holzhauses, über die Wipfel der schon spärlichen, schneegedrückten Fichten schauen konnte, die den Lauf des kleinen unruhigen Baches begleiteten. Er führt noch das Schmelzwasser der alten Schneewächten aus den Mulden der Mädelwiesen zu Tal und polterte laut aus dem Grunde herauf. Großmann stand an dem geöffneten Fenster, hielt das Fensterkreuz mit der linken Hand krampfhaft umspannt, als müsse er sich in einem fahrenden Wagen aufrechterhalten, horchte auf das dumpfe Lärmen des Bärengrundwassers drunten und beugte sich von Zeit zu Zeit weit hinaus, um den Grund hinunterzuspähen, der schon in den Schatten der beginnenden Nacht verschwamm.

Es war nichts zu sehen und zu hören. Er ließ enttäuscht die Hand vom Fensterkreuz fallen, schüttelte tiefaufatmend den Kopf und griff entschlossen nach den beiden Flügeln. Ehe er aber das Fenster schloß, beugte er sich noch einmal weit hinaus und schrie so verzweifelt in die Nacht hinaus, daß seine Stimme überschnappte.

»Franz! ... Franz! ... Franz!!! ...« rief er aus Leibeskräften wie um Hilfe in die Finsternis und wartete angehaltenen Atems auf einen Widerlaut von draußen. Es blieb still und nur der Vogelstein wurde von dem Licht des Mondes bleich überschimmert. Großmann wirbelte das Fenster zu und setzte sich abgeschlagen auf das Ende der Tischbank.

»Was soll ich denn hier, wenn er nicht kommt?« murmelte er dumpf und griff mit den Händen ineinander, daß die Finger knackten. Auf dem Tisch hinter ihm stand ein kleines Lämpchen, dessen rötlicher Lichtkreis kaum bis an die niedrige Balkendecke reichte. Die gegenüberliegende Tür der großen Stube war kaum zu erkennen, so daß sich Großmann wieder wie eingemauert vorkam. – Wirklich eingeschlossen, so, daß er im Dunkel gefangen saß, auch wenn er hinauslief und im Gebirge herumkletterte. Nicht zu zerbrechen waren diese Wände, gegen die sein Leben ohnmächtig ankämpfte. Ja, ja, anfänglich waren das nur Schatten gewesen, würgende Befürchtungen, die ihn angefallen, aber wieder verlassen hatten. Allein nachdem die Sorge um den verschollenen Sohn seine Frau in einer Nacht umgebracht hatte, war er ringsum eingemauert worden. Richtig wie in einer Höhle lebte er seitdem, immer nach dem Spalt spähend, der von irgendwoher das Licht einer Hoffnung einließ, deren Ungewißheit ihn besonders quälte. Und wenn diese Hoffnung, seinen einzigen Sohn wieder zu bekommen, ein Unsinn war, so hatte auch der Gram keinen Sinn, der ihn ritt, keinen anderen Sinn als den, gleich seinem Weib unter die Erde zu kriechen, um nichts mehr zu sehen und zu hören.

Nein, nein, das stimmte nicht, deswegen konnte er nicht auf die Erde gekommen sein. Deswegen bestimmt nicht! Denn wenn es so enden sollte, wozu hatte es ihn heute nachmittag beim Heraufsteigen bei den Eichlerbauden wie eine grelle Erleuchtung überfallen, daß der Handwerksbursche, den er bei der Elbklemme auf der Hohenelber Straße getroffen hatte, doch sein Sohn Franz gewesen sei, trotzdem seine Nase anders geformt war und er allerhand durcheinander geredet hatte, was nicht stimmte. Das war doch immer ein Heimlicher gewesen, der wie hinter fernen Hügeln gelebt hatte, genau so nicht ganz zu fassen wie sein Weib. Und hatte der Handwerksbursche nicht vor dem Weggehen gesagt, daß er wiederkommen würde und wenn's aus Amerika wäre?!

Draußen wurde die Haustür aufgestoßen.

Großmann sprang aus seinem Sinnen erwartungsvoll auf und tat einen Schritt auf die Stubentür zu, weil er meinte, daß es bald anklopfen würde. Es blieb still. Nach einer Weile hörte er nur seine Tochter mit harten, langen Schritten den engen Vorraum herkommen und die Tür laut zuschlagen. Jetzt war sie auf dem Rückwege wieder an der Stubentür.

Großmann setzte sich schnell wieder und rief laut: » Paula!«

Sie trat schroff ein und blieb unter der offenen Tür stehen.

Großmann senkte den Kopf, als er ihre knochige, derbe Gestalt und die stechenden Augen unter der schmalen Stirn gesehen hatte.

»Na?« fragte sie mit hoher unwirscher Stimme. Großmann hielt den Kopf zur Erde gekehrt und sagte dumpf:

»Die Haustür ist gegangen.«

»Nu freilich, weil sie der Wind aufgestoßen hat«, antwortete sie kurz.

»Der Wind, bloß der Wind?« fragte Großmann zaghaft.

»Wer denn sonst, he?« fragte sie ironisch wieder. Großmann antwortete nichts, sondern versank wieder in Brüten.

Als er hörte, wie sie sich wendete, um hinaus zu gehen, rief er wieder ihren Namen, erhob sich, tat einen Schritt auf sie zu, breitete die Arme aus, sah nach allen Seiten und sagte mit bebender, geheimnisvoller Stimme:

»Paß gut auf, Paula, heute geht er ums Haus, heute kommt er gewiß. Ich bin ihm auf der Hohenelber Straße begegnet.«

Das Mädchen entgegnete nichts, zog sich furchtsam vor ihrem Vater zurück und schloß leise die Tür.

Als Großmann sich allein sah, ging er an den Tisch, blies das Lämpchen aus, trat in die Mitte der Stube und blieb dort regungslos stehen, um etwas von dem zu erhaschen, was leidenschaftlich in ihm arbeitete. Und weil er in der Finsternis noch die bleichen Vierecke der vom steigenden Mond schwach erhellten Fenster sah, schloß er sogar die Augen.

Kaum war das geschehen, so vernahm er aus dem Raumlosen einen schwachen Schmerzenslaut. Sogleich raffte er die Mütze von der Bank und lief durch die Stube aus dem Hause. Daß er beim Zuschlagen der Haustür die Mütze aus der Hand fallen ließ, spürte Großmann nicht. Mit springenden Schritten rannte er ums Haus und stürzte sich ohne Besinnen den steilen Abhang hinunter, daß die Steine klirrten. Als er drunten am Bärenwasser angekommen war, fiel zu seinem Verwundern alle Erregung und Angst von ihm ab. Gesammelt, Schritt vor Schritt, ging er am Wasser hin zu Tal, bog die Fichten zur Seite, lugte unter ihre Schirme, sprang den Bach hinüber und herüber, wartete, wenn eine Wolke alles verdunkelte und spürte im schwachen Licht dann weiter. Endlich kam er an den Ort, wo Nathanael Maechler hingesunken war. Er lag, den Kopf auf dem Ranzen, den Mantel bis ans Kinn heraufgezogen, lang und regungslos wie ein Toter. Die Augen geschlossen. Der Mund halb offen. Die Hände welk. Das Gesicht kühl. Großmann kniete neben ihn und tastete scheu an ihm herum. So, nun hatte er seinen Sohn wieder. Ein gramvolles Glück kam über den jahrelang Gepeinigten, daß er seine Hände zurückzog, weil er ihn nicht mehr zu berühren wagte. Die Tränen liefen ihm still übers Gesicht, indes er so lange regungslos neben dem Hingestreckten kauerte. Plötzlich überfiel es ihn, er dürfe nicht dulden, daß sein Sohn tot sei. Er packte, rüttelte ihn, strich ihm übers Gesicht, rief ihm seinen Namen ins Ohr, küßte ihn und hob seinen Oberkörper auf. Maechler gab keinen Laut von sich und fiel immer wieder wie ein Lebloser auf die Erde zurück. Großmann sah endlich ein, daß er allein nicht imstande sei, etwas auszurichten. Er legte den Verschobenen gerade, deckte sorgsam den Mantel wieder über ihn und lief in sein Haus hinauf.

Nicht ohne Widerstreben vermochte der bis ins letzte Haar erschütterte Mann seine Tochter von der Wirklichkeit des Fundes drunten am Bärenwasser zu überzeugen. Paula vollendete die Stallarbeit achtsam und umsichtig, indes der Vater immer dringender, immer leidenschaftlicher hinter ihr her redete, denn sie war zu oft umsonst auf die Wahnpläne Großmanns eingegangen, viele Male mit ihm nach Hohenelbe gepilgert, ganze Nächte spähend wach geblieben, war diesem und jenem Fremden nachgeschlichen, hatte hundertmal den letzten Brief des Wiener Meerschaumpfeifenschneiders und Bernsteindrechslers Kotzar lesen müssen, der das Verschwinden ihres Bruders in dem blutigen Volkstumult gemeldet hatte. In den Jahren dieser steten Aufregung war sie nicht nur von der Verrücktheit ihres Vaters, sondern auch davon überzeugt worden, daß sie ihm eigentlich nichts bedeutete, während er mit immer fieberhafterem Herzen dem Schatten des Verschwundenen nachspürte und in jedem Frühjahr sich wochenlang richtig fast wie ein Irrer gebärdete. Nein, einmal mußte sie fest bleiben gegen diesen Unsinn. Sie stand verstockt im Gange und nestelte an dem Band, mit dem sie sich die Röcke heraufgeschürzt hatte, als Großmann, einen Bund Stricke über die Achsel, in der einen Hand die Laterne, in der andern ein Beil, die Stiege herabkam und so entschlossen und so drohend auf sie zutrat, daß sie eine Gewalttat des Verzweifelten fürchten mußte, wenn sie noch länger an seinen überstürzten Worten vorbeihörte.

Mit einem Ruck zerriß sie das Band und sagte: »Gut. Es ist wieder ein Unsinn. Aber ich will mitgehen. Allein merk dir's, es ist das letztenmal.« Sie schlug ein Tuch um den Kopf, zog sich eine Jacke an und folgte ihrem Vater, der mit der Laterne vorausging. Hinter dem Hause zog er ein Brett von dem Stoß, wand die Stricke darum, faßte das vordere Ende und hieß sie das hintere ergreifen. So stiegen die beiden den steilen Abhang hinunter.

Als sie bei Nathanael Maechler ankamen, der wohl im einsetzenden Fieber den Mantel halb und halb von sich gestreift hatte, ließ das Mädchen das Brett fallen und packte mit dem Ausruf: »Vater!« vor Schreck den Arm Großmanns. Der aber umschlang vor überströmender Erschütterung seine Tochter und stammelte mit stockender Stimme: »Ja, ja, nun siehst du's, daß ich kein Verrückter bin. Aber nun komm, daß wir ihn 'nauf ins warme Bett bringen.«

Sie hoben Maechler auf das Brett, banden ihn mit den Stricken fest und trugen den noch immer Bewußtlosen unter großer Anstrengung den Berg hinauf. Es konnte nicht vermieden werden, daß beim Überwinden felsiger, besonders steiler Stellen Großmann, der vorn am Kopfende trug, der Strick etwas in der Hand rutschte oder Paula, die am hinteren Ende des Brettes ging, auf einem rollenden Stein ausglitt und so der Kranke manche Erschütterung erlitt, die ihm erst leise, kaum vernehmbare Laute entpreßte. Dann aber, je weiter sie kamen, brach Maechler bei jedem, auch dem schwächsten Stoß, in lautes Stöhnen aus. Als sie ihn durch die Stubentür trugen, wand er sich fiebernd schon in den Stricken, und Worte kamen brodelnd und heiß von seinen Lippen, die nicht zu verstehen waren. Indes Großmann ihn von dem Brett losband, richtete Paula das einzige Bett der Stube her, in dem sonst ihr Vater schlief. Bald lag Maechler entkleidet unter der Decke, eine kalte Kompresse um den Kopf gewunden, und sah mit unnatürlich großen, forschenden Augen über sich ins Leere. Seine Kleider lagen auf der Bank. Der Ranzen und sein Stecken hingen im Rechen neben der Tür. Großmann und seine Tochter standen vor dem Bett und betrachteten aufmerksam den Kranken, der sich nun in der Starre fieberischer Entrücktheit nicht rührte. Keines wagte das andere anzusehen, Paula, um den Vater nicht zu enttäuschen, Großmann, um der Tochter nicht recht zu geben in dem Zweifel, den er wieder in sich aufsteigen fühlte. Er schüttelte nur bekümmert den Kopf und legte vorsichtig den Finger auf die eingesattelte Nase Maechlers. »Man hat ihm die Nase eingeschlagen«, sagte er dumpf und wartete auf eine Entgegnung der Tochter. Die aber rührte sich nicht, sondern fuhr nur fort, den Kranken brennenden Auges zu betrachten. Als aber Maechler mit einem tiefen Stöhnen sich aus der Starre löste, die beiden furchtsam anstierte und dann gegen etwas zu kämpfen begann, indem er keuchend immerfort rief: »Auf, auf! Ich muß ihn sehen!«, umschlang ihn Paula, bemühte sich, seinen Oberkörper aufzurichten und stammelte dabei immerfort leise bittend: »Nicht doch, nicht doch!«, bis sich Maechler beruhigt hatte und wieder wie vorher still lag, mit wartenden, angelweiten Augen über sich schauend.

»Er hat's!« sagte Großmann erschüttert. »Gott sei Dank, daß er nicht mehr drunten im Grunde liegt.«

»Und wenn es auch mein Sohn nicht wäre«, setzte er nach einer Pause fast unhörbar hinzu.

Dann aber reckte er sich auf und sagte zu seiner Tochter, die wieder regungslos und hingenommen auf den im Bett Liegenden starrte: »Du, Paula, geh jetzt schlafen. Es ist schon über Mitternacht. Ich will wachen, und wenn es notwendig ist, rufe ich dich.«

Mit einigem Widerstreben führte er sie hinaus und schloß die Tür.

Als Paula draußen im Gange war, sank sie erschöpft gegen die Wand, griff wortlos mit den Händen daran herum und stieg, an einem Schluchzen würgend, die Stiege hinauf, in ihre Schlafkammer.

Der Föhn tobte draußen, daß die ganze Welt brauste.


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