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Nathanael mäßigte indes bald seine Gangart und strebte langsamen, gemächlichen Schrittes durch den Hochwald hinunter, der Ebene zu, die ihn mit den glitzernden Spiegeln ihrer vielen Teiche so bis ins Herz hinein gelockt hatte, als er gestern und heut morgen vom Kamm aus in den Anblick des weiten, bunten schlesischen Landes träumend versunken war. Dort, das hatte er in sich gespürt, mußte und würde sein Leben irgendwo dauernd Wurzel schlagen. Während er so durch das Dunkel des hochstämmigen Waldes ging, hörte er fortwährend das leise Brausen des Rotwassers in dem tiefen Grunde tönen, und dann und wann, von einem schrägen Sonnenstrich getroffen, blitzte der weiße Sturzschaum der Wellen zu ihm hinauf. Der Tausendlaut der Wasser klang wie ein tröstlicher Zuspruch, und das Heraufblitzen der Wellen empfand er gar einmal wie das Winken einer weißen Hand aus der Ferne. Denn die Menschen jener Zeit waren eine Mischung aus Tatkraft und romantischer Träumerei, so, wie es wohl das Wesen der Deutschen aller Zeit ist, aber diese beiden Grundkräfte wogten in der Generation um achtundvierzig, zur Siedehitze angefacht, feurig durcheinander, so zwar, daß sie sich gegenseitig steigerten und zugleich verwirrten. Die Tatkraft wurde von dem hohen Flug der Träume zu den kühnsten Wagnissen getrieben und verlor sich, geblendet von den bunten Bildern weiter Menschenferne, in phantastischen Chimären, und die Träume stießen sich wund und wurden lahm an den harten Wänden starrer Tatsachen. Als Nathanael Maechler, von dem Wege geführt, immer weiter aus dem Bannkreis des Wildwassers geriet, wurde dies Durcheinanderwogen seines Innern immer geruhiger, und da er dann nach kaum einstündiger Wanderung aus dem Hochwald ins Freie trat und das Land deutlich in der schon geneigten klaren Sonne unter sich liegen sah, fühlte er sich sicher vor der Unruhe und den Schatten, die ihn wochenlang getrieben hatten. Auf bergigen Hügeln, die vielfältig und schön zu Tal wogten, lag weit zerstreut der Brän um ihn, der aus sauberen kleinen Wirtschaften bestand, jede inmitten ihrer engen Feldfluren liegend, so daß sich die Anwesen nirgends zu einer Gasse zusammenschlossen. Die Ordnung ging an jedem schmalen Rain entlang, der Fleiß blühte aus der Wohlbestelltheit all der kleinen Feldfluren, ein schönes Lebensbehagen strömte noch aus der Sauberkeit der kleinsten Hütte, Und drunten das Land, das ihm vom Kamm wie eine einzige Ebene, nur durch einen Wald begrenzt, erschienen war, offenbarte sich nun in der Nähe als eine große, geräumige Talmulde, in der, nur in Turmrufferne, sich Dörfer angesiedelt hatten, jedes von Bäumen beschattet, mit grauen und roten Dächern ins Grüne gekuschelt, so eigenartig und anders ein jedes und doch so von der Kraft einheitlichen Werkwillens verbunden, daß Maechler nach der jahrelangen Wolkenfahrerei, ergriffen und beglückt, die vielen Enttäuschungen seiner Träume und Sehnsüchte, ja sogar seinen Zusammenbruch auf dem Gebirge in unbegreifliche Finsternisse nicht mehr als aussichtsloses Irregehen, sondern als den kürzesten Weg Zu einem Ziel erkannte, das sich hinter dem Wirbelspuk all seiner abenteuerlichen Empörungen verborgen hatte.
Nathanael Maechler war so in den Anblick des Landes versunken, daß er nicht das Knacken und Rascheln der Zweige des Unterholzes hinter sich hörte und nicht wahrnahm, daß dasselbe närrische Männchen auf ihn zukam, das er droben in der Peterbaude getroffen hatte. Mit langen, ehrfürchtigen Schritten schlich er sich an den Versunkenen heran. Als sich Maechler umsah, verbeugte er sich wieder wie droben auf dem Kamm mit andächtiger Ehrfurcht und psalmodierte: »Ich grüße dich zum zweiten Male an diesem denkwürdigen Tage, hoher Herr, ich, dein Diener Ignaz Wildner! Siehe, die ganze Welt liegt vor deinem Angesicht ausgebreitet, und das Volk der Erde wartet sehnsüchtig auf deine Ankunft, daß du es erlösest von allen Übeln, die aus seinem Innern steigen und ihm an allen Straßen auflauern. Dort, Schwarzbach harret deiner im Kummer seiner schwarzen Seele, Grandorf drunten im Gram seiner Liebesgier und dort Wilkau, mit dem stolzen Schloß des Grafen Schilling, der eigentlich Silberling heißen müßte, weil ihm wie Judas die Silberlinge der Erdenhoheit mehr gelten als sein ewiger Herr. Wende dich zur Seite und lasse deine Augen auf jenem Berge ruhen, wo als stolze Ruine der Agster aus dem Walde ragt, die stolze Burg der stolzen Schillinge. Öffne deinen Mund, hoher Herr, und verwandle mit einem Stoß deines allmächtigen Atems die Bosheitsburgen der Menschen und alle Zwinghäuser der Bedrückung in Ruinen.« Diese lange Rede sprach der kleine Verrückte in einem einzigen begeisterten Schwung. Dann verstummte er und blickte, ohne ein Glied zu bewegen, auf seine zerrissenen Stiefel. Weder mit einer Silbe noch mit einer Gebärde beantwortete er Maechlers Fragen nach seiner Herkunft, seinem Wanderziel und seiner Absicht. Offenbar gehörte er zu jener Art Irrer, die in die ganze Welt die Zwangsgestalt ihrer Verrückung hineinsehen und kein anderes Menschenwort mehr hören, als das ihres eigenen Wahnes. Deswegen gingen alle Fragen Maechlers spurlos an ihm vorüber. Er nahm mit einem dankbaren Neigen seines ausdrucksvollen Kopfes die Kupfermünze in Empfang, die ihm der Gerber reichte, verneigte sich ehrfurchtsvoll mit den feierlichen Worten: »Segen der Spur deiner Füße! Verzeih, daß ich dich verlasse. Ich will in einer dieser Hütten, die ich liebe von Anbeginn, die Milch der frommen Denkungsart trinken«, verließ ihn und ging quer durch eine Wiese, dann auf einem Rain weiter, ohne sich je einmal umzusehen, versunken und verloren in seinem Wahn.
Maechler schaute ihm sinnend nach, bis die kleine, zerlumpte Gestalt in einer Hügelfalte verschwunden war. Dann stieg er, in tiefe Gedanken versunken, weiter hinab, der Ebene entgegen. Und weil er ein ungewöhnlicher Mensch war, jedenfalls eine Mischung aus Philistertum und weiter schwärmender Welt- und Lebensgespanntheit, geriet er wider Willen aus dem Sinnieren über das Begebnis mit diesem Irrgänger des Daseins in jenes allgemeine Wogen seines Innern, in eine Art von Denken, das ungelehrten Menschen eigen ist, das wohl von der Wahrnehmung zur Vorstellung fortschreitet, aber selten aus dem Bann solcher Denkbilder in die dünne Luft scharfer, reingeistiger Prägungen gelangt. Ihr Hinabdringen in die geheimnisvollen Zusammenhänge des Lebens ist sicher so tief wie das tiefer Denker, und wenn diese anschauliche Innenbewegtheit Maechlers auf dem Wege zur Ebene in die Sphäre reiner Geistigkeit gesetzt wird, so überlegte der Gerber das folgende: Im allgemeinen suchen die Menschen nicht, um zu finden, sondern um zu suchen. Das Ungenügen ist stärker als die Kraft des Festhaltens, und wer erst einmal dieses prickelnde Gift der Friedlosigkeit tief gekostet hat, dessen Herz geht nie mehr wie eine Uhr in sicherem Gehäuse, sondern drängt gleich einem gefangenen Vogel immer gegen die Stäbe seines Käfigs. All seine Ruhe stammt von der Unruhe, die es zwar besiegen, aber nie überwinden kann. Das ist nicht nur eine Auszeichnung geistiger Menschen und bevorrechtigter Stände, sondern das erfüllt und bewegt alle, auch diesen Irren. Das treibt das Leben rastlos in immer neuen Formwandel, daß es von der Erreichung keines Zieles gebunden, von keiner Erfüllung gesättigt und durch keine Enttäuschung ganz entmutigt werden kann. Aber Nathanael Maechler glaubte sich, wenn auch nicht am Ziel seines Lebens, so doch am Ziel des rechten Weges, den er so inbrünstig gesucht hatte. Als er nach kaum dreiviertelstündiger Wanderung eine Weile Zwischen den vielen Grandorfer Teichen umhergegangen war, ließ er sich an einem dieser stillen Wasserspiegel nieder, an deren Rändern da und dort ein Strauchhaufen und hin und wieder ein Baum stand, und deren Zweige eben der erste Abendwind so leise zu streichen begann, daß das blanke Wasser auch nicht durch den kleinsten Schauer versehrt wurde und ungetrübt das Gebirge mit seinem Himmel von der Tiefe her widerspiegelte, aber so verklärt und entrückt, als sei das nicht der Widerschein einer nahen Wirklichkeit, sondern eine rätselhafte geheimnisvolle Einbildung, ein Traum seiner eigenen Tiefe. Maechler breitete den Kotzenmantel auf dem durchsauerten Rasen aus und machte sich behaglich über den Genuß der kleinen Wegzehrung her, die er sich aus der Peterbaude mitgenommen hatte. Weit ab von ihm, am gegenüberliegenden Rande des Teiches, schwammen zwei Wasserhühner, tauchten von Zeit zu Zeit in der Flut geräuschlos unter und zogen dann wieder wie zwecklos auf dem glatten Spiegel hin, daß kaum eine dünne Spur in die blanke Wasserfläche geschnitten wurde. Maechler schaute ihnen lange in einer Ergriffenheit zu, die er nicht verstand. Endlich machte er sich aus der Versunkenheit mit tiefem Aufatmen los. »Die wissen von den Staaten nichts und nichts von der Kirche und auch von Gott nichts, und die ganze Welt ist für sie in Ordnung, weil sie als Wasserhühner in Ordnung sind. Merkwürdig, Nathanael Maechler«, sagte der Gerber laut zu sich, »wär's nicht Zeit, daß du nun auch zu wasserhühneln anfingst und nebenher die andern Leute ebenfalls dahin brächtest?«
Er strich sich die Brotkrumen von den Beinkleidern, schnallte das Felleisen zu und erhob sich, um aufzubrechen.
Das Klappern eines leeren Bretterwagens rasselte in der Abendstille vorüber. Also mußte nicht weit entfernt die Straße nach Wilkau führen, wo er, wenn es paßte, übernachten wollte.
Ehe er aber über einen schmalen Bohlensteg das löcherige Landsträßchen erreichen konnte, kam ihm noch einmal der kleine Verrückte, wenn auch von ferne, ins Gehege, dem er heut schon zweimal ins Garn gelaufen war. Denn er hörte plötzlich hinter sich in dem glasigen Abenddunkel ein hohes Stöhnen aufklingen, das ihn nötigte, stille zu stehen. Nicht weit von ihm bemerkte er auf einem der Teichränder Ignaz Wildner, wie er, die ausgebreiteten Arme gegen den Himmel gestreckt, diesen inbrünstigen Ruf verzweifelter Menschennot ausstieß. Dann verstummte er jäh, kauerte sich zu Boden und verharrte so lautlos eine ganze Weile, daß Maechler schon glaubte, der Irre bereite sich in dem Grase sein Nachtlager. Aber unvermutet sah er ihn wieder aufspringen, die ausgebreiteten Arme in die Höhe werfen, und hörte abermals das beschwörende Stöhnen die Abendstille durchschneiden. Vielleicht war das das Abendgebet des Irren. Mit einem langen Schritt riß sich Maechler in den Gang und strebte Wilkau zu, dessen zierlicher Kropfturm schwarz und scharf über die Baummassen des kleinen Wäldchens in den dumpfblauen Abendhimmel stach.
»Warum sind die Menschen weniger in Ordnung wie die Wasserhühner?« fragte sich in immer neuen Denkbildern beim rüstigen Weiterschreiten der Gerber. Jedenfalls, das war sicher, wenn er hier in Preußen von seiner badischen Rebellerei sprach oder gar von seiner Liebesschlacht mit der tollen Paula, dann steckte man ihn mir nichts dir nichts hinter die schwedischen Gardinen oder hielt ihn wenigstens für einen zigeunerischen Landfahrer.
Da klapperten schon seine Stiefel auf dem Katzenkopfpflaster von Wilkau, und rechts und links blinzelte das Licht aus den Fenstern der Häuser, die in schummerigem Verfinstern lagen.
Also stumm und in Ordnung sein wie ein Wasserhuhn, sann Nathanael Maechler noch einmal, und auf einer gut gegerbten Haut durchs Leben fahren. Diesen Vorsatz prägte er sich ein, indem er tiefer in das kleine Städtchen hineinschritt. Und da er von seinen jahrelangen Wanderfahrten die Art dieser winzigen Stadtgewese kannte, daß sie sich vor dem vollkommenen abendlichen Veröden einem kleinen Aufruhr gesteigerter Lebenslust überlassen, achtete er nur mit einer spöttischen Neugier auf die wenigen Fußgänger, die eilig durch das Dunkel an ihm vorübergetrieben wurden. Da und dort klang ein hastiges Mädchenlachen auf. Man rief sich erregt zu, daß nicht mehr viel Zeit sei. Hin und wieder wurde eine Haustür ungeduldig aufgerissen und hinter einem herausbringenden Menschen laut zugeschlagen. Einmal geriet er gar in etwas wie ein kleines Gedränge. Da merkte er, daß das Städtchen nicht bloß in dem gewohnten abendlichen Lebensanfall kochte, sondern wirklich einen großen Tag habe. So ließ er sich lächelnd von der Unruhe die dunkle Gasse, die er betreten hatte, hintreiben und gelangte nach Überwindung einiger unwahrscheinlich enger, vollkommen finsterer Winkelschlünde wohl auf die Hauptstraße von Wilkau, auf der sich ein großer Teil der Bewohnerschaft angesammelt hatte. Aus den Gassen, die in diese wichtigste Verkehrsader des Städtchens mündeten, eilten immer neue Zuläufer, so daß die Menge fortwährend noch anwuchs. Er wurde von dem Gedränge weitergeschoben, bis er wie die anderen eingekeilt nicht mehr bewegt werden konnte. Er überragte die Menge gut um Kopfeslänge und hatte nun Muße, sich umzusehen. Die Straße war platzartig erweitert und die Seite, nach der die Leute mit unausgesetzter Spannung hinsahen, wurde von der Front eines schönen Zweistöckigen Barockschlosses eingenommen. In der Mitte des Baues reichten vier Bogenfenster bis nahe unter das Dach. Sie waren hell erleuchtet. Gedämpfte Musik erklang. Hin und wieder sah man hinter den Gardinen den Schatten von Gestalten vorübergleiten. Das große Tor war weit geöffnet. Lakaien in hellblauer Livree mit roten Aufschlägen und silbernen Knöpfen und Tressen eilten gravitätisch hin und her. Das Volk stand und bestaunte diese Pracht in fast andächtiger Ergriffenheit. Man wagte nur gedämpft, ja flüsternd, sich auf diese und jene Bedeutsamkeit aufmerksam zu machen. Daraus entnahm Maechler, daß in dem Schlosse die Taufe des zweiten Grafensohnes festlich gefeiert werde. Alle Gesichter strahlten förmlich in hingebender Loyalität. Jeder erzählte jedem, was jeder schon wußte, von den zwanzig Kutschen, in denen die Taufgesellschaft in die Kirche gefahren sei, von der Mildtätigkeit des Grafen, der dreißig Arme zu Mittag gespeist und hundert Schulkindern neue Schuhe geschenkt hatte. Grafen aus aller Welt, ja sogar zwei Fürsten seien zu dem Fest angekommen. Maechlers geschärftem Ohr klangen viele dieser Lobhudeleien und Ergebenheitsbeteuerungen nicht ganz echt, und er glaubte in diesem und jenem Gesicht einen bitteren Zug wahrzunehmen. Besonders der feiste Mann, der neben ihm stand, gegen dessen erheblichen Bauch Maechlers Ellbogen immer wieder gedrückt wurde, so daß der Gemästete aus einem mißvergnügten Murmeln gar nicht herauskam und immerfort zornig an seinem verschobenen Hut rückte, schien von geheimer Aufsässigkeit geradezu geladen zu sein. Um ihn zu prüfen, fragte der Gerber nach dem Namen des Grafen, dem dieses Schloß gehöre. Da riß der Dicke den Kopf zu ihm herauf, maß ihn mit geradezu fassungsloser Empörung und antwortete dann mit höhnischem Lachen so laut, daß sich alle nach den beiden umdrehten: »Da seh mir einer den sauberen Musjöh an! Steht in Wilkau vor dem Schlosse des Grafen Schilling, unseres gnädigen Herrn, und fragt, wie er heißt. Sehn Sie sich vor, junger Mann. Ja, ja. Wir Wilkauer spaßen nicht.« Maechler beruhigte den Aufgeregten mit der gelassenen Erklärung, daß er eben zugereist und ohne sein Zutun in diese Versammlung geraten sei. Der Empörte senkte verstockt den Kopf und achtete auf die beherrschten Worte des Gerbers gar nicht. Aber als Nathanael geendet hatte, wurde von einer Hand lobend sein Bein getätschelt. Jedoch der Dicke stand regungslos da und starrte wie vorher verdrossen vor sich hin.
»Wollten Sie noch etwas von mir?« fragte ihn Maechler leise, weil er annahm, die geheime Besänftigung stamme von ihm.
»lassen Sie mich jetzt in Ruhe«, schrie der Gefragte grob, daß die Köpfe der Umstehenden wieder herumflogen.
Maechler lächelte und blickte unbewegt in die Gesichter, die sich betroffen nach ihm gewendet hatten. In allen war nichts als Neugier zu lesen. In allen, bis auf ein einziges. Es war, so viel konnte er in dem ungewissen Schein, der von den hellerleuchteten Bogenfenstern ausging, wahrnehmen, dem Gesicht eines kränklichen, abgehärmten Büßers ähnlich, von einem kurzgehaltenen, fast weißen Vollbart umrahmt, mit einer weit vorgebauten Stirn und dem halboffenen, dünnlippigen Mund Kurzatmiger. Das Merkwürdigste an diesem Duldergesicht aber waren die großen Augen, die mit einer milden Leidenschaft im Blick, gleichsam auflauernd, auf ihn eindrangen. So blieb das Gesicht dieses hohen, knochigen, doch schon verfallenen Mannes ihm noch zugewendet, als die andern sich schon wieder den Vorgängen in dem Schloß zugekehrt hatten, bis es den Bemühungen eines blonden Mädchens an seiner Seite gelang, ihn zu beruhigen und gleich danach sanft aus dem Gedränge fortzuleiten.
Obwohl man aus dem lebhafteren Treiben hinter der Gardine eines der hellerleuchteten Fenster auf die Vorbereitung einer Überraschung durch den Grafen schließen konnte, die Menge deswegen in ein fast vollkommenes Verstummen verfiel und Maechler über das mißfällige Schnauben und ärgerliche Treten und Murmeln des fetten Mannes als Ausdruck seiner Ergebenheit belustigt wurde, begann er doch schonend und möglichst unauffällig, sich aus dem Gedränge zu winden, und atmete erleichtert auf, als er allein an einer Straßenecke stand und hinter dem hohen Dache des Schlosses den roten Lichtbrodem des aufgehenden Mondes in den Himmel steigen sah. Die Straßen waren totenstill, und die Häuserzeilen ruhten verwunschen und zufrieden im Finstern, während über ihre Firste der Schimmer des Mondes traumhaft zu geistern begann und unausgesetzt ganz hoch ein leises Flügeln wie der Vorüberzug großer unsichtbarer Vogelschwärme wehte. Vor und hinter ihm, scheinbar überall, tönte der leise Wellengang verschlafener Gewässer.
Das war wohl kein Ort für ihn. Er kam sich wie aus einem hohen Gestänge abgestürzt vor und fand sich an einer Stelle der Erde, wo die Menschen geruhig vermoderten, mochten sie Feste feiern oder schlafen. Drüben auf dem Bürgersteig ging ein Paar dahin. Das weibliche Wesen in einem Sommerkleid. Der Mann in einem dunklen Anzug, daß man ihn kaum sah. Der weibliche Schritt war schwebend, fast unhörbar, der Gang des Mannes mühsam, nein, widerwillig. »Komm nur, komm! laß gut sein«, hörte Maechler die wohllautende Stimme behutsam und dringend reden. »Ja, ja, hast recht«, hörte Maechler die Antwort des Mannes und vernahm, wie sein Schritt fester und länger wurde, ja, auf einmal so ungestüm, daß das Mädchen, es konnte nur ein Mädchen sein, vergnügt auflachte, nicht hell und keck, sondern merkwürdig verschmitzt, kindlich und doch rätselhaft, und da auf dem nahen Schloßplatz eben ein lautes Schreien und Hochrufen losbrach, begann Maechler den beiden zu folgen, in denen er den Mann, der ihn beim Wortwechsel mit dem Fetten so leidenschaftlich lange angestarrt hatte, und das blonde Mädchen, deren Bemühen es gelungen war, ihn aus dem Gedränge zu führen, erkannte. Nach zehn, zwölf Häuserreihen, vor einer Brücke, sah er die beiden links um die Ecke in ein Sträßlein biegen, das nach dem kleinen Fluß frei war. An der anderen Seite standen durchweg nur einstöckige Häuser hinter schmalen Gartenstreifen. In einem dieser Anwesen verschwanden die beiden. Das Gartentürchen schwirrte zu. Dann war es wieder nachtstill. Nur das Flüßlein gesprächelte ruhig zwischen den Steinen mit seinen Wellen und gluckste dann und wann in den Mauerwacken der Ufer schläfrig auf.
Maechler trat auf die Brücke und sah ein Weilchen auf das Wasser hinunter, das im Mondlichte da und dort aufzuschimmern begann, von einer Hintersinnigkeit benommen, die ihn bewegte und die er doch nicht überschaute, fing er an, durch das Städtchen zu streifen. Ohne Ziel und nur mit der Absicht, irgendwo ein geeignetes Gasthaus zur Unterkunft zu finden, geriet er in ein Gewusel von Gassen, die, kaum begonnen, in immer neue Winkelzüglein sich verwirrten, bis drei, vier solcher winziger Versuche, erschöpft aufatmend, in ein Plätzchen mündeten, das oft nicht größer war, einen breitschattigen Baum zu beherbergen, einem Kreuz oder einer Mariensäule Raum zu gewähren. Da gab es enge Fluchtsteige zwischen den Gärten, die entweder gar keinen Ausgang hatten oder unvermutet vor ein großes langes Haus führten, das sich bemühte, fast ein Schloß darzustellen. Einmal geriet er durch einen Torwinkel in einen baumumstandenen Lauschwinkel, der wie der Vorhof eines Klosters wirkte, und als er einen anderen Ausweg suchte, stand er unversehens auf einem alten Kirchhof mit gemeißelten Grabsteinen in der Mauer. Er klinkte an der Tür der Kirche in einer Versuchung, sich eine Weile drinnen in eine Bank zu setzen, fand die Tür verschlossen und drückte sich eilig durch ein Pförtchen wieder auf die Straße, weil er Schritte nahen hörte. Er verwunderte sich über die vielen Brücken und Laufsteige, die er auf seinem nächtlichen Irrgange passierte, aber ebensosehr darüber, wie oft er sich unvermittelt auf freiem Felde befand, und gab es endlich auf, zu einer deutlichen Vorstellung von der Anlage des Städtchens zu kommen, denn dem Betreten des Schloßplatzes war er in einer Abneigung ausgewichen, die er nicht verstand. »Was weiß ich«, sann er, spöttisch in sich hineinlächelnd, »ich bin eben in Preußen, wonach ich mich so gesehnt habe.« Damit machte er mit seinem trödelnden Umherstreifen ein Ende. Entschlossen ging er eine Straße jenseits des Flüßchens hinunter und steuerte auf eine Laterne zu, die an einem langen Arme ihr Lichtschleierchen in dem Dunkel wiegte.
Es war der Gasthof »Zum grünen Baum«, ein einfaches Einkehrhaus ländlichen Zuschnittes, das er bald darauf betrat und von dem Wirt, der allein hinter einem Tische vor dem einzigen Licht saß, mit höflicher Verlegenheit gemustert wurde, als er die Frage an ihn gerichtet hatte, ob er eine Schlafkammer für diese Nacht bekommen könnte. Seine Papiere wurden eingesehen; der Wirt fragte nach seinem Woher und Wohin, die herbeigerufene Wirtin, eine heitere, umfängliche Frau, beäugte ihn eingehend und lustig, indes sie eilig ihr Mundwerk laufen ließ, und als Maechler lachend beteuerte, er käme allein, ganz ohne heimliche Gäste, war seine Einquartierung unter allgemeinem Gelächter vollzogen.
Er nahm an dem Tische des Wirtes Platz, und während er einen einfachen Imbiß verzehrte und dazu ein Glas dünnen Bieres trank, tröpfelte zwischen beiden ein karges Gespräch hin und wider, denn Nathanael vermochte eine enge Beklommenheit nicht ganz zu überwinden, in die ihn das Streifen durch das Winkelgewirr des Städtchens versetzt hatte, und der Wirt, ein magerer, hinterhältiger Mann, wußte aus dem späten Gast nichts Rechtes zu machen, der wie ein Handwerksbursch aussah und wie ein verkappter Herr wirkte. Doch erfuhr Maechler so viel von dem absichtlich Zugeknöpften, daß Wilkau kein Städtchen, sondern ein Zwitterwesen zwischen Dorf und Stadt, das weder leben noch sterben könne, überdies noch ein Bad sei, allein das nicht anders, als ein Kathner sich auch Bauer nennen könne. Alles liege danieder, Handel, Wandel und Gewerbe, und seit dem »Rummel«, so nannte der Wirt die Revolution, das ganze Preußen krank sei, kämen nur noch Halbtote hierher baden, an denen doch niemand etwas verdienen könne. Und weil Maechler den Mann in der Aufgeregtheit nicht noch unterstützte, sondern zustimmend, aber gleichmütig nickte, sprang der Wirt plötzlich reißend auf und lief leidenschaftlich in der Stube hin und her. Maechler trank sein Bier aus und bezahlte nicht nur das Genossene, sondern im voraus noch das Nachtquartier, und begütigte den bitterlichen Mann mit dem Hinweis, daß gegenwärtig in der ganzen Welt nicht auf Himmelsgeigen gespielt werde. Damit bewegte er sich mit seinen zusammengerafften Sachen nach der Tür hin. Nun ja, ja, sagte der Wirt, böse auflachend, niemand habe es so gut wie ein reisender Handwerksbursch. Wenn's ihm nicht gefalle, wandere er weiter. Wer aber ein Kaluppe, damit meinte er sein Haus, auf dem Halse habe, der müsse die eigenen Finger zwischen die Zähne nehmen, wenn er Fleisch schmecken wolle. Jawohl, so sei es! Mit einem neuen ärgerlichen Lachstoß vor sich hin, aber nun über seinen eigenen Witz, verschwand der Mann in der Küche und erschien bald wieder mit einem brennenden Unschlittlichte, mit dem er Maechler zwei Treppen hinauf in seine Kammer leuchtete. Während sie die steilen Holzstiegen emporkletterten, spottete der Gallige über den Grafenfimmel der Wilkauer und machte sich lustig über die vielen Männer in Weiberröcken. Aber, Gott sei Dank, gebe es noch eine andere Sorte, die aber freilich jetzt mit den Schafen bäh schreien müsse. Und wenn es heute Nacht etwa ein bißchen laut zugehen sollte, so müsse er eben die Decke über die Ohren ziehen. Die letzten Worte, die, wie alles andere von ihm, leise gesprochen wurden, redete er schon in der Kammer, übergab dem Gerber mit der Mahnung zur Vorsicht das Licht und verschwand mit kurzem Gruß.
Maechler untersuchte das Bett und fand es sauber und gut.
Bald lag er in die Decke eingewickelt im Finstern und ließ den ganzen Tag an sich vorübergleiten, der eigentlich wie ein Spuk wirkte. Wo war eigentlich das Glück, das er von Preußen erwartet hatte? Jedenfalls in Wilkau würde er nicht baden. Damit drehte er sich lächelnd zum Schlaf auf die Seite. Bald fing es wieder an, hoch über ihm zu flügeln, und leichtes Wellengesause war rund um ihn in allen Weiten. Er selbst aber tappte in einem Häusergewirr und fand keinen Ausweg. Ein bösartiges Weib, das niemand anderes als Paula war, schleppte fortwährend Ballen Finsternis herbei, um ihn vollends einzumauern, trotzdem eine hohe Stimme unausgesetzt psalmodierte: »Das ganze Land wartet auf dich«, und aus ganz weiter Ferne ein schönes Mädchenlachen tönte, aber so hauchleise, daß es nicht mit den Ohren, sondern mit seinen Brustwarzen zu hören war.
Da fuhr es ihn schon mitten im Traum davon.