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VI.

Das Winterhalbjahr brachte Nettchens höchstes Glück und Herzeleid, wie es der Liebe auf Erden stets beschert wird. Bis tief in den Herbst hinein glich ihr Dasein einem Rosengarten, in dem sie sich die schönsten Blüten pflücken konnte.

Sie litt nicht mehr unter dem engen, häßlichen Hinterzimmer mit der trüben Aussicht auf einen lichtlosen Hof, in dem sie den größten Teil des Tages als Lehrling der Schneiderin Frau Löffler mit vier Kolleginnen zubrachte. Die sonst gefürchteten Fahrten in den vollgestopften Straßenbahnen waren jetzt ein Vergnügen, weil sie so angenehme, frohe Gedanken hatte, denen sie nachhängen konnte. Sie kümmerte sich auch nicht mehr um die Geringschätzung der Kolleginnen, weil sie nicht über Liebhaber und Kleider mit ihnen reden mochte. Das Stübchen, vier Treppen hoch, Ecke Acker- und Invalidenstraße, lag nicht mehr wie ein Alb auf ihrer Seele, im Gegenteil, es lockte sie wie ein heimlicher Winkel des Glücks, denn das frohe Lachen und die helle Stimme, die oft in seinen Wänden hörbar wurden, blieben immer gegenwärtig und erfüllten es mit Licht und Leben.

Und nun das Lähmende und Bedrückende des ersten Heimwehs überwunden war, machte ihr auch die Arbeit wieder Freude, denn sie gehörte von Natur zu den bienenfleißigen Leuten, denen Tätigkeit und Schaffen Bedürfnis ist. Das hatte Frau Löffler bald erkannt und wußte sie zu schätzen. Frau Löffler besaß Geschäftsgeist und die nötige Initiative für ihren Beruf. Sie hatte nach vorn heraus ein kleines Schaufenster, in dem immer irgendeine reizvolle Toilette ausgestellt war, nebst einigen graziös hergerichteten Kleinigkeiten. Darüber ein Schild: Modes de Paris. Jeannette Lafleur. Das zog die Damen vom Theater, von den Kabaretts und Lichtspieldarstellungen ungeheuer an.

Die sogenannte Jeannette Lafleur hatte Ursache, ihren Verstand und alle ihre Kräfte zusammenzunehmen, um Geld im großen Stil zu verdienen, weil sie ein sehr kostbares Steckenpferd besaß, das war ihr Mann. Er nannte sich »Architekt Löffler«, aber seine Berufstätigkeit hatte noch niemand ergründet, sie blieb im Dunkel der Verborgenheit. Einstweilen deckte er seinen Arbeitsbedarf mit dem Ausschreiben der Rechnungen für seine Frau. Fünf Jahre jünger als sie, und ein sogenannter »Beau«, mußte er hervorragend ernährt und gepflegt werden, um bei guter Laune zu bleiben. Dazu gehörten außerdem Theaterbillette, Kinobesuche, Pferderennen und Weinlokale; auch erzählten sich die Lehrlinge im Hinterzimmer kichernd mit boshaften Ausfällen gegen seine Frau, die für Nettchen unverständlich blieben, daß er in den Amorsälen und im Palais de Danse gesehen worden sei. Aber Jeannette Lafleur wußte nichts davon oder wollte es nicht wissen, sie blieb ihm gegenüber von unbegrenzter Freigebigkeit und Zärtlichkeit, während sie selbst hart arbeitete und sich oft das Notwendige versagte.

Zwar konnte Ernst Starkeband nur am Sonnabend nach Arbeitsschluß und am Sonntag zu Nettchen kommen, doch das genügte, um die ganze Woche hindurch vergnügt zu sein. Ausnahmsweise ließ er sich auch in der Woche blicken, wenn er sich so müde gearbeitet, daß er eines Erholungsabends bedurfte. Solange die Jahreszeit und das Wetter es erlaubten, lag er dann in dem Klappstuhl in Nettchens Dachlaube, und sie plauderten oder lasen zusammen. Er brachte Nettchen Bücher, denn ihr Wissenshunger und ihr Drang, sich fortzubilden, war unersättlich.

»Woher hast du das, du kleines Dorfmädchen?« fragte er zuweilen verwundert, wenn sie Haeckels Schöpfungsgeschichte, Bölsche, Goethe und Ibsen verschlang und mit ihm über Maeterlinck und [Zola] debattierte.

»Ich glaube von Vater, du weißt, er war unglücklich, daß er nicht auf die Universität konnte, aber Großvater starb früh, seine Mutter blieb mit acht Kindern zurück und hatte nicht die Mittel dazu,« erklärte sie in ihrer schlichten Weise.

Selbstverständlich wurde sie bald Ernsts Vertraute. Sie erfuhr alles, was sein Herz bewegte, und dazu gehörte sein Groll gegen die alten, verstorbenen Ramins, weil sie seine Mutter unglücklich gemacht durch die aufgezwungene Heirat mit dem Kutscher Starkeband, sein eigener Zweifel an seiner Herkunft und sein Schmerz, nicht der Erbe von Kerkow zu sein.

Nettchen redete ihm gut zu, den Rat seines Pflegevaters zu befolgen und sich das alles aus dem Sinn zu schlagen, sie sprach klug und verständig, wie große Ursache er habe, mit seinem Schicksal zufrieden zu sein, aber dann kam das Bekenntnis, daß er Edith von Ramin anbete und als Herr auf Kerkow ganz andere Zukunftsaussichten haben würde wie als Inspektor, der kaum die Augen zu ihr erheben dürfe.

Dieses Geständnis regte Nettchen seltsam auf, es tat ihr eigentümlich weh mit einem scharfen, fast unerträglichen Schmerz, und doch war sie stolz, die Vertraute und Mitwisserin seines Geheimnisses zu sein, weil sie ihm dadurch von allen Menschen am nächsten stand. Einen ganzen Abend lang sprachen sie von den alten, vergangenen Geschichten, und Ernst kramte seine Kindheitserinnerungen aus, es tat ihm ungeheuer wohl, von der geliebten Mutter reden zu können. Noch nie hatte jemand ein so tiefes, warmes Verständnis dafür gehabt wie Nettchen. Und nun konnte er auch von Edith zu ihr reden, das bedeutete einen großen Genuß.

Das arme Nettchen wurde nun unablässig mit Ediths Reizen und Vorzügen unterhalten, was für eine entzückende, kleine Königin sie sei und wie berauschend ihre Vornehmheit auf ihn wirke.

Er hatte eine Momentaufnahme von ihr, die Horst gemacht, und ein Gruppenbild, auf dem sie alle zusammen im Kornfeld lagerten, und Nettchen sah, daß er diese kleinen Filme immer in einem Lederetui auf dem Herzen trug.

Doch sie selbst regte ihn zu diesen Gesprächen an, es war, als könne sie gar nicht genug davon hören, sie wußte ja, es machte ihm Freude. Schließlich gewöhnte sie sich daran, denn diese Schwärmerei glich doch mehr einem Phantom und galt etwas Unerreichbarem, sie selbst aber hatte ihn in lebensvoller Wirklichkeit. Und sie fühlte mit tiefer Befriedigung, daß sie ihm immer unentbehrlicher wurde.

Für einen Sonntag nachmittag hatte Claus von Dahlwitz ihn nach Potsdam eingeladen. Ernst ging nicht gern, denn er hatte eine instinktive Abneigung gegen Mutter und Sohn, aber er konnte es nicht gut abschlagen. Man nahm ihn liebenswürdig auf, ganz unter sich; er fand eine hochelegante kleine Wohnung im vornehmsten Viertel, und der Haushalt wurde im besten Stil geführt. Es mutete ihn jedoch seltsam an, in dem üppig ausgestatteten Privatzimmer von Claus eine ganze Galerie auffallender Damen in Steh- und Sammelrahmen zu sehen, die nicht gerade zu seiner Familie und zu seinen Standesgenossen zählen konnten, sondern ihr Metier erkennbar verrieten. Er war sehr erstaunt, daß die Generalin eine solche Ausstellung in ihrem Heim duldete, denn unter diesen eindeutigen Damen befanden sich noch Bilder von stark erotischem Charakter mit vorherrschenden Nuditäten.

Beim Kaffee in einem reizenden Glaserker, der mit Palmen und blühenden Topfpflanzen einem kleinen Wintergarten glich, würdigte Frau von Dahlwitz ihren Gast des Vertrauens durch Mitteilung intimster Familienangelegenheiten. Er erfuhr zu seiner Verwunderung, daß ihr Sohn eigentlich der rechtmäßige Herr auf Schönermark sei und daß Tante Claudine durch Beeinflussung ihres von Krankheit geschwächten Vaters ihren Gatten, den damaligen Oberst, testamentarisch benachteiligen und sich selbst bevorzugen ließ. Sie habe es durchgesetzt, daß ihm längst verjährte Schulden wieder angerechnet wurden, die der Vater früher, unter Einwirkung der damals noch lebenden Mutter, gestrichen und annulliert gehabt. Und diese Schulden wären durch ungenügende Zulage in dem Garderegiment nicht zu vermeiden gewesen, während seine Schwester bei den Eltern das große Herrenleben umsonst gehabt, und noch die schönsten Reisen mit ihnen in Bäder und Kurorte gemacht, wofür ihr nichts angerechnet wurde. Auf diese Weise sei Schönermark durch Intrige in ihre Hände gekommen und der General, ihr verstorbener Gatte, sei leider nicht dafür zu haben gewesen, das Testament anzufechten und ihr den Prozeß zu machen. Aus Familienrücksichten, um Skandal zu vermeiden, zog er vor, zu verzichten, trotz ihrer flehentlichen Bitten um des Sohnes willen den Kampf aufzunehmen, was sie ihm nie verzeihen könne. Daß er ihr damit ein Leben der Entsagung und Einschränkung auferlege, sei nicht in Betracht gekommen. Und nun wäre Claus von der Gnade seiner Tante abhängig in bezug auf die Erbschaft, was sie ihn stets fühlen lasse. Er sei zwar unbestreitbar der einzige rechtmäßige Erbe von Schönermark, doch es wäre gut und wünschenswert, daß dieses Recht durch Stiftung eines Familienmajorats sichergestellt würde, denn dann könne es ihm niemand streitig machen.

»Mama, wozu das alles?« fiel Claus ungeduldig ein. »Es kann Herrn Starkeband kaum interessieren.«

»Ich habe eine bestimmte Absicht, lieber Junge, wenn ich deinen Freund in mein Vertrauen ziehe,« entgegnete Frau von Dahlwitz mit einem huldvollen Lächeln für Ernst, indem sie ihm Pflaumentorte mit Schlagsahne auf den Teller häufte und seine kostbare Meißner Tasse von neuem mit dem stark duftenden Kaffee füllte.

»Sein Pflegevater, der auch von mir sehr verehrte Herr Pastor Wegerich, ist der nächste Freund und Beichtvater meiner Schwägerin. Er besitzt wohl von allen Menschen den größten Einfluß auf sie. Nun wollte ich Herrn Starkeband bitten, mit ihm zu reden und ihm einen Brief von mir zu überbringen, der um seine Vermittlung in dieser Majoratssache bittet. Natürlich darf Tante Claudine nicht ahnen, daß es von mir ausgeht. Er soll nur langsam und allmählich darauf hinwirken, ihr die Stiftung nahezulegen und sie zu überzeugen, wie ungeheuer wichtig für die Erhaltung des Familienprestiges eine solche sei. Da sie sehr viel Familienbewußtsein besitzt, zweifle ich kaum daran, daß sie dafür zu haben wäre bei richtiger Vorstellung.«

Und dann wandte sich die Generalin wieder mit gewinnender Freundlichkeit an Ernst.

»Nun, wie denken Sie darüber? Wollen Sie mir den Gefallen tun und bei Ihrem Herrn Pflegevater dahin wirken?«

Ernst verneigte sich zustimmend.

»Ich werde jedenfalls mit Onkel darüber reden, ihm alles sagen, was gnädige Frau mir mitteilten, und den Brief überbringen.«

Im Grunde seines Herzens aber berührte ihn die ganze Sache sehr unangenehm, darum fiel auch der Ton seiner Antwort kühl und zurückhaltend aus. Er verehrte Fräulein von Dahlwitz mit großer Wärme und wußte, daß sie allgemein geachtet wurde, die Beschuldigungen der Generalin erschienen ihm unglaubhaft und empörend. Aber sie fuhr fort, ihn mit Liebenswürdigkeit förmlich einzuwickeln, und da sie sich von früheren Reizen noch einen gewissen Zauber bewahrt hatte und sehr unwiderstehlich sein konnte, wenn sie wollte, blieb es nicht ohne Eindruck auf ihn. Er dachte, daß sie doch sehr nett sei und man müsse mildernde Umstände gelten lassen. Es sei wohl nur die Liebe zu ihrem Sohn, die sie ungerecht gegen ihre Schwägerin mache.

Claus nahm ihn noch an demselben Abend mit zu einer Bierreise durch Berlin.


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