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Am folgenden Tage machte Fräulein Claudine mit ihrem Neffen einen Besuch bei den Ramins auf Kerkow, mit denen sie auf freundschaftlichem Fuß stand. Der Verkehr beschränkte sich zwar auf einige festliche Gelegenheiten im Jahr, denn sie war eine einsame Frau geworden und ging wenig aus, doch sie wollte Claus der sehr geschätzten Familie näherbringen. Sie hatte ihre Hintergedanken dabei. Es gab für ihre Wünsche keine passendere Partie für Claus als die Nachbarstochter Edith, für die sie stets eine erklärte Vorliebe gehabt. Jetzt war es allerdings noch zu früh, um feste Pläne zu machen, aber sie hielt es für wünschenswert, daß er sich mit den Ramins anfreundete, mit denen er bis zur Zeit nur flüchtig bekannt gewesen. Sein vor Jahresfrist verstorbener Vater hatte als General in den Reichslanden gestanden, und seine verwöhnte Mutter pflegte die ungeliebte Schwägerin und das Dorfleben von Schönermark zu meiden. Erst nach dem Tode des Bruders nahm sich Claudine des Neffen energisch an, sie wußte, daß die Mutter ungeeignet war, den Vater zu ersetzen, weil ihr Einfluß durch übergroße Schwäche gegen das einzige Kind stets verhängnisvoll gewesen. Jetzt, wo die Witwe sich nach ihren Begriffen unerhört einschränken mußte, war sie froh, daß die Schwägerin ihr den größten Teil der Lasten für den Unterhalt des Sohnes abnahm. Und wenn Claudine dafür mütterliche Rechte forderte, so mußten sie ihr als Erbtante zugebilligt werden, wenn man auch hinter ihrem Rücken schimpfte, sich beklagte und die »alte Jungfer« lächerlich machte. Die Generalin verzieh es ihr nicht, daß sie in den Besitz des Familiengutes gekommen, weil der Bruder es nicht übernehmen konnte, da der größte Teil seines Erbes bereits für seine Schulden daraufgegangen war. In ihren Augen blieb es eine empörende Ungerechtigkeit und unerhörte Benachteiligung ihres Gatten, wofür sie erdichtete Gründe und Beweise stets zur Hand hatte. Claus hatte von Kindheit an nie etwas anderes als gehässige und geringschätzige Urteile über die Tante von seiner Mutter gehört, und auch sein Vater mißgönnte ihr den Besitz von Schönermark, darum besaß er als notwendige Folge wenig Liebe und keine hohe Meinung von ihr. Seitdem die Generalin von ihrer Witwenpension leben mußte, wurden ihre Angriffe gegen Claudine noch maßloser. Sie beliebte dem Sohn unausgesetzt einzureden, daß er der rechtmäßige Besitzer von Schönermark sei und daß die Tante ihn mit List und Intrigen entrechtet habe. Ihre Phantasie erfand ganze Romane als Beweisführung für ihre Behauptungen, und wenn Claus auch sonst wenig Vertrauen in die Urteilskraft seiner Mutter hatte, so gefiel er sich doch in der Rolle, die sie ihm andichtete, viel zu gut, um ihr nicht Glauben schenken zu wollen.
Man wurde in Kerkow sehr freundlich aufgenommen, es war ein gastliches, angenehmes Haus mit seinem glücklichen, blühenden Familienkreis. Herr und Frau von Ramin waren zwar nur Durchschnittsmenschen und etwas einseitige Agrarier, doch sie besaßen den seltenen Vorzug, sich ein herzliches, liebevolles Verhältnis aus den ersten Ehejahren dauernd erhalten zu haben. Das gab ihren Kindern Sonne und Wärme, um fröhlich zu gedeihen, und erfüllte die ganze Atmosphäre des Hauses mit reiner, gesunder Luft und verbreitete ein Behagen, in dem sich jeder wohlfühlte.
So traf man auch heute, weil es Sonntag war, einen Kreis von Gästen dort, Nachbarsfamilien und einige Offiziere aus der nächsten Garnison. Man saß auf dem Gartenaltan des Herrenhauses bei Kaffee und Kuchen in lebhafter, angeregter Unterhaltung.
Es fehlte auch in diesem ländlichen Zirkel nicht die Frau, die von den Männern gesucht und von den Damen nicht gern gesehen wird, eine etwas auffallende, kokette Frau Rittmeister von Schütz, eine Erbin aus der Schwerindustrie, deren Umgangston und Sitten nicht ganz mit den herrschenden der Gegend übereinstimmten.
Claus erkannte auf den ersten Blick, daß diese Dame die einzige von den anwesenden sei, die sich für ihn der Mühe verlohnte und den Nachmittag retten konnte. Auch stachelte ihn ein letzter heimlicher Rest von Ärger, Tante Claudine zu zeigen, daß er nicht der grüne Junge sei, den man nicht ernsthaft nähme. In kürzester Zeit hatte er einen heftigen Flirt mit der schneidigen Lolo von Schütz im Gange, der jeder Anbeter recht war, um sich selbst in Szene zu setzen und ihre Reize spielen zu lassen.
Edith, die eine Altersgenossin aus der Nachbarschaft als Besuch hatte, wurde von ihm nicht beachtet, es war unter seiner Würde, sich mit »höheren Töchtern« abzugeben.
Zu Tante Claudinens Genugtuung erschien Horst, der älteste Sohn und Heidelberger Korpsstudent, mit Ernst Starkeband zum Kaffee. Er hatte von jeher eine Vorliebe für den Kindheitsgenossen, mit dem er Schulferienerinnerungen teilte und der für ihn stets der Schönermarker Pastorsohn gewesen. Etwas anderes wußte er kaum, seinen Eltern lag nichts daran, die Geschichte von Ernsts Herkunft, die mit ihrer Familie in nicht erfreulichen Zusammenhang gebracht wurde, zu verewigen. Sie wurde von ihnen als Klatsch angesehen und totgeschwiegen.
Die beiden jungen Leute, Horst und Ernst, hatten heute eine gemeinsame Fußtour in die weitere Umgebung gemacht, die schon am frühen Morgen begann. Sie kamen frisch und heiter von ihrer Wanderung zurück, den gesunden, reinen Hauch des freien Landes an ihren kräftigen, blühenden Gestalten.
Lolo von Schütz, die selbst noch sehr jung war, hatte verlangende Blicke für sie und hätte sie gern als Vorspann an ihrem Triumphwagen gesehen, doch sie fand keine Gegenliebe. An dem Kaffeetischchen der Backfische, in einer gesonderten Laubenecke, ging es so lustig zu, und es lag den beiden Kameraden viel besser, diesen harmlosen Übermut zu teilen und ihn mit Scherz und Neckereien zu steigern, als junge, leichtfertige Ehefrauen zu gewagten Liebeleien zu verführen.
Claus hingegen wich nicht mehr von Lolos Seite, er gefiel sich ungeheuer in der Rolle des gewagten Schwerenöters, und die pikante Würze, die sie ihrem Umgangston mit Männern zu geben wußte, war ganz nach seinem Geschmack. Später beim Tennisspiel und bei einem Rundgang durch den weitläufigen Park war er ihr Partner und Begleiter, er führte sie auf versteckten Wegen in die entlegensten Gegenden, und beide verschwanden zeitweise ganz aus den Augen der übrigen Gesellschaft. Mit souveräner Geringschätzung gegen herrschende Sitten und die Kritik der tonangebenden Damen gab sich Lolo ihrem zwanglosen Vergnügen hin, während ihr Gatte am Skattisch im Kreise der Raucher ebenso unbekümmert seiner Vorliebe für Kartenspiel und Erdbeerbowle frönte.
Ernst Starkeband stand ganz im Bann zweier tiefblauer Kinderaugen, eingesponnen in ein Netz von Strahlen, die aus einem goldenen Mädchenhaar flimmerten. Trotz ihrer Kindlichkeit zeigte Edith bereits die Anlage zu dem Stil der künftigen großen Dame, und der kecke Übermut ihres Frohsinns blieb stets in den Grenzen einer allerliebsten mädchenhaften Würde, die ihrer lieblichen, rassigen Erscheinung einen süßen Reiz verlieh. Von ihrem Vater verwöhnt und bevorzugt, war sie im Familienkreis die kleine regierende Königin, und damit verlängerte und verwirklichte sie das Frauenideal, das Ernst unbewußt im Herzen getragen. Als echte Evastochter fühlte und wußte sie sofort, welche Wirkung sie auf ihn ausübte, auf das noch ganz unberührte, jugendstarke und reine Empfinden dieser knabenhaften Jünglingsseele. Und da sie nun gerade in dem gefährlichen Alter war, wo die kleinen Mädchen zitternd vor Neugier auf der Schwelle zum Leben, vor der noch verschlossenen Pforte zum Königreich des Weibes stehen, lockte es sie unwiderstehlich, verstohlen durch den Spalt zu spähen, der sich hier auftat.
Es war immerhin ein großes Vergnügen, von einem jungen Mann wie eine erwachsene Dame behandelt zu werden, trotzdem man noch ein Schulmädchen war und sonst nicht für voll genommen wurde. Außerdem gefiel er ihr ausnehmend mit seinem hübschen, bronzefarbenen Gesicht, den zärtlichen, leuchtenden Braunaugen, – beides von seiner Mutter geerbt – und dem Wuchs eines Athleten, dem Kraft und Gesundheit aus allen Poren sprühte.
In der freien und reinen Landluft, der das aufreizende Kontagion jeder Art von Sinnenkitzel völlig fehlt, bei fröhlichem Spiel und Sport, blieb das aufkeimende Wohlgefallen beider aneinander in harmlosen Grenzen. Man war nur ganz besonders vergnügt und übermütig, als hätte die wunderschöne Welt plötzlich einen erhöhten, neuen Glanz und Schimmer bekommen.
Als die Schönermarker im Sternenschein in offener Kalesche heimwärts fuhren, war Tante Claude so verstimmt, daß sie kein Wort mit ihren beiden Schützlingen sprach, während Claus unbekümmert, noch unter der angenehmen Wirkung von Erdbeerbowle und heißem Flirt, ein Großstadtcouplet nach dem anderen summte. Zu Hause, unter vier Augen mit ihrem Neffen, entlud sich ihr aufgespeicherter Zorn über sein schuldiges Haupt, denn sie war schwer geärgert über die Art, wie er sich bei den Ramins eingeführt.
»Du hast heute einen Mangel an Takt bewiesen, den ich dir nicht zugetraut!« fuhr sie ihn an. »Ist das eine Art für einen so jungen Menschen, wie du bist, sich bei seinem ersten Auftreten in einem Kreis wie dem unseren, in einer solchen Weise auffällig zu machen? Geschämt habe ich mich, denn abgesehen von der Unzulässigkeit einer derartigen Liebelei mit einer Ehefrau, ist deine Vorliebe für ausgerechnet diese Person ein bedenkliches Zeugnis für deinen Geschmack und damit für deinen Charakter. Man muß sie ihres Mannes wegen dulden, aber sie wird nicht gern gesehen und ist bei den Damen völlig unten durch. Natürlich war man zu rücksichtsvoll, mich dein Benehmen fühlen zu lassen, doch man ignorierte dich so viel als möglich, und niemand hat mir ein freundliches Wort über dich gesagt.«
Claus stand bei dieser Strafpredigt wie mit kaltem Wasser begossen. Ach, daß man der lächerlichen, alten Jungfer jetzt den Krempel vor die Füße werfen könnte und sie verhöhnen, wie sie es verdiente! Er schluckte schwer an seiner aufsteigenden Wut.
»Ich bin trostlos, angebetetes Tantchen, dein Mißfallen erregt zu haben, ich ahnte wirklich nicht, daß man in euren angenehmen Kreisen auf dem Niveau der höheren Töchterschule stehen bleibt. Mir erschien Frau von Schütz als eine tadellos liebenswürdige Dame, und wie konnte ich wissen, daß sie unter euch verfemt ist, weil sie andere Interessen hat als Früchte einkochen und Lokalgeschichten.«
Jetzt wurde Tante Claudine energisch. Er bekam einen eindringlichen Vortrag über das »Noblesse oblige« der Dame und ihr Niveau, wie über die Pflichten des jungen Mannes in einem durch Tradition fest umgrenzten, bevorzugten Gesellschaftskreis.
»Frau von Schütz wollte morgen nachmittag in ihrem Dogcart herüberkommen, um mich zu einem Ausflug nach dem Wublitzer See abzuholen,« gestand Claus notgezwungen.
Das schlug dem Faß den Boden aus.
»Mit meiner Erlaubnis wird das nicht geschehen. Die schamlose Person liebt es, das Freibad dort in Herrengesellschaft aufzusuchen und mit ihnen Schwimmpartien im See zu unternehmen. Ich und mein Haus sind nicht dazu da, um solche Abenteuer zu begünstigen, und meine Gäste haben sich nach meinen Sitten zu richten,« erklärte sie mit starkem Nachdruck.
»Was soll ich tun? Soll ich mich lächerlich machen und den keuschen Joseph spielen?« fragte Claus schwer gereizt, denn er hatte sich ungeheuer auf diese Schwimmpartie gefreut. Es war empörend, sich wie ein Schuljunge solch ein Vergnügen verbieten zu lassen!
Tante Claudine antwortete nicht gleich, sie überlegte, auf welche Art hier einzugreifen sei.
»Diese Sache muß im Keim erstickt werden,« erklärte sie endlich in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Du wirst gleich morgen der Dame abtelegraphieren und ihr mitteilen, du habest plötzlich abreisen müssen. Ich schicke dich nach Braunlage in den Harz in ein mir bekanntes Logis, von wo aus du Harzwanderungen unternehmen kannst. Vielleicht komme ich später, wenn der wichtigste Teil der Ernte vorbei ist, nach.«
Und dabei blieb es. Tante Claudine verstand in gewissen Dingen keinen Spaß, und dazu gehörten ihre Hoheitsrechte im eigenen Hause. Claus mußte am folgenden Morgen packen und wurde nach der Bahn befördert, wo er knirschend vor Zorn gezwungen war, das Telegramm selbst aufzugeben. Unter jeder anderen Bedingung wäre ihm der Tausch von Schönermark gegen Braunslage hochwillkommen gewesen, doch die verführerische Lolo hatte seine Sinne bis zur Siedehitze entzündet, jeder andere Genuß verblaßte neben der Vorstellung ihrer Gunst und der Seligkeiten, die seiner im Wublitzer See warteten mit den weiteren berauschenden Konsequenzen. Wenn er Tante Claudine nie sonderlich geliebt, jetzt haßte er sie mit dem erniedrigenden Haß des Abhängigen, dem die Knechtschaft mit Wohltaten bezahlt wird. Die wohlgefüllte Börse in seiner Tasche zog ihn wie ein Bleigewicht in die Tiefe der Charakterlosigkeit.
Für Ernst Starkeband kamen glückliche Wochen. Horst von Ramin fand so großen Gefallen an seinem Umgang, daß er täglich seine Gesellschaft suchte und jede seiner freien Stunden und seine Feiertage in Anspruch nahm. Und weil die Erntearbeit den jungen Eleven stark beschäftigte, suchte er ihn häufig auf dem Felde auf und teilte seine Tätigkeit.
»Als künftigem Besitzer von Kerkow kann es mir nicht schaden, wenn ich von dir und mit dir lerne,« sagte er.
Es kam vor, daß die Freunde im fröhlichen Wettstreit ihrer Kräfte die Sensen schwangen, den Arbeitern vorauf, daß sie halfen Kornfuhren laden oder die Forken gebrauchten, um schwere Garbenbünde zu mächtigen Schobern aufzuschichten. Und gemeinsam beaufsichtigten und leiteten sie den großen Betrieb auf den weiten Feldmarken. Und dann lagen sie in gesunder, wonniger Ermüdung unter den Brombeersträuchern auf den Grabenrainen und teilten ihr Frühstück und ihr Vesper, zuweilen auch das Mittagbrot, wenn sie den ganzen Tag draußen blieben.
Tante Claudine hatte ihre Freude an diesem Verkehr, besonders als sie merkte, daß Ernst nicht der Untergeordnete, sondern der Leitende war, der seinen Kameraden beeinflußte und geistig anregte.
Zuweilen kam Edith in ihrem Ponywagen, um dem Bruder, an dem sie mit großer Liebe hing, selbst seine Mahlzeiten zu bringen. Und die guten Dinge, die sie aus Körben und Schüsseln packte, waren immer für Ernst mitberechnet. Da gab es herrliche Bierkalteschale auf Eis mit kaltem Braten und Butterbroten, wie auch wundervollen Kaffee mit Erntekuchen.
Es war allerliebst, wie sie die gütige Fee spielte, die gute Gaben austeilt, und zugleich als geborene Herrin ihren kleinen Groom kommandierte, der ein Tischtuch auf dem Grabenbord ausbreiten und alles zierlich ordnen mußte wie auf einer herrschaftlichen Tafel. Und wenn sie präsidierte beim fröhlichen Mahl, dann zeigte sich in lieblichster Weise die Anlage zur mütterlich sorgenden Hausfrau.
Zur Belohnung verlangte sie nach aufgehobener Tafel, wenn sie alle drei satt und befriedigt im Grase lagerten, daß Ernst seine Sagen und Märchen aus den Kornfeldern und der Umgegend erzählte, die bis zum Dreißigjährigen Krieg und weiter, bis in das mystische Dunkel zurückgingen, wo die Nornen unter dem Weltenbaum am Born der Ewigkeiten spannen. Er hatte sie alle von Nettchen, und wenn er damit zu Ende war, erfand er einige dazu, um die blauen Kinderaugen, die ganz schwarz und groß wurden vor gruseligem Entzücken, noch länger an sich zu fesseln.
Um sie her raunten und wisperten in diesen Glücksstunden die schwerreifen, todgeweihten Halme, in langen silbrig flimmernden Wellen auf und ab flutend, aus denen die Sonnenglut den starken Odem des Brotgeruchs lockte. Über ihnen die uferlose Weite des Flachlandhimmels, wie aus weißglühendem, blitzendem Metall – das unenträtselte Geheimnis des Erdendaseins und das Reich seiner Sehnsucht.
Doch es gab einen Preis, den Ernst für das sonst vollkommene Vergnügen dieser Ferienwochen zahlen mußte, wie jedes Licht seinen Schatten hat, das war die Vernachlässigung seiner Freunde Echtermanns, für die der Verkehr mit den Ramins neben seiner angestrengten Tätigkeit ihm keine Zeit übrig ließ. Zuweilen regte es sich wie ein leiser Selbstvorwurf in seiner Seele, denn er hatte ein weiches Herz und kränkte niemand gern, doch sein fröhlicher, dem Angenehmen und der Freude zugewandter Sinn verdrängte die Regung. Der süße Trank der Jugendlust, den ihm das Leben bot, ließ kaum ein Bedauern aufkommen. Auch fühlte er kein Unrecht, denn im Herzen blieb er den Freunden treu. Aber Hugo Echtermann besaß nicht die Lebensweisheit, um den scheinbar Treulosen zu verstehen.
»Herrenknecht!« schalt er ihn verächtlich, und er fügte hinzu: »Jetzt zweifle ich nicht mehr daran, daß er das Blut dieses adligen Raubgesindels in sich hat!«
Das tat Nettchen bitter weh. Er hatte ihr in seinem Zorn alles mitgeteilt, was der Dorfklatsch über Ernsts Herkunft sagte, aber es zeigte sich, daß sie längst davon gehört und daß es keinen neuen Eindruck auf sie machte. Ja, es war vielleicht die erste Ursache gewesen, ihr mitleidiges Herz für den Verwaisten zu erwärmen. Doch als sie ihn jetzt verteidigen wollte, kam sie schlecht bei ihrem Bruder an.
»Ihr Weiber habt ja kein Ehrgefühl, weil ihr gewöhnt seid, als Minderwertige behandelt zu werden. Für euch ist noch lange gut, was wir Männer uns nicht gefallen lassen können,« höhnte er. Und das arme Nettchen mußte schweigen.
Nun kam sie sich selbst recht minderwertig vor, als sie am folgenden Sonntag vormittag von ihrem Kammerfenster aus eine kleine Kavalkade die Dorfstraße daherkommen sah und mit hochklopfendem Herzen Ernst Starkeband mit Horst und Edith erblickte. Edith ritt ihren Doppelpony zwischen ihm und dem Bruder, sie sah lieblich und fast erwachsen aus in dem dunkelblauen Reitkleid, und wie lustig alle drei plauderten und lachten! Nein, nicht wie ein Herrenknecht, sondern völlig gleichberechtigt erschien Ernst, und wie hübsch er im Sattel aussah mit der freien, kecken Haltung und dem strahlend frohen Gesicht! Mit schmerzlichem Neid, der jedoch nichts Böses, Häßliches an sich hatte, sah Nettchen, wie sorgsam er Edith behütete. Er bog jeden Zweig und jedes Blatt der alten Kastanien, die sie auch nur leicht hätten streifen können, zurück, und als ihr Pony vor einem rasselnden Kinderwagen scheuen wollte, griff er sofort nach ihrem Zügel, trotzdem sie es nicht leiden wollte.
Regungslos stand Nettchen und schaute den Reitern nach, bis ihr letzter Schatten in der sonnenvergoldeten Staubwolke verschwunden war. Lange noch hatte sie ein helles Lachen im Ohr, das sie gut kannte, aber noch nie hatte es so froh und jubelnd geklungen. Und sie hatte ein zärtliches Gefühl für das Kind mit dem goldenen Haar und der Miene einer kleinen Königin, doch es brannte in ihrer Seele wie ein Schmerz.
Am folgenden Abend, als Ernst vom Felde verspätet die Dorfstraße daherkam, stand Nettchen am Zaun des Küstergartens und winkte ihm. Schon dämmerte die silbergraue Sommernacht, und der Mond hing rosenrot wie ein Lampion über den Himbeerbüschen.
»Nettchen,« sagte er, als er grüßend an den Zaun trat, mit einem leichten Erröten der Verlegenheit, »die Ernte hat mich so in Anspruch genommen, mir blieb keine Zeit für Euch.«
Nettchen machte eine leichte ablehnende Bewegung mit der Hand, als wolle sie sagen: laß nur, ich weiß schon. Und sie lächelte freundlich dazu.
»Ich rief dich, um dir Lebewohl zu sagen, denn ich gehe morgen fort, nach Berlin. Und ich wollte dir ein kleines Andenken geben, das ich für dich gearbeitet.«
Sie schluckte etwas beklommen bei diesen Worten und drückte ihm ein kleines, leichtes Päckchen in weißem Seidenpapier, mit einem rosa Bändchen gebunden, in die Hand.
»Aber Nettchen, was ist denn das?«
Er zog an der Schleife, und die kleine Stahlperlenbörse fiel ihm in die Hand. Wie oft hatte Nettchen diesen Augenblick in der Phantasie durchlebt, mit den frohesten, glücklichsten Erwartungen, doch jetzt stand sie ohne Freude daneben. Sie schämte sich der Gabe und wußte doch eigentlich nicht warum. Es war, als lastete Hugos Verachtung auf ihr.
Ernst war aufrichtig erfreut und gerührt, er dankte mit überschwänglichen Worten, doch Nettchens Güte bedrückte ihn ein wenig, als verdiene er sie nicht. Er las in ihren traurigen Augen, wie schwer ihr das Scheiden von der Heimat wurde – er wollte nicht daran glauben, daß noch ein anderer Abschied ihr Herzeleid bereite, und unterdrückte jeden derartigen Gedanken. Mit herzlichen Worten suchte er sie zu trösten und aufzuheitern, sprach von Wiedersehen und frohen Zukunftserwartungen, aber da sie einsilbig blieb, verabschiedete er sich bald unter dem Vorwand, erwartet zu werden.
Und Nettchen sah ihm nach, bis er im Schatten der dunkelnden Kastanien verschwand.