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Claus von Dahlwitz schlenderte mit seiner Zigarette durch die hohen, luftigen Wohnräume des Herrenhauses von Schönermark. Er betrachtete die Gegenstände um sich her mit kritischen Blicken. Wie ein Taxator, der sie auf seinen Wert prüft.
Hier stand er vor einer Vitrine aus der zweiten französischen Kaiserzeit, ganz mit kostbarem Porzellan und Familienreliquien gefüllt, dort vor einem Urväterschrank mit eingelegter Holzarbeit, der auf Schätze im Innern schließen ließ. Er befühlte Draperien und Möbelstoffe und widmete den Teppichen und Gemälden eingehende Aufmerksamkeit. Als künftiger Erbe durfte er sich wohl ein praktisches Interesse an diesen Dingen erlauben.
Donnerwetter – schöner, alter Besitz – wenn – ach ja, wenn man ihn nur schon sein eigen nennen könnte!
Verflucht diese lange Wartezeit! Die verdammte Karriere mit den schwierigen Examina, eine harte Nuß zum Knacken. Aber Tante Claudine bestand eigensinnig darauf, sie hatte jeden Versuch von seiner Seite, sich darum zu drücken und sich der Bewirtschaftung von Schönermark, als ihre Stütze, zu widmen, energisch abgelehnt. Sonst war er ja gerade kein Freund vom Dorfleben – die Chose blieb doch zu sehr in der Idylle stecken –, doch als künftiger Besitzer hätte man sich das Dasein schon zurechtrücken können.
Jetzt blieb er vor einem Sofaplatz mit Familienbildern an der Wand stehen und starrte sinnend auf die längstverstorbenen Herrschaften.
Wie alt war die Tante? – – Sie konnte höchstens einundvierzig oder zweiundvierzig sein. Noch schrecklich jung für eine Erbtante, und sie war kerngesund. Die Schönermarker Dahlwitzens erfreuten sich der Langlebigkeit. Vielleicht überlebte sie ihn, trotzdem er zwanzig Jahre jünger war. Hochintelligente Menschen mit verfeinerten Nerven sind immer von zarter Konstitution.
Dieser letzte unerfreuliche Gedanke fiel wie ein schwarzer Schatten über seine Zukunftshoffnungen. Seine Stirn verfinsterte sich, er ging nervös auf dem weichen Teppich des großen Wohngemachs auf und ab.
Verdammt! wenn er um sein Glück betrogen würde! Gab es keinen Ausweg? Er war nun einmal kein Arbeitstier – dazu muß man Plebejer sein wie dieser Kutschersohn, dem liegt's im Blut – – ihm war die Befähigung zum grand seigneur angeboren.
Schade – wenn er nur ein wenig älter wäre – dann könnte er die Tante heiraten. Sie war ja eine recht annehmbare Person – nicht gerade zum Verlieben, dazu viel zu philiströs, aber – Verlieben und Heiraten liegt für den Lebenskünstler auf zwei verschiedenen Gebieten.
In tiefes Sinnen verloren stand er lange Zeit an einem der Zimmerfenster und starrte, die Zigarette paffend, in den schönen, alten Park, ohne ihn zu sehen, denn es waren andere Bilder vor seiner Seele. Pläne und Entschlüsse reiften in ihm wie eine Eingebung.
Nun, es wäre nicht das erstemal, daß eine Tante einen jüngeren Neffen heiratet – alles schon dagewesen. Er glaubte sichere Symptome wahrzunehmen, daß die jungfräuliche Tante, diese reine Törin, unbewußt in dem Alter sei, wo alternde Mädchen schwach werden. Ihre Vorliebe für den stallduftenden, frommen Knecht, den Starkeband, konnte verhängnisvoll werden. Die Klugheit gebot, rechtzeitig vorzubeugen. Es müßte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn es einem schneidigen Kerl, der den Vorzug besaß, ihr Standesgenosse zu sein, schwer werden sollte, den Vorrang zu gewinnen.
Noch an demselben Abend begann er seinen Vorsatz praktisch auszuführen. Er legte der Tante ein zartes Sträußchen von Rosenknospen und Vergißmeinnicht auf den Teller zum Nachtmahl und umgab sie mit liebevollen Aufmerksamkeiten. Zu seiner Freude bemerkte sie neckend: »Mir scheint, du entwickelst dich vorteilhaft. Ich entdecke Talente in dir zu einem guten Ehemann.«
»Alles nur dein Einfluß, angebetetes Tantchen, du kannst aus mir machen, was du willst,« versicherte er feurig.
»Das sollte mich freuen, alter Junge,« war die herzliche Antwort.
Nach der Mahlzeit schlenderten sie zusammen durch den Park. Der weiche, blaue Abend zog den Zauberschleier der Dämmerung über die prächtigen Baumgruppen und weiten Rasenflächen. Das Gras duftete stark im Nebeltau, und die Grillen zirpten. Claus schob seinen Arm in Tante Claudinens und wurde gefühlvoll.
Ach, wenn er nur immer bei ihr sein könnte, in ihrer Gesellschaft sei er ein besserer Mensch, ja, sogar ein ganz guter. Es ginge ein gewisses Fluidum von ihr aus, das ihn seltsam anrege zu allem Guten und Großen, so daß er sich über sich selbst hinausgehoben fühle. Und so glücklich sei er in ihrer Nähe! Bei ihr fände seine Seele die Heimat und die Ruhe.
Tante Claudine war gerührt und dachte, es sei doch ein guter Fond in ihrem Neffen, man müsse ihn nur richtig nehmen. Seine Mutter, die oberflächliche Weltdame, habe viel an ihm verdorben. Und sie benutzte die Gelegenheit, ihm die notwendigen Richtlinien für das Leben zu geben. Sie versuchte, sein Pflichtgefühl und seinen Ehrgeiz anzustacheln. Wie glücklich würde sie sein, wenn er den Namen Dahlwitz zu großen Ehren und hohem Ansehen brächte!
Er schwor, die Sterne vom Himmel zu holen zu einem Ruhmeskranz für das Geschlecht der Dahlwitzens, wenn dafür ihre Huld und ihre Gunst ihm winke! Aber ohne sie würde er kaum die Kraft in sich finden, Großes zu vollbringen.
»Nun, mein Junge, an mir soll es nicht fehlen, ich werde dir treu zur Seite stehen im Lebenskampf, wenn ich sehe, daß du das Rechte willst,« versprach sie mit Wärme.
Schrecklich, wie nüchtern die Tante war! Immer dies verfluchte Moralisieren! – – Aber er gab die Hoffnung noch nicht auf, er schlug einen neuen Ton an.
»Ich bin eifersüchtig, Tantchen. Auf deinen Günstling, den Kutschersohn. Du ziehst ihn mir vor, das lasse ich mir nicht gefallen, ich ertrage es einfach nicht, ich werde ihn umbringen!«
Tante Claudine lachte unbekümmert. Ganz frei von Verlegenheit.
»Laß mich nur, ich will einen tüchtigen Menschen aus ihm machen, er hat das Zeug dazu, und er braucht meinen Einfluß ebenso wie du.«
Nein, auf diesem Spaziergang kam er noch nicht vorwärts auf dem Wege zu seinem Ziel. Es gelang durchaus nicht, einen Resonanzboden bei der Tante für sein Liebeswerben zu finden, so wie er es aufgefaßt wissen wollte.
In das Haus zurückgekehrt, setzte er sich an den Flügel. Er wußte, für Musik war Tante Claudine empfänglich, und er besaß ein hübsches Talent, frei nach dem Gedächtnis zu phantasieren. Er kannte auch ihre Vorliebe für die Volksweise. So nahm er nun heute alle Kraft zusammen und strömte seine Seele aus in melodische Variationen über den kühlen Grund, die Loreley, die drei Burschen, die über den Rhein zogen, das verlassene Mägdelein und andere der schönsten Liebeslieder. Tante Claudine kam auch alsobalb und setzte sich ganz still in ein Fenster, in das der Mond schien. Und wer jetzt in ihr Gesicht sah, konnte sich überzeugen, daß sie durchaus nicht die nüchterne Person war, für die ihr Neffe sie hielt. Ihr Kopf lag an der Sessellehne, das Gesicht dem blassen, über den Parkwiesen geisternden Mondlicht zugewandt, und ihre Augen mit dem weitentrückten Blick waren ganz groß und schimmernd von leidenschaftlichem Sehnen. Von einer ungestillten, wehen Sehnsucht, tief und unergründlich wie das Geheimnis der märchenhaften Mondnacht. Ihre ruhige, sachliche Überlegenheit, mit der sie im Tageslicht allen Dingen entgegentrat, war ausgelöscht aus den weich und schwermütig gewordenen Zügen.
Wo mochte ihre Seele weilen, die sich von den Klängen der alten, süßen Lieder forttragen ließ in andere Zeiten und Welten?
Das ungestillte Verlangen nach des Lebens höchster Erfüllung war in ihren Augen, die brennende Pein langer Jahre. Und die Schicksalsfrage: warum mußte gerade uns der Becher vom Munde gerissen werden, daß ich nun lebenslang dürsten muß? Warum ist mein Haus so öde und still, ohne Kinderlachen und Kinderjubel, ohne den festen, frohen Schritt des Gatten, der in meine Arme eilt?
Und vor ihre Seele traten die alten, unauslöschlichen Bilder. Der schönste Tag ihres Lebens – ein Gartenfest bei Ramins auf Kerkow – im Hochsommer, als alle Rosen blühten – der ganze Park voll Klang und Jubel und Festfreude – frohe Menschenstimmen und schmetternde Musik, Spiel und Tanz und darüber der Himmel in trunknem Blau, wie er noch nie zuvor geleuchtet – es galt ja ihr Verlobungsfest zu feiern mit dem Sohn des Hauses. Und war er nicht der Herrlichste von allen? Sein hoher Wuchs, seine edle Gestalt, seines Mundes Lächeln, seiner Augen Gewalt – ach, mit keiner Kaiserin und Königin hätte sie an jenem Tage getauscht!
Und dann – jener andere Tag mit dem rieselnden Regengrau des Herbstes vor den Fenstern, an dem es wie eine dunkle Ahnung von etwas Entsetzlichem als dumpfe Beklemmung auf ihr gelastet. Schon seit Wochen in ihrem Unterbewußtsein vorhanden und doch immer zurückgedrängt und übertäubt von letzten Hoffnungen, an die sie sich geklammert.
Man rüstete zu einer großen Treibjagd auf Schönermark und da – am Abend – ihres Vaters Schritt vor ihrer Tür – so seltsam schwer und zögernd. – Als er eintrat mit dem verstörten, kalkweißen Gesicht, sie ansah mit bangen, entsetzten Augen, hatte sie aufgeschrien und wie durch Eingebung alles gewußt. Ob tot oder lebendig, sie hatte gewußt, daß der Geliebte ihr verloren sei, daß es aus sei mit Liebe, Glück und Hoffen. Im Walde hatten sie ihn gefunden, erschossen. – – Man sagte ein Unglücksfall. – – Und dann kam das Furchtbare, das die letzte Blüte knickte in ihrem Lebensgarten, den letzten Trost vernichtete, die Erinnerung an ein Glück, das sie glaubte besessen zu haben. Er, der sich ihr in Treuen mit seinem Manneswort verlobt, hatte mit der Köchin seiner Mutter die Treue gebrochen und sich wegen einer Köchin und deren Sohn erschossen! Unter dem Druck dieser Schmach waren ihr Herz und Gemüt vereist, und sie wurde der ruhige, kühle Mensch, der die Dinge und Begebenheiten sachlich nahm. Bis sie eines Tages diesen Sohn der Köchin gesehen und erlebt, daß es etwas Höheres gäbe als Stolz und Verachtung menschlicher Schwachheit. Das ist die Liebe, die alles trägt, alles duldet, die Böses mit Gutem vergilt. Das hatte ihr Herz wieder weich gemacht und die verschütteten Quellen ihres Lebens aufgedeckt und von neuem strömen lassen. Doch immer mußte sie die Gebende sein, immer nur geben – nie wieder, nein, niemals würde sie den Mut finden zu nehmen! Der Gedanke an die Demütigung, die sie erlitten, als sie gläubig ihres Lebens Glück aus der Hand eines geliebten Menschen nehmen gewollt, stand wie eine Mauer zwischen ihr und jedem Vertrauen.
Wo bist du? wo bist du, mein geliebtes Land? Das Land, das Land so hoffnungsgrün, das Land, wo meine Rosen blühn – wo meine Freunde wandelnd gehn, wo meine Toten auferstehn – – ging es ihr durch den weltentrückten Sinn, da stand plötzlich Claus vor ihr und starrte in ihr zuckendes, schmerzverklärtes Gesicht. Sie hatte seine Schritte auf dem weichen Teppich nicht gehört und sich überraschen lassen. So hatte er sie noch nie gesehen, nein, er hatte nicht geahnt, daß sie solcher Gefühle fähig sei und sich in diesem Grade hinreißen lassen konnte! Und durch sein Spiel! Jetzt galt es, das Eisen zu schmieden, so lange es glühte.
Er kniete vor ihr nieder und streichelte zunächst wortlos ihre Hände, als sei er überwältigt von ihrem Anblick.
Nun, es schien ihr verständlich, sie hatte sich verraten – der gute Junge war nicht ohne Herz. Aber Sentimentalität lag ihr nicht, sie richtete sich sofort stramm auf, strich einmal freundlich über seinen Scheitel und sagte mit wiedergewonnener Fassung: »Du hast so schön gespielt.«
Es war etwas in ihrer Freundlichkeit und in ihrem Ton, das ihm den Mut nahm zu dem stürmischen Überfall, den er beabsichtigt. Er richtete sich auf, sank in den ihr gegenüberstehenden Stuhl, seufzte tief und stützte sein Haupt mit der Miene verhaltener Qual.
»Was ist dir?« fragte Tante Claudine besorgt.
Er ächzte, wand sich und bemühte sich, durch Gebärdenspiel ein tiefes Seelenleiden vorzutäuschen.
»O, es ist nichts – es geht vorüber – ich leide –« stammelte er mit belegter Stimme.
Tante Claudine sprang auf.
»Siehst du! Der Gurkensalat! Ich sagte dir gleich, iß nicht so viel Gurkensalat zu den frischen Kartoffeln! Aber dagegen habe ich ein vorzügliches Mittel, Tropfen, die unfehlbar wirken!«
Und ehe er sein seelisches Gleichgewicht wiederfand, nach diesem Kaltwasserguß, war sie schon zur Tür hinaus. Er aber starrte ihr mit einem Gesicht nach, das nicht geistreich genannt werden konnte.
Wahrhaftig, sie kam mit diesen entsetzlichen Tropfen eilig zurück, und er hatte die Geistesgegenwart in einem solchen Grade verloren, daß er sie widerspruchslos schluckte. Der Erfolg war allerdings phänomenal und kurierte ihn gründlich von weiterem Liebeswerben um seine Erbtante. Er fühlte, daß er nie wieder den Mut zu einem zweiten Versuch in dieser Richtung finden würde. Gott sei Dank, daß es keine Zeugen gab für die tödliche Lächerlichkeit seiner Rolle als schmachtender Troubadour einer angejahrten Dame!