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McCoy hatte am nächsten Morgen die von Tam gewünschte Gesellschaft in Darcys Wohnung zusammengebracht.
»Fräulein Fayne, wollen Sie uns bitte helfen! Wir möchten gern wissen, warum Dimples Denby Sie nach der Vorstellung am Mittwochabend in Ihrer Wohnung aufgesucht hat?«
Bevor Vivian antwortete, schweiften ihre Augen fragend über die zwölf Leute, die gedrängt in dem Wohnzimmer herumsaßen. Außer den sechs, die Tam in ihrem Telefongespräch mit McCoy am Abend vorher genannt hatte, waren Tam selber, Humphrey Tearly, die beiden Polizei-Inspektoren und ihr gleichgültiger Gefangener da. Die zwölfte Person, ein grauhaariger Mann, in einem dunklen, gutgeschnittenen Straßenanzug, der ein kleines versiegeltes Paketchen vorsichtig auf seinen Knien hielt, war ein Fremder für alle, außer für Tam.
»Ich sehe nicht ein, warum ich diese sonderbare Frage beantworten soll«, bemerkte Vivian endlich. »Ich bin doch nicht verhaftet.«
»Im Augenblick nicht«, gestand ihr Tam mit dem süßesten Lächeln der Welt, »obwohl man nie weiß, was noch passieren kann.«
»Soll das eine Drohung sein?«
»O nein, mehr eine Warnung! Als wir Dimples die Urheberschaft des Erpresserbriefes nachgewiesen hatten, ist sie zu Ihnen gegangen, weil sie hoffte, Sie wüßten etwas über gewisse Papiere, die verschwunden sind – jene Papiere, bei deren Erwähnung Sie neulich so deutliche Unruhe zeigten. Es ist doch so, nicht wahr?«
»Beweisen Sie es«, trumpfte Vivian auf.
»Gewiß, später. Zuerst möchte ich, daß Mona Dare mir über einige Punkte Aufklärung gibt.«
Sie wandte sich an das junge Mädchen, das so dicht bei Terry Nagle saß, wie es der Anstand erlaubte.
»Sind Sie nicht von der Wahrheit abgewichen, als Sie leugneten, Ihr Pflegevater habe gedroht, Sie aus seinem Testament zu streichen, wenn Sie nicht Ihre Verlobung mit Terry Nagle aufgeben wollten?«
Monas goldener Kopf nickte ganz zerknirscht. »Ich wußte, daß Inspektor McCoy mich schon deshalb im Verdacht hatte, und ich fürchtete mich davor, ihm die Wahrheit zu sagen.«
»Es hat mit dem Fall selber ja nicht viel zu tun«, versicherte ihr Tam, »ich wollte nur ganz sicher über die wahren Tatsachen sein. Nun zu Frage Nummer zwei: einmal sagten Sie, das Clyde Kirby die Gewohnheit hatte, seinen Freunden einen Schlüssel für die Haustür zu geben, der nur im Notfall gebraucht werden sollte. Sie konnten mir damals nicht sagen, welche seiner Freunde solche Schlüssel bekommen haben, aber vielleicht erinnern Sie sich heute, ob Jules Darcy auch dazu gehörte?«
Wieder nickte Mona ein widerwilliges »Ja!«
»Danke vielmals. Und nun noch eine Frage. Wissen Sie zufällig, wie und wo Ihr Pflegevater den letzten Nachmittag seines Lebens verbrachte?«
»Nein, ich habe keine Ahnung. Ich erinnere mich, daß er mir beim Lunch sagte, er habe eine wichtige und unangenehme Verabredung, aber Genaueres sagte er nicht.«
»Er konnte kaum voraussehen, wie sehr unangenehm die Folgen sein würden, sonst wäre er wahrscheinlich ausführlicher gewesen.«
Zum ersten Male blickte Tam prüfend auf den gefesselten Gefangenen, dessen dunkles mürrisches Gesicht weder Interesse noch Furcht zeigten.
»Wollen Sie vielleicht irgendein Geständnis machen, bevor ich weitergehe?«
»Nein!« Seine Augen, die zu sonderbar funkelnden Schlitzen verengt waren, schauten sie unerschrocken an.
»Dann bitte ich Sie alle, zu entschuldigen, wenn ich etwas ausführlich werden muß, während ich einige der Ereignisse am Mittwochabend durchspreche.
Als Jules Darcy so unformell das »Piratengold« verlassen hatte und wir dann herausbekamen, daß er hierher zurückgekehrt war, eine Menge persönlicher Papiere vernichtet und ein paar Koffer gepackt hatte, um in aller Eile zu verschwinden, mußten wir annehmen, daß seine Flucht ein Schuldbekenntnis war. Wir glaubten, daß jemand lausche, als wir von Dimples Denby zu erfahren suchten, wer mit ihr an diesem Erpresserplan gegen Clyde Kirby mitgearbeitet hat. Darcys übereilter Abgang von der Bildfläche überzeugte uns davon, daß er der ungesehene Zuhörer war.
Eine weitere Untersuchung seines Schlafzimmers brachte ihn wiederum in Verbindung mit dem Verbrechen, denn wir fanden einen Schuh mit Stücken getrockneter Ringelblumen, die in einem Loch seines Gummiabsatzes festgetreten waren, und wir wußten bereits, daß der zweite Eindringling in Clyde Kirbys Studierzimmer eine Pflanze dieser Art umgeworfen hatte und höchstwahrscheinlich daraufgetreten war.
Als nächstes bot der Inhalt seines Papierkorbs einen einleuchtenden Grund in Form eines Wechsels über zehntausend Dollar an Clyde Kirby zahlbar und nur zwei Lage nach dessen Tode fällig, – und während wir so alle Beweisstücke gegen ihn zusammentrugen, fanden wir die vermißte Pistole, in das Tonmodell des Kopfes einer Nonne eingebettet, von der wir wußten, daß es Jules Darcys Arbeit war.
Bis zu dieser Zeit hegte ich keinen Zweifel an seiner Schuld, ich war von der unerwarteten Fülle klarer Beweise überzeugt und nahm mir nicht die Zeit, die Dinge näher zu untersuchen. Erst ein zerrissenes Papier erweckte in mir einen schwachen Zweifel.«
»Einen Augenblick bitte, Fräulein O'Brien«, der Ausdruck in Darcys Gesicht änderte sich nicht, aber seine Stimme hatte einen Unterton von fast verzweifelter Dringlichkeit. »Ich habe jetzt meine Ansicht über das Geständnis geändert … ich bin jetzt bereit zu gestehen.«
»Es tut mir leid, aber jetzt ist es zu spät«, erwiderte sie ihm. »Ich habe Ihnen die Gelegenheit geboten und Sie haben sie nicht wahrgenommen. Jetzt werde ich weitersprechen.«
»Aber man kann doch einem Verhafteten nicht verwehren, ein Geständnis abzulegen!« Er wandte sich an Inspektor McCoy. »Es besteht doch keine Notwendigkeit, alle Einzelheiten zu erörtern, wenn der Beschuldigte zu einem Geständnis bereit ist.«
Die Lippen des Inspektors öffneten sich zu einer Antwort, aber Tam fuhr dazwischen, bevor er sie noch laut werden lassen konnte.
»Laß mich das machen, Mac, hier gibt es noch viel, was du nicht weißt.«
Einen Augenblick schwankte er zwischen seinem Vertrauen zu ihr und dem Wunsch, Darcys Geständnis zu hören, dann trug doch sein Respekt vor Tam den Sieg davon, er lehnte sich zurück und überließ ihr die Zügel. Als Darcy sah, daß er verloren hatte, protestierte er nicht weiter und fiel in seine Gleichgültigkeit zurück, die er vom Augenblick der Verhaftung an zur Schau getragen hatte. Tam fuhr fort.
»Es war ein recht interessantes Papier, das sich aus den Stücken leicht wieder zusammensetzen ließ: ein Dreimonatswechsel, der in den nächsten Tagen fällig war, der also schon vor einem Vierteljahr ausgestellt wurde. Merkwürdigerweise waren die Eintragungen mit Tinte ganz frisch. Das gab mir zu denken. Es schien mir unglaubhaft, daß ein intelligenter Mensch wie Darcy gerade dieses belastende Dokument zurückließ, während er alles mögliche andere bei seiner Flucht mit sich genommen hatte. Ich kam zu der Überzeugung, daß dieses Papier absichtlich zurückgelassen wurde, um es der Polizei in die Hände zu spielen.
Den Inspektoren verschwieg ich meine Bedenken. Sie waren zu fest überzeugt von der Schuld Darcys, sie hätten mich nur wegen meiner nebelhaften Theorien verspottet; denn zu dieser Zeit hatte ich keine zwingenden Gegenbeweise.
Statt später zu Bett zu gehen, dachte ich das ganze Material beider Fälle durch und erwog, was für meine Theorie sprach und was dagegen. Also: eine Tatsache stand bombenfest. Dimples Denby hatte versucht, Kirby kurz vor seinem Ende zu erpressen, und sie hatte nicht allein gearbeitet. Welches Schriftstück konnte aber Kirby derart belasten, daß eine Erpressung aussichtsvoll erschien? Das Übliche, eine Liebesgeschichte und der damit verbundene Skandal konnte glattweg ausgeschaltet werden, denn sein Ruf war in dieser Beziehung bereits so lädiert, daß ein neuer Skandal nur wenig bedeuten konnte. Man konnte also darauf rechnen, daß keiner, der ihn kannte, erwarten durfte, aus irgendwelchen Liebesbriefen, und mochten sie noch so feurig sein, auch nur einen Dollar herauszuholen. Was blieb also noch? Kompromittierende Geschäftspapiere? Irgend etwas, das den finanziellen Ruf des Autors erschüttern, ein schlimmes Licht auf seine Honorigkeit als Geschäftsmann werfen konnte? Das lag immerhin im Bereich der Wahrscheinlichkeit, um so mehr, als Dimples einmal seine Sekretärin gewesen war und sich in den Besitz von belastender Korrespondenz gesetzt haben konnte. Und nicht sie allein, wir wußten ja, sie hatte nicht allein gearbeitet.
Wer war also der Kompagnon? Nun hat Dimples sofort Vivian Fayne ausgesucht, als man ihr wegen des Erpressungsbriefes auf den Fersen war, es lag also nahe, anzunehmen, daß diese mit ihr unter einer Decke steckte. Soviel wir wußten, konnte gewiß auch eine von diesen Frauen an Kirbys Ende schuld sein, aber – und gerade an diesem Punkt blieb ich hängen – wußte eine von diesen Frauen, daß das mysteriöse Girl Paula Kent war? Und daß diese Paula Kent im Begriff war, mir zu erzählen, wer sich die Pistole aus dem Piratenchor ausgeliehen hatte? Wer über diese zwei Punkte nicht orientiert war, konnte auch kein Interesse an ihrem Tode haben. Immer vorausgesetzt, daß wir recht haben in der Annahme, das Motiv für Paulas Ermordung in der Absicht zu sehen, sie zum Schweigen zu bringen. Dies war ein Punkt, bei dem das Grübeln allein nicht weiterführte. Ich mußte bis zum nächsten Morgen warten, um mir darüber Klarheit zu verschaffen, ob einer der Männer, die um das Geheimnis wußten, es an Dimples oder an Fayne weitergegeben haben.«
»Nichts haben wir gewußt, natürlich«, warf die unverbesserliche Dimples ein, aber niemand schenkte ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Sie alle waren zu sehr von Tams aufschlußreicher Erzählung gefesselt.
»Eine Tatsache, die meinen Verdacht auf Darcy verstärkte, betraf die Pistole, die im Kopf der Nonne gefunden wurde. Ich wußte genau, daß der Modellierton erst am Montag im Lauf des Nachmittags geliefert worden war. Paula wurde Montagnacht ermordet. Ich weiß das aus dem Grund so genau, weil ich Montagnachmittag zufällig dabei war, als die Leute mit dem Ton kamen. Die Pistole im Kopf der Nonne war wahrscheinlich die Mordwaffe. Und der Kopf war bestimmt nicht erst am nächsten Tag modelliert worden. Wenn Darcy selbst die Schußwaffe versteckte, hätte er sie bestimmt in einen Klumpen unbearbeiteten Tones getan und nachher erst die Masse geformt. Er hätte dabei genau darauf geachtet, daß sie völlig verborgen blieb. Der Fuß der Statue zeigte eine tiefe Höhlung, die man erst eingegraben hatte, als der Ton fast schon getrocknet war, die Pistole wurde in diese Höhlung gelegt und der Boden des Fußes nur schlecht eingeebnet, so daß er nicht gleichmäßig glatt war. Nun, wer außer Darcy selbst hatte Zugang zu dem Kopf der Nonne? Dimples? Vielleicht! Tearly? Bestimmt!
Jetzt war Raum für eine ganz neue Gedankenfolge! Er war bekannt mit Darcy ebenso wie mit Dimples, er war unter denen, die den wahren Namen von Fräulein Smith kannten, er war es, der Darcy höchstwahrscheinlich die Warnung Edith Hunnekers mitgeteilt hatte. Er wußte von ihr, daß die Polizei den Namen des Girls kannte, und daß Paula vermutlich nicht schweigen würde.
War er nun der Schuldige in beiden Fällen? Und war Darcy nur darum geflohen, um die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken, um so den Mann zu schützen, den er, wie er wir einmal erzählte, liebte wie einen jüngeren Bruder? Dieser Gedanke zog einen anderen nach sich: beide Männer liebten Lois Chalmers, und Darcy hatte mir erzählt, daß sie sich für Tearly entschieden hätte. Sollte er also den Verdacht des Doppelmords auf sich genommen haben, nicht nur des Freundes willen, sondern auch um das Mädchen glücklich zu machen, das er liebte? Das scheint alles recht phantastisch. Nur wenige Männer lieben ihren Freund oder ihre Angebetete so tief, um eines solchen Opfers fähig zu sein, und doch, dieser Gedanke hatte sich in mir festgesetzt, und ich wurde ihn nicht los.«
Tam wurde hier von einem schallenden Gelächter Darcys unterbrochen, und das Lachen klang so echt, daß sogar Tam O'Brien mit all ihrer Selbstbeherrschung einen Augenblick lang verblüfft war.
»Um Himmels willen, gebieten Sie ihr Einhalt, Herr Inspektor!« flehte Darcy, »sie stellt mich ja als größten Idioten der Gegenwart hin, das ist ja ein Witz und keine Szene aus einer Tragödie! Machen Sie doch bitte Schluß damit, wenn nicht um meinetwillen, so um der New-Yorker Polizei eine haushohe Blamage zu ersparen!«
»Na ja, es scheint, daß du dich in etwas nebulöse Phantasten verstrickt hast«, sagte McCoy, auf den das lachende Gesicht Darcys Eindruck gewacht hatte. »Liebe Tam, du hast doch noch kein Stäubchen exakten Beweismaterials, auf das du bauen könntest.«
»Nein?« Tam hatte ihre Selbstbeherrschung wieder, und ihr Lächeln zeigte einen sarkastischen Schimmer als Antwort auf Darcys unaufhörliches Lachen.
»Klug, Herr Darcy, wirklich fein! Gut gemacht, sage ich, Herr Darcy!« Jetzt erklang ihr leises Lachen mitten in der Stille, denn Darcy hatte plötzlich zu lachen aufgehört. »Ich habe nicht gewußt, daß Sie ein so guter Schauspieler sind, aber Sie bemühen sich umsonst, sogar ihre hervorragendes Talent kann … Humphrey Tearly nicht mehr retten!!«
»Das kannst du dir doch nicht nur ausgedacht haben, du mußt also Positives wissen?!« McCoy bekehrte sich wieder zu seinem alten Glauben an sie, der nur für einen Augenblick erschüttert worden war.
»Aber natürlich, eine ganze Menge!« Ihre Antwort war frei von Bitterkeit. »Erinnerst du dich, daß ich dich um einen Haussuchungsbefehl bat, um die Papiere von Fräulein McGuire prüfen zu können? Nun, ich fand heraus, daß sie komische Gewohnheiten hatte. Anscheinend hatte sie den größten Teil ihrer eigenen und Kirbys Korrespondenz vernichtet, aber dafür allerlei Kleinkram und Papier aufbewahrt, und diese Papiere hat sie zum Beispiel zum Einwickeln von Gegenständen verwandt, die gerade nicht gebraucht wurden, oder sie hat mit ihnen den Boden von Schubfächern ausgelegt. Ich gebe zu, ich mußte sehr eingehend suchen, und wußte doch im Grunde nicht, was ich eigentlich suchte, aber immerhin hatte ich aus Vivians Nervosität beim Erwähnen der Papiere und aus Dimples impulsiver Art, wie sie sich am Mittwoch an Vivian gewandt hatte, ziemlich sicher geschlossen, daß irgendwelche wichtigen Papiere von Kirby existieren müßten, und wenn sie überhaupt noch vorhanden waren, wo sollten sie sonst sein, wenn nicht in Fräulein McGuires Zimmer? Denn sonst hatten wir doch schon überall gesucht!
Eines der unteren Schubfächer war mit alten Notenpartituren ausgelegt, der Text war mit der Maschine hineingetippt. Das Zeug sah unschuldig genug aus, bis ich jedoch merkte, daß sie auf Dimples Denbys Maschine geschrieben worden waren. Da erwachte mein Interesse für die Noten. Dimples hatte sich mit Kirby überworfen, lange bevor das ›Piratengold‹ aufgeführt oder sogar geschrieben wurde, dennoch erkannte ich einige Lieder, die ich vor kurzem so oft gehört hatte, – wenn dies die ursprüngliche Fassung des Werkes war, warum hatte es nicht Fräulein McGuire an Stelle von Dimples Denby getippt?
Im selben Augenblick erinnerte ich mich an zwei kleine Zwischenfälle, die in Darcys und Tearlys Wohnung passiert waren: zunächst, daß Vera Vernon Tearly voller Wut eine Ohrfeige gegeben hatte, weil er die Begleitung verhunzt und so die Wirkung ihres Solos verschandelt hatte, und zweitens, als mehrere Leute einmal einen Song aus dem ›Piratengold‹ anstimmten, wich seine Stimme plötzlich an einer Stelle ab und störte dadurch die Harmonie. Keiner von den Gesängen gehörte zu denen, die er im ›Piratengold‹ zu singen hatte, und ich wußte, daß man leicht beim Singen oder Spielen eines Liedes, mit dem er nicht besonders vertraut ist, einen Fehler machen kann, aber zwei Fehler von dem gleichen Charakter ließen auf eine andere Erklärung schließen. Kam es vielleicht daher, daß Tearly mit den Gesängen in ihrer Originalform vertrauter war als mit der Melodie, die jetzt gespielt wurde?«
»Du deutest damit an …?«
»Daß Tearly der wahre Autor des ›Piratengoldes‹ war, dessen Manuskript Dimples Denby für ihn tippte, und daß Kirby das Stück stahl und den Anspruch darauf erhob, es als sein eigenes Werk gelten zu lassen.«
»Da haben wir das Motiv!« flüsterte McCoy.
»Gestern, als ich verschiedene Restaurants besuchte, in denen Kirby häufig verkehrte, erfuhr ich, daß er den letzten Nachmittag seines Lebens mit Humphrey Tearly verbracht hatte, das war die »unangenehme« Verabredung, von der er Mona erzählte. In dieser Zeit sprachen die beiden Männer zweifellos über das ›Piratengold‹, und Tearly merkte, daß Kirby nicht daran dachte, ihn am Gewinn zu beteiligen.
Später überdachte ich noch einmal die Aussagen, die bei den Nachforschungen über Clyde Kirby gemacht worden waren. Tearly hatte angegeben, daß er zur Zeit des Mordes in seiner Garderobe gewesen war. Da ich mich an Vivians Unruhe erinnerte, wenn das Wort Garderobe fiel, so glaubte ich annehmen zu können, daß Tearlys Aussage falsch war, und als ich in Ragans etwas schwerfälligem Gedächtnis weitergrub, erfuhr ich, daß ich recht hatte. Am Freitagabend hatte er gerade vor der letzten Nummer des zweiten Aktes nach Tearly gesucht und seine Garderobe leer gefunden und hatte Vivian Fayne, die in den Kulissen auf ihren Auftritt wartete, gefragt, ob sie ihn gesehen hätte. Warum sie diese Tatsache verschwiegen hat, kann ich nicht sagen. Vielleicht hat sie die Absicht gehabt, sich später ihr Wissen von Tearly teuer bezahlen zu lassen. Wie ich annehme, wußte Dimples, daß die Partitur des ›Piratengoldes‹ gestohlen worden war, denn sie war es, die die Originalsongs getippt hatte, und sie und Tearly, vielleicht auch noch Dimples allein schrieben an Kirby und drohten ihm, diese Tatsache zu veröffentlichen, wenn er sie nicht für ihr Schweigen bezahle. Als sie erkannte, daß Kirby sich zur Wehr setzen wollte, ging sie zu Vivian, die, wahrscheinlich durch ihre enge Bekanntschaft mit Kirby, den wahren Autor des ›Piratengoldes‹ kannte. Sie wollte gerne wissen, ob das Original vernichtet worden war oder ob irgendwelche Gefahr bestand, daß es auftauchen könne, um die Angelegenheit zu komplizieren. Vivian war dessen nicht ganz sicher, und das war der Grund, warum sie immer ängstlich wurde, sobald von Kirbys Papieren die Rede war. Nachdem mir also diese Zusammenhänge klargeworden waren, sammelte ich Fotos der wichtigsten Darsteller des ›Piratengoldes‹, suchte die kleine Tochter des Ladeninhabers auf und zeigte ihr die Bilder. Sie erkannte sofort Tearly als den Mann wieder, der im Laben ihres Vaters am Montagabend von der Telefonzelle aus das ominöse Gespräch mit Paula Kent geführt hatte.«
»Alles gut und schön, aber das hängt noch ein wenig in der Luft,« meinte McCoy, »hast du etwas Positiveres?«
»Natürlich!« nickte sie. »Du wirst dich erinnern, daß der untere Teil des Inhalts von Darcys Papierkorb ganz anders war als der obere Teil, er war dichter zusammengepreßt, so als ob er bereits längere Zeit im Korb gewesen wäre. Die Frau des Portiers nun, die die Zimmer aufräumt, sagte mir, daß der Papierkorb eigentlich in Tearlys Zimmer gehöre, er muß also absichtlich in das andere Zimmer gebracht worden sein, um das uns irreführende Schriftstück überzeugender zu placieren. Und dabei möchte ich dich auch erinnern, daß wir unten im Papierkorb auch eine Empfangsbestätigung des Newarker Postamtes fanden, – darauf komme ich noch zurück –.
Wenn nun meine Theorie stimmt, so hat Darcy unser Gespräch mit Dimples im Theater belauscht. Er wußte oder vermutete genug, um in seinem Freund den Täter sehen zu müssen, und nun schmiedete er den abenteuerlichen Plan, Tearly auf Kosten seines eigenen Rufes zu retten, rannte heim, packte einige Koffer, schrieb den zu unserer Täuschung bestimmten Wechsel, und als Tearly heimkam, bewog er ihn zu einem Geständnis, erzählte ihm seinen Plan und verließ ungesehen die Wohnung. Du weißt, Dimples Denby kam nicht direkt nach Hause, und aus diesem Grunde war ihr Beobachter noch nicht auf seinem Posten vor dem Haus und konnte nicht sehen, daß Darcy wegging.«
Es entstand eine kleine stumme Pause, plötzlich fiel eine neue Idee blitzartig in McCoys Gehirn: »Aber Tam, du hast ja das Wichtigste außer acht gelassen! Nur wer auf der Bühne stand, konnte Kirby ermordet haben, und Humphrey Tearly war zu dieser Zeit nicht oben.«
»Er will nicht oben gewesen sein, meinst du,« verbesserte ihn Tam in aller Ruhe, »wir haben die ganze Zeit den Fehler gemacht, diesen Umstand zu wörtlich aufzufassen, wir haben die Außenseiter nicht genug berücksichtigt, haben es einfach als Tatsache angenommen, daß einer der Mitwirkenden am Finale des zweiten Aktes der Täter sein müsse, weil der Unglücksschuß nicht von der Seitenkulisse gekommen sein konnte und der feste Hintergrund kein Loch aufwies. In dem Augenblick aber, als ich annahm, daß Humphrey Tearly der Täter sein könne, fragte ich mich nach dem: wie? Im Theater war er, das steht fest, aber nicht in seiner Garderobe, er hat nur behauptet, dort geblieben zu sein. Er war nicht dort, Ragans Aussage beweist es. Und doch schien es technisch unmöglich, daß er Kirby erschossen haben sollte. Eine kurze Zeit lang glaubte ich, daß meine ganze Theorie ein Fehlschluß sei, da entsann ich mich des seidenen Halstuches im Bibliothekszimmer von Kent, das man als improvisierte Maske gebraucht hatte, und eine Gedankenverbindung brachte mir ein anderes Stück Seide ins Gedächtnis, das kleine, angebrannte Stückchen Seide, das mit ein paar Handschuhdruckknöpfen beim Kamin herabgefallen war.
Jetzt begann sich alles zu klären. Wenn ich die Ereignisse rekonstruiere, so hat Tearly, der über den Diebstahl seines Stückes schon verzweifelt war, Kirby in der ersten Reihe der Orchestersessel mit dem Mädchen, das er selber liebte, gesehen. Er kannte Kirbys Art, mit Frauen umzugehen, und das war der Funken im Pulverfaß. Er wußte, wo Terry Nagle seinen Revolver aufbewahrte und stahl ihn. Ein wenig später sah er die Pistole, die Paula Kent aus der Hand gelegt hatte, und kam zur Ansicht, diese Waffe würde dienlicher sein, da sie niemand belaste. Nun wußte er, daß beim Piratenchor das ganze Scheinwerferlicht auf die Gruppe der Girls konzentriert war, und daß der Rest der Bühne im Dunklen blieb. So ergriff er die günstige Gelegenheit. Er trug ein dunkelblaues Kostüm, so daß er annehmen konnte, bei dem herrschenden Halbdunkel auf der Bühne nicht gesehen zu werden. Das einzige, was fehlte, war eine dunkle Maske, die groß genug war, seinen Kopf und den Hals zu verbergen! Dies und ein paar dunkler Handschuhe machten ihn fast unsichtbar. Deshalb konnte er ruhig auf die Bühne schleichen, sich hinter den Girls, die aus Leibeskräften sangen, verstecken, von da aus zielte er vorsichtig auf Kirbys weiße Hemdbrust und drückte ab … Dann ging er wieder in seine Garderobe und verbarg Handschuhe und Gesichtsmaske, bevor noch jemand ahnte, daß Kirby tot war.«
»Halt! Um des Himmels willen, halt!« Der Schrei eines Menschen, der völlig die Nerven verloren hatte, zerriß Tams ruhige Darlegungen. »Sie hat recht! Alles ist genau so und nicht anders vor sich gegangen …« Tearly war aufgesprungen. Seine Augen glühten in dem todblassen Gesicht. »Als Kirby mir vorschlug, das ›Piratengold‹ als sein Stück herauszubringen, weil er wußte, daß sein Name eine starke Anziehungskraft auf das Publikum ausübte, bot er mir die Hälfte des Reingewinns an. Er hat nie einen Pfennig bezahlt, und am letzten Nachmittag wurde mir klar, daß er nicht gesonnen war, sich an seine Zusage zu halten. Ich war bereits außer mir vor Wut, und als ich ihn dann neben dem Mädchen sitzen sah, das ich liebte, verlor ich jede Beherrschung, denn ich wußte, daß er keine Frau ausläßt. Terrys Pistole bekam ich ohne die geringste Schwierigkeit, und die Knallerei am Ende des zweiten Aktes gab mir Gelegenheit, meine Absicht auszuführen. Vor Beginn des Finales stand ich hinter den Kulissen, die geladene Pistole in der Tasche. Zufällig sah ich, wie Paula Kent ihre Waffe auf einen Tisch legte und wegging. Diesen Augenblick benutzte ich, die Patronen auszuwechseln und die Waffen zu vertauschen. Als Kirby tot war, verschwand ich von der Bühne, warf die Pistole in Ragans Kasten, und nahm dafür eine andere, die auf dem Tisch liegengeblieben war. Ich war überzeugt, daß es Ragan genügen würde, wenn die Zahl der Pistolen stimmte, und daß niemand bemerken würde, daß sich Terrys Waffe darunter befand.
Als wir dann alle heimgehen durften, ging ich vom Theater nach Hause, lieh mir Darcys Schlüssel zu Kirbys Wohnung, drang in sein Arbeitszimmer ein und suchte nach der Originalpartitur des ›Piratengold‹. Ich fürchtete nämlich, daß man mein Motiv leicht erraten könnte, wenn sie bei Kirby gefunden würde. Ich wollte meine Tat nicht mit meinem Tode sühnen, wenn ich es vermeiden konnte. Diese Papiere waren aber nicht da, obwohl Dimples sie bei Kirby vermutet hatte. Sie hat nicht gewußt, daß ich der Mörder bin, nur von der gestohlenen Musik wußte sie.
Keiner hat mich verdächtigt, und es sah auch nicht so aus, als ob ein anderer für mich büßen sollte. Ich begann mich ganz sicher zu fühlen, bis Darcy mir erzählte, daß Paula Kent etwas erzählen wollte. Ich rief sie noch in der gleichen Nacht an, bat sie um eine Gelegenheit, ihr alles erklären zu können. Sie sagte ja, und ich suchte sie noch spät auf. Die Waffe nahm ich mit mir – ich hatte nicht gewagt, sie wegzuwerfen – ich spielte auch vielleicht mit dem Gedanken, sie zu schrecken, denn sie sollte auf alle Fälle reinen Mund halten. So wahr mir Gott helfe, ich hatte nicht die Absicht, sie zu ermorden! Irgendein Muskel an meiner Hand muß gezuckt haben, als ich auf sie zielte, ich wollte sie nur zwingen, mir zu schwören, daß sie mich nicht verraten würde … sie war tot, bevor ich noch wußte, daß ich abgedrückt hatte!
Ich machte den Versuch, einen Raubüberfall vorzutäuschen, am nächsten Tage verbarg ich die Pistole in einer Statue, die Darcy am selben Morgen modelliert hatte.«
Trockenes Schluchzen hemmte seine schnelle Rede für einen Augenblick, dann bezwang er sich und fuhr fort:
»Kirby hat den Tod verdient, wenn ihn je einer verdient hat, aber Paula … ich konnte ihr herrliches Gesicht im Tode niemals vergessen, seit jener Nacht habe ich keine Ruhe mehr. Vorgestern abend, als ich nach Hause kam und sah, daß Darcy packte, brach ich zusammen, und erzählte ihm die Wahrheit, ich wollte mich selber stellen. Aber er beschwor mich, sein Opfer anzunehmen. Sein Leben wäre ohne Sinn, um so mehr, als Lois mich liebe, – ich müsse zulassen, daß er die Schuld auf sich nehme, um ihretwillen, wenn nicht um meinetwillen. Ich war schwach, feig, ich tat, was er sagte. Sie wissen das übrige, ich brauche nichts hinzuzufügen. Sie haben erraten, was Darcy tun wollte, alle Beweise waren ausgedacht, außer den vertrockneten Ringelblumen in dem Gummiabsatz. Wir wußten nichts davon. Der Schuh gehörte mir und muß durch einen wahren Zufall in Darcys Schrank geraten sein.«
Er hielt an, stand taumelnd da, dann stürzte er durch das Zimmer, um vor Lois Chalmers niederzuknien. Er verbarg seinen Kopf in ihrem Schoß, sein ganzer Körper schüttelte sich vor Schluchzen. »Ich tat es für dich, mein Liebling, für dich!« flüsterte er. »Du liebtest mich, und ich konnte dich nicht mit einem Mann wie Clyde Kirby zusammen sehen!«
Lois aber hatte für das, was in ihm vorging, kein Verständnis, sie zuckte vor ihm zurück, Furcht und Abscheu lagen auf ihrem Gesicht.
»Bitte … rühr« mich nicht an … Und dann, ich habe dich nie geliebt, ich habe nur versucht, dir das Trinken abzugewöhnen.« Sie entzog sich seiner Umarmung und floh zu dem Stuhl hin, in dem Darcy saß. Die Art, wie sie neben ihm lehnte, wie sie ihr Gesicht gegen seine Schulter lehnte, wie sie ihn mit ihren kleinen Händen umklammerte, das sagte mehr als Worte. Über sein dunkles Gesicht zog ein Schimmer von Glückseligkeit.
McCoy war es, der die Aufmerksamkeit von diesem Idylle wieder zurücklenkte auf die Wirklichkeit.
»Und Paula Kents Juwelen? Was ist denn aus denen geworden?« Er richtete diese Frage an den zusammengebrochenen Tearly. Aber Tam antwortete an seiner Stelle:
»Ihr habt euch sicherlich alle gewundert, daß noch ein Fremder hier eingeladen worden ist.« Lächelnd wies sie auf den ruhigen, grauhaarigen Mann, der die ganze Zeit still dagesessen hatte und vorsichtig ein rot versiegeltes Päckchen in der Hand hielt. »Die Empfangsbestätigung des Newarker Postamtes hat mein lebhaftestes Interesse erregt«, erklärte sie, »sie befand sich in dem unteren Teil des Papierkorbs und lag sicher schon drin, bevor man den Korb aus Tearlys Zimmer geholt hatte. Ich forderte von der Postdirektion eine Untersuchung des Schließfaches auf den Namen Tearly, und dieses noch ungeöffnete Paketchen war das Ergebnis.«
Es war in starkes Papier eingepackt, versiegelt, und an Humphrey Tearly, Schließfach Nr. 114, Postamt Newark, adressiert. Sie bat den Beamten, es zu öffnen.
Drinnen waren zwei Ringe, einer mit einem großen, viereckig geschnittenen Smaragd, ein Armband aus Smaragden und Diamanten, und eine lange Kette.
»Das ist gar keine so schlechte Art, Juwelen so lange verborgen zu halten, bis man sie ungefährdet wieder abholen kann«, war Tams anerkennende, ganz unpersönliche Bemerkung. »Um sie identifizieren zu lassen, brauchte ich heute die Anwesenheit von Herrn Kent.« Sehr langsam erhob sich der Rechtsanwalt, ging auf den Tisch zu, um aufmerksam die glitzernden Steine auf dem Tisch zu untersuchen. Dann erklärte er leise, aber für alle deutlich hörbar: »Es sind die Juwelen meiner Frau.«
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