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Auf den ersten Blick erschien Vivian Fayne außerordentlich schlank. Ihr Gesicht war oval und schneeweiß und hatte ein spitz zulaufendes Kinn. Alles aber war ganz von einem Paar tiefschwarzer Augen beherrscht, man sah nichts als sie, und der Rest des Gesichts interessierte weiter nicht. ›Sie ist nicht eigentlich schön‹, entschied Tam, die eine reine Freude an weiblicher Schönheit hatte, ›aber sie hat einen gewissen Reiz, der viele Menschen bezaubern kann, hauptsächlich Männer mit etwas verwöhntem Geschmack.‹
Vivian warf sich in einen Stuhl McCoy gegenüber, richtete das Feuer ihrer riesigen Augen nur auf ihn und übersah Tam völlig.
»War es unbedingt nötig, daß man mich bis zuletzt warten ließ?« fragte sie. Ihre Stimme klang sehr rauh, und Tam wunderte sich nicht länger darüber, daß Kirby sie nur im Chor hatte gebrauchen können. Einer solchen Stimme konnte man keine Solopartie anvertrauen. »Bei mir, als der besten Freundin von Kirby hätte man doch wohl annehmen müssen, daß ich einige wichtige Angaben machen kann!«
»Noch ist es nicht zu spät dazu«, antwortete der Inspektor, »wir verlassen uns auf Sie, Sie sollen uns auf die Spur des Mörders von Kirby bringen.«
»Ich … ich würde auf … Mona Dare tippen.«
»Ach, auf dieses Baby?« Er war höchst erstaunt und konnte es nicht verbergen.
»O nein, sie ist ein durchtriebenes kleines Ding«, antwortete Vivian, »und dann: wer außer ihr hatte irgendwelche Vorteile nach Kirbys Tod zu erwarten?«
»Aber ich habe doch gehört, daß die beiden immer auf dem besten Fuß miteinander standen und daß sie ihrem Pflegevater vollständig ergeben war.«
»Ja, sicher hat sie Ihnen das selbst so dargestellt?« Die übermalten Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln. »Aber sie hat ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß ihr Kirby einen Riesenskandal wegen ihrer Verlobung gemacht hat und daß er ihr gedroht hat, sie aus seinem Testament zu streichen. Aber wie die Sache jetzt steht, ist sie Haupterbin. Sie bekommt alles, ein paar Legate ausgenommen, und er soll ja sehr reich gewesen sein.«
»Ich weiß nicht recht, ob Sie da nicht Ihrer Phantasie zu weiten Spielraum lassen? Ich habe von einer Verlobung noch nichts gehört.«
»Sie wissen es ja auch nicht alle. Die Sache ist noch nicht alt. Terry Nagle ist der Auserwählte.«
»Es kommt mir aber doch stark so vor, als ob Sie sich irren, Fräulein Fayne! Wir haben ja mit den beiden gesprochen, und keiner hat ein Sterbenswort darüber verlauten lassen.«
»Sie werden sich hüten!« Sie nahm eine Zigarette aus ihrem Etui und zündete sie langsam an. »Er hat soviel Zutrauen zu Mona mit ihrem süßen, unschuldsvollen Aussehen, daß er seiner Sache ganz sicher ist.«
»Ich habe gehört, Sie wären mit dem jungen Mädchen befreundet?«
»Ach Gott!« Sie zuckte die Achseln. »Bei Lebzeiten von Kirby mußte ich mich gut mit ihr stellen, denn sie hatte einen viel zu großen Einfluß auf ihn, als daß ich ihr meine wahren Gefühle hätte zeigen dürfen, aber jetzt, da er tot ist, ist sie mir völlig gleichgültig.«
»Und Sie lassen sich von Ihrer Eifersucht so weit fortreißen, daß Sie ihr zutrauen, sie hätte Kirby ermordet?« meinte McCoy mehr im Ton einer Frage als einer Behauptung.
»Nun, zeigen Sie mir jemand, der ein stärkeres Motiv dafür hat«, brach Vivian hervor.
»Ihre eigene Eifersucht könnte man als gleich starkes Motiv auslegen, wenn man in Betracht zieht, daß Kirby begann, sich von Ihnen zurückzuziehen.«
»Das ist eine Lüge«. Sie sprang auf, ihre Augen funkelten, ihre schlanke Figur zitterte unbeherrscht. »Er war meiner nicht überdrüssig! Welche verlogene Katze hat Ihnen das erzählt? Die Mehrzahl der Frauen hier hat sich ins Fäustchen gelacht und einander heimlich angestoßen, nur weil Clyde dieses neue Chorgirl eingeführt hat und sich heute abend Lois Chalmers mitbrachte. Aber ich sage Ihnen, das hat gar nichts zu bedeuten. Er war meiner nicht überdrüssig!«
»Immerhin, Sie haben einen Streit mit diesem neuen Chorgirl gehabt«, bemerkte der Inspektor trocken. »Warum das, wenn Sie sich nicht beunruhigt gefühlt haben?«
»Das geht Sie gar nichts an! Machen Sie immer nur so weiter und hören Sie auf das Geschwätz dieser oberfaulen Gesellschaft hier … das wird Ihre Untersuchung gewaltig fördern! Ich … ich habe Ihnen gesagt, was ich denke, und das ist alles!«
Sie fegte durch das Zimmer auf die Tür zu und war weg, bevor McCoy sie hatte halten können.
»Hat nicht jemand gesagt, daß sie temperamentvoll sei?« lachte Tam vergnügt.
»Sehr milde ausgedrückt. Muß dem Kirby ja die Hölle auf Erden bereitet haben. Ich kann mich nicht mehr wundem, daß er Neigung gezeigt hat, sich auf eine gemäßigtere Weise zu zerstreuen.«
»Ist das die letzte Zeugin, die du heute vernehmen willst?« Als McCoy zustimmend nickte, schlug sie vor: »Wir wollen in meine Wohnung gehen, ich habe Hanna bereits benachrichtigt, daß wir gemeinsam einen Fall bearbeiten und daß sie uns etwas zum Abendbrot bereit halten möchte.«
»Gute Idee«, stimmte er zu. »Jetzt, da du von essen sprichst, merke ich, daß ich vor Hunger beinah umkomme.«
Es war eine wahre Erholung, das im Dunkel liegende Theater verlassen zu können und Tams Auto zu besteigen. Die Fahrt durch die Stadt wurde schweigend zurückgelegt, keiner von ihnen wollte auch nur mit einer Silbe den Fall erwähnen, der alle ihre Gedanken in Anspruch nahm.
Tam öffnete die Haustür, und sie stiegen zu einer außergewöhnlich schönen Wohnung hinauf. Das große Wohnzimmer war nur schwach erleuchtet, ein kaltes Abendbrot und eine Thermosflasche mit Kaffee standen auf einem der Tische, während in einer Ecke des Sofas Tams kleiner Gehilfe Dips wie eine Katze zusammengerollt fest eingeschlafen war.
Bei dem Klang ihrer Stimmen erwachte Dips, gähnte laut und setzte sich auf, ein freudiges Lächeln spielte um sein häßliches, kleines, kluges Gesicht.
»Warum bist du um diese Stunde noch nicht im Bett?« fragte Tam streng.
»Hanna erzählte mir, daß Sie mit Mac zusammen arbeiten, und ich hoffte, daß ich vielleicht heute noch etwas darüber hören könnte.«
»Das ist wieder richtig«, gab sie zu, »du wirst höchstwahrscheinlich bei diesem Falle mitarbeiten müssen.«
Diese Bemerkung erfüllte den Knaben mit Zufriedenheit. Er betete Tam an und war niemals so glücklich, als wenn er wirklich mit ihr arbeiten durfte.
»Wir haben da einen sehr merkwürdigen Fall erwischt«, bemerkte McCoy, nachdem er seinen Hunger gestillt hatte. »In den meisten Fällen kann der Mörder irgendein beliebiger Bewohner dieses Erdballes sein. Hier wissen wir, daß die Schuld nur bei einer begrenzten Anzahl von Menschen liegen kann, und wir müssen in Erfahrung bringen, welcher von ihnen den tödlichen Schuß abgefeuert hat. Außenseiter spielen hier nicht mit.«
»Natürlich wirst du bemerkt haben, daß die Kulisse im Hintergrund ganz fest war, daß kein Guckloch vorhanden war, durch welches der Mörder hätte zielen können, und auch kein Loch, das durch einen Schuß entstanden ist.«
Tam zeigte McCoy eine flüchtige kleine Skizze der Bühne, der ersten Orchestersesselreihe und der Stellung des Piratenchors. »Ich habe eine Linie gezogen, durch die ich die Girls, die zu weit rechts standen, um Kirby in Schußlinie zu haben, ausgesondert habe, so daß unsere Verdächtigungen sich auf höchstens fünfzehn Mädchen beschränken lassen.«
»Immer noch eine ganz ansehnliche Zahl«, murmelte der Inspektor, »wenn man bedenkt, daß jedes dieser Mädchen ganz vorsichtig vernommen werden muß.« Er trank seinen Kaffee in nachdenklichem Schweigen und fragte dann: »Glaubst du an die Möglichkeit, daß eine scharfe Patrone aus Versehen in die Pistole gekommen ist?«
»Das hieße dem Zufall zu großen Spielraum einräumen, wenn man sich vorstellen sollte, daß diese Kugel dann gerade Clyde Kirby getroffen hat. Wenn nicht auf ihn gezielt worden wäre, so hätte die Kugel über seinen Kopf hinweg gehen und jemanden treffen müssen, der weiter hinten saß.«
»Hm, stimmt schon«, gab McCoy zu. »Wenn die Mündung auf einen Sitz in der ersten Reihe gerichtet war, so hätte sie ein wenig gesenkt gehalten werden müssen und nicht horizontal. Es scheint, als ob ein Zufall ganz ausgeschlossen und Kirbys Tod ein Mord ist. Wollen wir wetten, wer der Schuldige ist?
»Im Augenblick noch nicht«, sagte Tam vorsichtig. »Es gibt noch so viel, was wir nicht wissen«.
»Zum Beispiel: wer Kirby mit Drohbriefen erpreßt hat oder was aus dem mysteriösen Girl geworden ist. Unter uns, mir kam es ja so vor, als ob Roger Kent etwas verheimliche – ich möchte dich bitten, diesen Mann zu übernehmen und den Erpresserbrief bei ihm abzuholen, während ich mich daranmachen werde, morgen früh Kirbys Wohnung zu untersuchen. Hast du irgend etwas dagegen?«
»Im Gegenteil. Ich möchte gern wissen, ob er immer so nervös ist wie heute abend. Wenn er die Wahrheit gesagt hat, dann war seine Bekanntschaft mit Clyde Kirby nur sehr flüchtig. Aber er schien mit Anstrengung eine heftige Gemütsbewegung zu unterdrücken. Und warum das?«
»Frag mich nicht! Ich neige mehr zu der Ansicht, daß der Mann nur aufgeregt war, weil eben ein Mord vor seinen Augen begangen worden ist. Dieser nüchterne, förmliche alte Rechtsanwalt scheint so dramatische Aufregungen nicht gewohnt zu sein.«
»Es ist möglich, daß du recht hast, obgleich ich es nicht glaube. Ich glaube vielmehr immer noch, daß er irgend etwas verbirgt.« Dann wechselte sie schnell das Thema: »War Vivian Faynes Anschuldigung gegen die kleine Mona Dare nicht ganz absurd?«
»Ich glaube nicht; nach allem, was Vivian sagt, hatte Mona Dare die stärksten Motive, von denen wir jetzt wissen.«
»Aber sie ist doch noch ein Kind! Du hältst sie doch nicht im Ernst für fähig, jemanden mit vollem Bewußtsein zu töten?«
»Natürlich wirst du Partei für jedes hübsche kleine Mädchen ergreifen«, beklagte sich McCoy gekränkt. »Bedenke doch, daß sie ihre Verlobung mit Terry Nagle verheimlicht hat! Sagt dir das gar nichts?«
»Vivian hat höchstwahrscheinlich übertrieben. Sie ist ein gräßliches Biest, und ich würde niemals glauben, daß sie die Wahrheit spricht«
»Hast sie wohl stark unter Verdacht, hm?«
»Nicht im geringsten«, verneinte Tam sofort. »Soweit ich es übersehen kann, ist die Frage der Zielsicherheit besonders wichtig. Wir werden herausbekommen müssen, welches der fünfzehn Mädels so gut schießen kann, um Kirby so sicher zu treffen.«
»Ach, paß mal auf: alle werden jetzt schwören, daß sie niemals eine Pistole berührt haben, bis zu diesem Piratenfinale«, orakelte der Inspektor düster. »Und es wird sehr schwer sein zu beweisen, welche von ihnen lügt.«
»Manche Leute sind niemals zufrieden, – hier hast du nun einen Fall, wo dir die Täterin beinah auf einer silbernen Präsentierschale überreicht wird, – du brauchst nur eins von fünfzehn Chorgirls herauszufinden – und du beklagst dich noch!«
»Das klingt viel einfacher, als es wirklich ist. Außerdem vergißt du, daß es nicht mehr fünfzehn sind, – eine von ihnen ist ja bereits verschwunden.«
»Ja! Fräulein Smith: sehr schön, mit dunkelblauen Augen und goldenen Haaren – keine sehr aufschlußreiche Beschreibung!« Tam zündete sich eine Zigarette an und rauchte, in Gedanken versunken. »Ich möchte nur gern wissen, was Mona damit meinte, als sie sagte, daß Fräulein Smith so ganz anders sei, wohlerzogener als der Durchschnitt des Bühnenvölkchens, und daß Clyde Kirby sie so seltsam rücksichtsvoll behandelt habe. Sagt dir das etwas?«
»Gar nichts. Außer, daß er möglicherweise seines Sieges noch nicht sicher war und sich deswegen stark zurückhielt.«
»Auch das kann möglich sein«, gab Tam mit einem Ton deutlichen Zweifels zu. »Wenn sie nicht aus freien Stücken erscheint, wird es sehr schwierig sein, sie aufzufinden.«
»Ja, keiner weiß ihre Adresse oder ihren richtigen Namen.«
»Hat man nicht gesehen, wie sie das Theater verließ?«
»Nein, ich ließ den Mann befragen, der an der Bühnentür steht, und er kann sich nicht erinnern, daß sie wegging, er weiß aber bestimmt, daß sie zu der gewöhnlichen Zeit gekommen war. Die Tatsache ihrer plötzlichen Flucht läßt stark an ihre Schuld glauben. Über ihr Motiv werden wir so lange nicht klar werden, bis wir nicht einen Fingerzeig haben, wer sie überhaupt ist.«
»Sie kann vielleicht auch weggerannt sein, weil sie wußte, wer den Schuß abgegeben hat, und sich aus irgendeinem Grunde fürchtete, es zu sagen. Du mußt bedenken, daß sie von ihrem Platz am äußersten linken Flügel den Überblick über fast alle andern Girls hatte. Und die andern zwei, Vivian und Mona Dare, standen so nahe vor ihr, daß sie etwas Auffallendes in ihrem Gehaben unmöglich hätte übersehen können. – Wenn wir erst einmal wissen, weshalb sie unter angenommenem Namen auf dieser Bühne aufgetreten ist, und weshalb sie die wahren Angaben über ihre Person verschwiegen hat, dann werden wir auch die Antwort auf manche Frage haben. Weißt du zufällig, ob sie sich Zeit genommen hat, sich umzuziehen oder ob ein Piratenkostüm fehlt?«
»Nein, das habe ich leider noch nicht ausfindig gemacht«, gab McCoy voll Bedauern zu, »aber wichtig ist es zur Feststellung, in welcher Eile sie geflohen ist. Anfangs glaubte ich, daß ich diese Sache, in der wir die Täter doch sozusagen zwischen den Händen haben, noch heute nacht aufklären könnte und den Täter heute nacht schon hinter Schloß und Riegel haben würde; aber je weiter die Untersuchung fortschreitet, desto verworrener wird das Bild. Es ist sehr die Frage, ob ein gewöhnlicher Mord, bei dem man den Schuldigen aus der anonymen Riesenmenge herausfischen muß, schließlich nicht doch einfacher ist als der Fall, den wir hier vor uns haben.«