Carl Spitteler
Olympischer Frühling
Carl Spitteler

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Fünfter Gesang
Die sieben schönen Amaschpand

                Noch füllte schwarze Nacht die weite Welt, und kaum
Entstieg dem Horizont des Frühlichts blasser Saum,
Da rauschte nach dem Himmelsturm auf Flammenschwingen
Der Morgenvogel Phönix und begann zu singen:
«Zittjo! Es naht ein Feuer aus dem finstern Land.
Die Sonne war nicht tot, sie lebt, sie auferstand.
Ein strahlend Volk von Kriegern kommt vor ihr gegangen.
Wacht auf! wacht auf! des Tages Fürstin zu empfangen.»
Er sangs und drehte sich verzückt im Tanz und Schwung.
Dann fiel er lautlos in das Grab der Dämmerung.

Doch unten in des Labyrinthes grauem Düster
Erwachte nach und nach ein munkelndes Geflüster.
Und blinzelnd mit den Wimpern, die der Schlaf noch schloß,
Ermahnten strafend sich die Töchter Uranos':
«Frisch auf, ihr Schwestern! Eure jungen Glieder rührt!
Des Phönix Stimme, mein ich, hab ich längst gespürt.»
Husch! Aus den Kissen welch ein wimmelndes Gewühl!
Und doppelfüßig sprangen sie geschwind vom Pfühl,
Und wie sie nun, ein Knie aufs andre Knie gebogen,
Die schmeichelnden Sandalen um die Knöchel zogen:
«Sag an», begannen sie, «geliebte Schwester traut,
Was hat dein töricht Mädchenherz im Traum geschaut?
Geschah dir Liebes? Oder ward dir bang und wehe?
Doch was es immer sei, das melde und gestehe.»
«Mein Traum», versetzte sie, «war licht und wohlgetan.
Der Gäste freundlich Antlitz schaut ich fröhlich an.
Wir boten hin und her die Hand uns friedlich dar
Und wohnten brüderlich beisammen Jahr um Jahr.»
«Ei sieh nur, wie doch manches wunderlich gerät!
Denselben Faden hab auch ich im Traum genäht.»
Und wie den Hals sie steckten durch des Kittels Falten
Und um den schmalen Leib den engen Gürtel schnallten:
«Erkläre, liebe Schwester, und ergründe mir:
Schnee ist dein Röcklein, Lilien sind die Schuhe dir
Und Silberschaum dein Gürtel. Solltest dus bereuen,
Im schmucken Festtagskleid die Gäste zu erfreuen?»
«Mein Herz springt hoch. Es ist so glücklich und so rein.
So muß auch mein Gewändlein weiß und blendend sein.»

Und als das ungefüge üppige Lockenhaar
Bewältigt und mit Nadeln festgezwungen war:
«Die Wahrheit frage, liebe Schwester, was sie spricht:
Bin ich erträglich oder häßlich von Gesicht?»
«Die Wahrheit sagts, die Sonne wirds bejahen müssen:
Schön bist du, dessen will ich dir den Nacken küssen.»

Drauf stiegen sie hinunter in den Dienersaal,
Allwo ihr Mund den Schaffnerinnen dies befahl:
«Gruß euch und Frieden! Eilt hinauf ins Prunkgemach,
Die besten Kleider wählt daselbst, tragt sie hernach
Fein und behutsam in der Gäste Ruhezimmer.
Doch daß sie ja mir nicht erwachen, sorget immer!
Die staubigen Mäntel aber ihrer Wanderschaft
Entwendet unvermerkt und ihrem Blick entrafft.»
Dann zu der Engel Dienstgesinde sprach ihr Wort:
«Heil euch zum Gruße! Eh ihr zieht zur Arbeit fort,
Laßt einen milden Mahnspruch dringend euch empfehlen:
Auf leisen Sohlen sollt ihr euch von hinnen stehlen,
Kein schallend Wort vernehmen lassen oder Singen,
Und eitlen Lärm vermeidet ja vor allen Dingen,
Auf daß das luftige Traumbild, das den Schlummer würzt,
Ihr nicht verscheucht und unsrer Gäste Schlaf verkürzt.»
Und also schwärmten an die Arbeit jetzt verstohlen
Die emsigen Engelvölker auf verschwiegnen Sohlen,
Die einen in die Ferne über Berg und Tal,
Im Haus und Heim die andern durch Gemach und Saal.
Und allenthalben jetzt vom Dachstuhl bis zum Keller
Begab sich ein gedämpftes Summen und Geträller,
Von Zeit zu Zeit durchblitzt von kicherndem Gelächter.

Zu Pluto aber, dem getreuen Himmelswächter,
Wallten die Königstöchter jetzt gemeinsam hin,
Erhoben ihm den Löwenkopf und schalten ihn:
«Gesteh! Wo bist du wieder letzte Nacht geblieben?
Und wo im Himmel hast du dich herumgetrieben?
Sieh, wie du blutig, schmutzig und verschlafen bist!
Wenn das, sag selber, etwa nicht zum Strafen ist?»
So riefen sie ihm scheltend in das Augenrund
Und zausten ihn und küßten seinen grimmen Mund,
Indessen kläglich winselnd der Bejämmerte
Den Boden mit dem zottigen Schweife hämmerte,
Den Tadel ahnend, nicht des Tadels Ironie.

Danach zum Pferdestall hinüber schritten sie.
Und als die mächtige Eichentür sie aufgeschlossen,
Begannen sie und sprachen zu den Flügelrossen:
«Heran zu mir! Dieweil ihr uns verwichne Nacht
So wohlgeschlachte Freund und Gäste heimgebracht,
Soll solchen guten, wohlgesinnten Minnepferden
Des Zuckers leckrer Imbiß heut verdoppelt werden.»
Hei, wie die Renner hurtig jetzt die Krippen ließen
Und stürmisch ihre Nasen nach dem Zucker stießen!
Kaum daß die Jungfern vor gewaltiger Bedrängnis
Zu stehn vermochten in dem strampelnden Gefängnis,

Also mit nützlichen Geschäften allerlei
Gingen sie hin und wieder und die Zeit vorbei.
Allein nach einer Stunde meinten wohlgelaunt
Die Schwestern zueinander: «Ei, fürwahr! mich staunt
Des späten Schlafes, der sich ewig frisch erneut!
Seht, wie der Tag sich rötet und der Himmel bläut!
Und wie des dämmernden Gebirges Silberspitzen
Im Demantfeuerbad der Morgensonne blitzen!
Indessen durch des Labyrinthes Schacht und Stollen
Ich schon des Vaters fleißigen Wagen höre rollen.
Drum laßt uns, bis die Gäste völlig wach gediehen,
Den Park umkreisen und das Paradies umziehen.»
Und als sie eine Stunde lang im weiten Bogen
Den Park umkreist und um das Paradies gezogen:
«Herzliebe Schwestern», lachten sie, «ei, daß dich doch!
Noch schlafen wahrlich unsre Gäste, schlafen noch!
Während vom tiefen Tale bis zum Hügelkranz
Die weite Welt ergrünt im hellen Tagesglanz!
Schon stirbt der Tau dahin, schon neigt auf welken Stengeln
Sich Kraut und Gras, und von den Wiesen schweigt das Dengeln.
Wohlan, so wollen wir uns dieses Mal bequemen,
Dreimal den Umgang langsam um den Park zu nehmen.»
Nachdem nun abermals der Umgang war vollzogen,
Dreimal, mit trägen Schritten, die sie zaudernd wogen:
«Herzliebe Schwestern», riefen sie, «mir bangt und graut,
Ob Unheil nicht geschehen unsern Gästen traut.
Kommt, laßt uns insgesamt zu ihrem Lager eilen,
Mit meinen Augen, hoff ich, unsre Angst zu heilen.»

Und also, gern gehorchend dem verständigen Rate,
Brachen sie auf und eilten nach der Kemenate,
Wo sie, bezwungen von des Schlummers zarten Banden,
Zu ihrem Trost die Freunde ruhig schlafend fanden.
Geschahs aus Vorwitz? oder tats der Übermut?
Ans Lager hurtig huschend, wohl auf ihrer Hut,
Den Schlaf nicht aufzustöbern, setzten sie geschwinde
Sich auf den Rand des Bettes, sachte und gelinde.
Hernach, nachdem sie eine Weile still und schweigend
Verharrt, ihr Antlitz auf die Stirn der Schläfer neigend,
So daß gleich eines Vorhangs schattigem Faltenfall
Das Kissen überflutete der Lockenschwall,
Erhoben betend sie den Morgensang und -segen:
«Friede mit euch und Heil auf allen euren Wegen!
Was euer Wunsch begehrt und was euch frommen mag,
Werd euch zuteil an diesem heiligen frohen Tag.»
Und als nun unversehens auf der Schläfer Wangen
Der Tränen Perle ruhig rollend kam gegangen:
«Getrost, vielliebe Freunde! Sagt, was weinet ihr?
Freundschaft allein und Liebe wartet euer hier.
Der Kummer ist verbannt, die Tränen sind verpönt
In diesem Hause, das der Frohsinn nur verschönt.»
Aus tiefstem Busen seufzend, nach der Schläfer Weise,
Entgegneten erwachend jetzt die Gäste leise:
«Wes ist das süße Antlitz, das mich hold umschattet?
In welcher seligen Heimat lieg ich sanft bestattet?
Durch meine schlummerschweren Wimpern, glanzumstrahlt,
Flutet ein blendend Lichtmeer, farbentraumdurchmalt.»
«Wo solltest du», versetzten sie, «Geliebter mein,
Wo anders als in unsres Vaters Himmel sein?
Den Born des Glanzes speist das gnädige Sonnenlicht,
Dies Antlitz aber ist mein schlichtes Angesicht;
Das weiß von keiner andern Tugend oder Güte
Als dich zu lieben, Freund, aus zärtlichem Gemüte.
Doch sprecht: was soll sich nun zunächst mit uns begeben?
Steht euer Wille, sich vom Lager jetzt zu heben,
Und zielt nach Spiel und Kurzweil euer Zug und Trieb,
Und nehmt ihr auch mit unsrer Gegenwart vorlieb,
So wollen unterdessen wir im Blumengarten
Gehorsam und geduldig eurer Ankunft warten.»
Mit diesem Wort verließen sie die Kemenate,
Und gern gehorchten jene dem willkommnen Rate.

Und als sie nun erschienen in dem Blumengarten,
Wo schon die Königstöchter ihrer Ankunft harrten,
Begannen sie: «Ihr edlen Jungfraun unbekannt,
Mit welchem feinen Namen werdet ihr genannt?
Und wer von zweien ist die andre von den beiden?
Denn schwierig hält es, Stern von Stern zu unterscheiden.»
So sprach die Neugier traulich aus der Freundschaft Mund,
Und Aufschluß gab die Gegenrede huldvoll kund:
«Mit zweien feinen Namen werden wir genannt.
Sprich 'Peri' oder willst du lieber 'Amaschpand',
Daneben manche Knuspernamen, wie zu glauben,
Schenkt uns der Vater, von den Rehen zu den Tauben.
Ihr aber nennt uns bloß die sieben sanften Maiden,
Habt uns ein wenig lieb und mögt uns duldsam leiden.
Auch weiß man unter uns von keinem Unterschied,
Wir sind von einem Chor ein siebenstimmig Lied:
Was ihr der einen gönnt, das danken euch die andern.
Doch, seid ihrs willig, laßt uns durch den Garten wandern.»

So sprechend, liefen sie die knirschenden Terrassen
Hinunter zwischen hohen Oleandergassen
Und langen Leuchterstraßen glühender Granaten,
Bis plötzlich, als sie auf den Rasenrundplatz traten,
Mit Wassergaukeltanz und Sonnenbogenspiel
Ein Blumenfeuer ihre Augen überfiel.
Indes ein ängstlich Heer von flüchtigen Atomen
Die Luft bevölkerte mit schüchternen Aromen.
Da klatschten sie vergnügt die Hände: «Wahrlich! ja!
Im stygischen Sumpfe war es anders, traun, als da!»
Von dannen wieder schlüpft ihr Wandel in die Enge
Verschämter, dämmerlichtdurchspielter Laubengänge,
Wo zwischen Kletterrosen, Gaisblatt und Jasmin
Sie eine lange Stunde zogen her und hin.
Dann zu den Schaukeln stürmten sie und Spielgerüsten,
Im Wettlauf sich zu messen trieb sie das Gelüsten.
Doch Schmach! Im Laufe wie in jedem andern Spiel
Gewann der Mädchen Schnelligkeit zuerst das Ziel.
Doch als sie endlich nach erneuter Wanderung
Des Gartens Schluß erreichten an dem Mauersprung,
Von wannen jählings in die Wind- und Wolkenwelt
Die starre Himmelswand in steilem Sturze fällt,
Eins, zwei, ersprang den Mauerkranz die Mädchenschar,
Streckte den Rücken, bändigte das trotzige Haar,
Und ehe ihre Absicht deutlich offenbar,
Husch! tauchten sie kopfüber in die luftige Flut.
Getrost! Das Bett verriet sie nicht, es trug sie gut.
Schon weisen lachend sie die wohlgeformten Zähne.
Kennst du im stillen Teich den Linienschwung der Schwäne?
Sahst du um eine Zinnenkrone Taubenflüge
Beschreiben ihre ordnungskundigen Zirkelzüge,
Des ruhigen Äthers ebenen lazurnen See
Mit Pfauenglanz durchwirkend und mit Flügelschnee?
So kreuzten jene schwimmend durch das Luftrevier,
Und jeglicher Bewegung lieh die Anmut Zier.
Aufseufzend vor Bewundrung beides und vor Trauer
Gewahrtens die Gefährten, stehend längs der Mauer:
«Weh mir! Mein Herz ist traurig, weil mein Auge lacht,
Denn sie sind fein, wir aber plump und ungeschlacht.»

Mit Lachen aber und mit neckischen Winken vielen
Reizten die Peri jetzt die staunenden Gespielen:
«Warum nur wollt ihr denn nicht auch die Lust genießen,
So weich und flaumig durch die linde Luft zu fließen?
Ledig und unbehindert, frei in allen Stücken,
Der Himmel über dir, die niedre Welt im Rücken,
Im goldnen Wolkenschwund auf blauem Äthergrund,
Das ist vor allen Dingen sorglos und gesund.»
Und da die Freunde scheuen Blicks die Tiefe maßen,
Wo über Wolkendächern Nebelnester saßen
Und der Gebirgesknochen stachlichtes Gerippe
Die Himmelsburg belagerte mit Spieß und Hippe
Und nirgends Boden oder Halt zu sehn und spüren:
«Kommt», riefen sie, «wir wollen an der Hand euch führen.»
Und gleich wie auf der Eisbahn tückischen Geleisen
Geschwister sich einander Schick und Vorteil weisen,
Und wer von ihnen, sei es an Verstand und Jahren,
Seis durch geduldige Übung reiflicher erfahren,
Der springt dem Unbeholfnen bei und dient und nützt
Ihm mit gespanntem Arme, der ihn hält und stützt,
Bis daß zuletzt sein Beispiel und beredter Spruch
Den Zaudernden vermag zum tapferen Versuch:
So faßten hilfreich nun die schönen Amaschpand
Das nächste Trüpplein eifrig mahnend an der Hand,
Zur Rechten eine und die andere zur Linken:
«Nun Mut jetzt! Schließt die Augen, laßt euch einfach sinken!»
«Zu Hilfe! ach!» Ein kurzer Schrei, ein kleiner Fall,
Dann stieß ihn sanft empor der Wipp und Widerprall.
Nun ward der Wille, der sich eben noch geweigert,
Durch den Erfolg zur hitzigen Begier gesteigert.
«Nun ich!» «Nein, ich zuerst!» In ungeduldiger Wette,
Als ob ein schwer Versäumnis sie gestachelt hätte.
Das Spiel gewann Geschmack, der Ehrgeiz lieh den Saft,
Und aus der Übung flackerte die Leidenschaft.
Also vertrieben sie ergötzlich sich die Stunden,
Und immer neu Genügen ward im Glück gefunden.
Da huben an die Königskinder: «Werte Gäste,
Geliebte Freunde, welches dünkt euch nun das beste?
Siehe, die Schatten fliehn, der Glast sticht grell und heiß,
Darum, wofern ein Besserer nichts Beßres weiß,
So laßt uns in der marmorkühlen Brunnenhalle
Erproben, wie euch trauliches Gespräch gefalle.»
Und da man einmal doch von hinnen mocht und mußte
Und auch kein Beßrer irgend etwas Beßres wußte,
Begaben sie sich in die kühle Brunnenhalle
Und freuten sich des traulichen Gespräches alle,
Einander wohlgesinnt und selber wohlgelaunt.
Verwundert aber meinte einer und erstaunt:
«Ihr königlichen Maiden, hehr und schön und licht,
Wer gab euch solch ein klares Sonnenangesicht?
Denn sieh, es anzuschauen ist mir wahrlich lieb,
Und freundlich es zu küssen spür ich Zug und Trieb.»
«Nein, Freunde, was ihr redet, ist gewiß nicht wahr.
Denn wäre ja mein garstig Antlitz licht und klar
Und liebtet ihrs zu schaun, ihr würdet mirs beweisen
Und heute nicht von hinnen in die Ferne reisen.»

Und wieder mit Bewunderung und frohem Staunen
Begann ein anderer das Flüsterwort zu raunen:
«Wann blüht der Stein? Kennt auch der Demant Harmonie?
Denn alabastern schimmern eure Arm und Knie.
Doch gleich dem Liedeshauch, dem Dichtergeist entsprossen,
Seh ich von sanftem Rhythmus schmeichelnd euch umflossen.»
«Nein, weder Rhythmus ist uns, weder Harmonie.
Denn wären alabastern unsre Arm und Knie,
So würdet ihr sie minder heftig fliehn und hassen
Und nicht vor Abscheu also schleunig uns verlassen.»

Und da nun immerwährend heimlich und verschwiegen!
Die Sonne rückte zum Zenit auf stillen Stiegen,
Den Tag verdrängend, und der Stunden Diebesschritt
Den knappen Urlaub hinterlistig stets beschnitt:
«Ihr lieben Gäste, offen seid nunmehr gefragt»,
Sprachen die schönen Peri, «doch die Wahrheit sagt:
Geschieht es auch mit eurem Willen, frei und gerne,
Daß ihr von hinnen heute scheidet in die Ferne?
Wo nicht, war euch vielleicht zu unserm Nutz und Frommen
Ein ewiger Aufschub in des Vaters Haus willkommen?»
«Mitnichten gern und willig, nein, ihr holden Maiden!
Verhaßt und bitter ist es uns, von hier zu scheiden.
Und könnten ewiglich bei euch wir Jahr um Jahr
Verweilen, köstlich schmeckt uns solches ganz und gar.»
«Ei nun! ists also», rief erfreut der Maiden Mund,
«So laßt uns eilends schließen einen Rädelsbund,
Des Vaters weich Gemüt durch Mitleid zu betören,
Damit er unser Flehen gnädig mög erhören.
Merkt auf! Am Mittag, wenn die Sonn am höchsten steht
Und ihrem Anblick sein melodisches Gebet
Des Schlosses blanker Marmelstein entgegenbringt
Mit sanftem Summen, das wie Harfentönen klingt,
Und von des Turmes Zinne schaut der Vater aus
Und grüßt die weite Welt und segnet Heim und Haus:
Das ist der Augenblick, sein Mitleid zu beschwören.
Nun aber wollet wohl auf meine Worte hören:
Damit der Bitte die Gewährung nicht gebreche,
Erlernt vorerst des Vaters einzige kleine Schwäche.
Er, der Gewaltge, dem an Größe keiner gleich,
So hoch, so gut, so weis, an Ruhmestaten reich,
Dem Gnade quillt vom Mund und Majestät vom Scheitel,
Derselbe auf ein unnütz Stücklein ist er eitel:
Daß er die Stern am Firmamente alle kennt
Und jeden Gipfel flink mit seinem Namen nennt.
Auf dieses ist er stolz, das brennt er vorzuzeigen,
Und bange wird ihm, solche Weisheit zu verschweigen.
Bewundre aber seine Wissenschaft und Kunst,
So heilst du ihn, und du stehst hoch in seiner Gunst.
Nunmehr versteht ihr: ist der Boden erst erweicht,
Gedeiht dir jeder Same, den du pflanzest, leicht.
Doch darf dem schlauen Vöglein wohl das Zünglein fehlen?
Wir müssen einen angenehmen Fürsprech wählen.
Gewiß, wir sind ja seine Kinder alle sieben,
Nicht mehr das eine als das andre mag er lieben.
Doch Eos sonderlich, sein jüngstes, liebstes Kind,
Ist seinen Augen Tau und seinem Herzen lind.
Sie kann die Stimme schmelzen und die Äuglein rollen,
Und leicht erbettelt sie ein jedes, was wir wollen.
Von Eos also laßt uns die Erlaubnis fragen.
Wenn sies nur ernstlich will, er kann ihr nichts versagen.
Wohl droht er mit dem Finger: ‹Ei, ihr falschen Schlangen!
Mit Schmeicheln, meint ihr, könntet ihr den Vater fangen?›
Er herzt und küßt sie unaufhörlich, bis die Zähren
Dem Aug entschlüpfen und dem Munde das Gewähren.»
So rieten sie. Allein mit heftiger Empörung
Verweigerten die Gäste trotzig die Verschwörung,
Bis daß mit runden Reden und mit krummen Schlüssen,
Mit unablässigem Drängen, Schmollen, Betteln, Küssen
Die Mädchen ihnen endlich stürmten die Gedanken
Und der erschütterte Entschluß geriet ins Wanken.
«Doch weh uns, wenn er wahrnimmt, daß wir ihn betrogen!»
«Er bleibt euch für den lieblichen Betrug gewogen.»

Und also ward der Widersacher zum Genossen
Und feierlich gelobt, beschworen und beschlossen,
Nicht gen Olymp zu ziehn, von hinnen nicht zu weichen
Und des von Uranos das Jawort zu erschleichen,
Mit gleisnerischem Mund die Namen aller Firne
Von ihm erbetend, und die Zeichen der Gestirne ;
Sich auf den Abend ausbedingend überdies.
Dermaßen dünkten sie des Sieges sich gewiß,
Daß sie, als wäre Zuversicht und Selbstvertrauen
Ein fester Grund und Boden, Pläne drauf zu bauen,
Der Zukunft maßen eine Stundenklammer an
Und der Glückseligkeit verschrieben Weg und Bahn,
Indem sie für die nächste Handvoll Ewigkeiten
Das liebe Leben rüsteten mit Festgezeiten,
Dem muntern Morgen einen frohen Abend stechend
Und Müßiggang mit Kurzweil kunstvoll unterbrechend.
Und sieh, je länger, desto flinker und behender
Geriet dem findigen Geist der Freudenfestkalender.
Ein Einfall flatterte geschickt dem andern nach,
Und immer kühner wimpelte der Wunsch vom Dach.

Und als beim Mittagstundenschlag den Sonnenschein
Mit Harfentönen nun besang der Marmelstein
Und hoch vom Glockenturm der König im Gebete
Den Segen auf die weite Welt herniederflehte,
Eilten sie rasch nach oben, und mit listigem Munde
Erfragten sie von ihm die Gipfel in der Runde,
Wie man den einen heiße und den andern hieß,
Und jenen dort im Hintergrunde überdies,
Und wie am Abend nachmals gleichfalls sie so gerne
Die Namen alle lernten und den Lauf der Sterne.
Und lobten eifrig seine Wissenschaft und Kunst,
Bis daß sie standen hoch und fest in seiner Gunst.
Jetzt trat hervor und an des Vaters Schulter schmiegte
Sich zärtlich Eos, die in Schmeichelkunst Gewiegte,
Verzog die Lippen, ließ die schnellen Äuglein rollen
Und schmunzelte und sprach mit Betteln und mit Schmollen:
«Mit Kummer muß seit einiger Zeit und Trauer ich
Bemerken, Vater, wie du kalt und wunderlich
Uns deine einstige Liebe mehr und mehr entziehst,
Uns, deinen Kindern, deren Dankesblick du fliehst.
Nur Strenge magst du gegen uns und Härte üben,
Mit Spott uns kränken und Verboten uns betrüben.
Glaubst du, wir könnten wirklich länger uns bescheiden,
Der Vaterliebe zu entraten? Eins von beiden:
Wofern wir etwas unbewußt vielleicht verbrochen,
Wohlan, bestraf uns, doch auf einmal seis gerochen.
Bestehen wir im Gegenteil vor dir mit Ehren,
Warum uns dann den kleinsten Herzenswunsch verwehren?
Ists denn so unerträglich, jemand zu erfreuen?
Ach, der ist liebesarm, wen Liebeszeichen reuen!
Sieh dein und unsre Gäste, die in diesen Stunden
Zu traulicher Gemeinschaft sich mit uns verbunden,
Willst du, hast du den Mut, gewaltsam sie von dannen
Zu ihrem und zu unserm Herzeleid verbannen?
Was hindert, daß sie, unsre Einsamkeit zu heilen,
Ewig an deinem Herd an unsrer Seite weilen?
Bist du Anankes Sklav und unterwürfiger Knecht?
Spricht nicht dein Herrscherwille hier Gesetz und Recht?
Was gilt uns der Olymp? Was kümmert uns die Freite
Und eine fremde Jungfrau in entlegner Weite?
Sie mögen sich begnügen mit den eignen Frauen
Von göttlichem Geschlecht und herrlich anzuschauen.
Und wir? Sind wir denn selber Eulen ganz und gar,
Daß man uns fliehen müßt und litt uns nicht, fürwahr?
Drum wohl, an diesem Beispiel will ich jetzt erproben,
Ob wir uns ferner deiner Liebe dürfen loben!
Ein Täflein hurtig schreib und einen Boten sende
Hinüber zum Olymp und Büß- und Reugeld spende,
Des Inhalts, daß sie ganz umsonst und gar vergebens
Der Freier harrten alle Tage ihres Lebens,
Sie blieben hier zu ihrer Wohlfahrt Nutz und Frommem
Und unsrer Lust, den Spruch des Schicksals unbenommen.
Also, gestrenger Vater, wollest gnädig tun.
Doch deines Herzens Sinnesart erweist sich nun.»

So sprach die falsche Schmeichlerin, und lieblich tönte
Das heuchlerische Schluchzen, das sie kläglich stöhnte.

Kopfschüttelnd aber schritt der Vater auf und nieder,
Bald dies im Geist erwägend, bald ein andres wieder,
Endlich begann er: «Ei, ihr hinterlistigen Schlangen!
Ihr glaubt wohl, eure Falschheit wäre mir entgangen?
Meint ihr, ich hätte nicht vom ersten Anbeginn
Gar wohl gemerkt, wo die Verschwörung zielte hin?
Der Berge jähe Lernbegier? das Sternedeuten?
Und all das fromme Mienenspiel und Redeläuten?
Doch wer da wähnt, daß Heuchelkunst und Schmeichelei
Ein Eingangstor zur Festung meines Willens sei
Und daß ich wegen schöner Augen, holder Mienen
Den Aufruhr krönen werde und dem Umsturz dienen,
Der täuscht sich gröblich, merkt euchs, Kinder, ganz und gar!
Der kennt nicht Uranos, den strengen Herrn, fürwahr!
Ich wandle meiner Wege ohne Unterbruch
Und kenne bloß mein Amt und des Geschickes Spruch.»
Er riefs. Doch mit verliebten Vaterhänden scherzte
Er kosend um des Lieblings Lockenscheitel, herzte
Und küßte sie und alle Kinder in der Runde
Mitleidig und ergriffen eine kleine Stunde,
Bis daß er endlich länger nicht dem Aug die Zähren
Und seiner Zunge die Erlaubnis konnte wehren.

Und also ging er hin, und einen Boten flink
Beschied er aus der Engelschar mit Ruf und Wink
Und hieß ihn kräftig rühren die geschweiften Schwingen.
Und hurtig zum Olymp die Meldung sollt er bringen
Des Inhalts, daß sie ganz umsonst und gar vergebens
Der Freier harrten alle Tage ihres Lebens,
Dieweil allhier sie in des Himmels reinen Wonnen
Sich wohlbefänden und sich anders umbesonnen.
Doch dessen zum Ersatz und zur gerechten Buße
Gab er ihm reichlich Straf- und Reugeld mit zum Gruße.

Kaum aber daß der Bote seine Schwingen hob,
Den Fuß vom Himmel stoßend: «Dank und Preis und Lob,
Ehrwürdiger Vater», schluchzten laut die guten Maiden,
«Für die Gewährung, die du mochtest uns bescheiden!
Doch sieh uns hier zerknirscht zu deinen Füßen knieen,
Bis unsre Arglist du entschuldigt und verziehen.»
Und als er ihnen vollen Ablaß gern verkündigt,
Mit Segensküssen auch den falschen Mund entsündigt,
Hei, schnellten die Befreiten leichten Sprungs empor!
Und gleich den Lerchen, wenn im Maienmorgenchor
Sie schmetternd jauchzen die betauten Fluren wach,
So schwangen sie die Triller über Haus und Dach,
So daß Gebirg und Tal, soweit der Himmel grenzte,
Von ihrer goldnen Stimmen Sonnenschein erglänzte.

«Unser auf ewig!» Und mit ungestümem Lauf
Brachen sie wieder nach der Brunnenhalle auf,
Wo triumphierend sie den köstlichen Besitz
Nunmehr umarmten, den erstritt ihr Weibeswitz,
Beschlossen, Brüder sich und Schwestern jetzt zu nennen,
Und schwuren, nimmer voneinander sich zu trennen.
Auf daß jedoch besiegelt sei der ewige Bund
Und ihr erworben Anrecht werde offenkund,
Gestanden sie mit Demantstift dem Marmelstein
Die Namen alle der Verschwornen schriftlich ein.
Da ward der Arbeit viel und seliger Mühe lang.
Und Flüsterkuß und seufzend Schweigen war im Schwang.


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