Carl Spitteler
Olympischer Frühling
Carl Spitteler

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Vierter Gesang
Bei Uranos

                        Und wie sie staunend auf die Staffelwiese traten,
Durch Ströme roten Feuers meinten sie zu waten.
Ein Urgebirge schimmerte darüber her,
Und in den Tiefen nachtete ein Wäldermeer.

Noch hatten sie, vom Abendflammenglanz geblendet,
Den Blick nicht eingespannt, das Staunen nicht beendet,
Da spürten sie von Rossewiehern, Bügelklirren
Sich unversehns umringt, von frohem Grüßeschwirren
Umlärmt und blindlings jeder sich aufs Pferd gehoben.
«Vorwärts!» Der Herold stieß ins Horn, die Nüstern schnoben,
«Zu früh! Halt ein!» Umsonst, da half kein ängstlich Schreien.
Von dannen stieß der Flug mit Lachen und Juchheien.

Heißa! Das war ein tollgemuter Höhenritt,
Der ihre Stirn umpfiff und ihren Atem schnitt.
Beim Abendabschiedsgruß und Allerwindenkuß
Entflohen Berg und Wald und Fluren Schuß um Schuß.
Ein Farbenrausch, ein Glanzgewimmel allerorten.
Doch als sie durch des Urgebirges Riesenpforten
Aufstürmten, wo der Hufe praller Schall metallen
Vom Boden dröhnte, füllte Düsternis die Hallen.
Verwischt, erloschen war des Abends Rosenspur.
Flüsternd erzählten fahle Zwielichtschleier nur
Und würziger Nelkenhauch, mit Rosmarin gebeizt,
Ein Lied von Mittagsglut, im Felsenrost geheizt.
Doch mühsam ließ die Form der Dinge sich erwahren.
Manch wunderbare Abenteuer und Gefahren,
An denen sie in strenger Jagd vorüberflogen,
Entschnellten ihnen ungeahnt und unerwogen.
Verspätet erst, mit rückwärtsschauendem Genick
Erriet, was er versäumte, der begierige Blick.
Den Gipfel 'Könntichmöchtich' sahen sie verglühen;
Die Sonnenrosse, weidend auf den roten Flühen,
Sahn sie in Rudeln durch das Gras der Leite sprengen,
Ihr Wiehern in der Flügelpferde Gruß zu mengen.
Zum andern merkten sie die Hindinnen der Nacht,
Die vor dem Tal der Träume halten stille Wacht,
Wehmütige Märchen aus den großen Augen staunend
Und ahnungstiefe Rätsel mit den Lippen raunend.
Danach erlauschten sie die lächelnde Chimäre,
Aus rosigem Schein gezeugt und sehnsuchtsüßer Leere,
Den Vogel Argus auch, der feuersternbeschweift
Das spiegelnde Gefieder überm Abgrund schleift,
Die Zehen, gleich als ob er ginge, schrittweis hebend,
Doch insgeheim im Bodenlosen tückisch schwebend.
Bis daß sie schließlich kamen auf die Silbermatt,
Wo man den Mond zur Hand, die Welt zu Füßen hat.

«Herold», begehrten sie, «erschließe deinen Mund
Und gib uns huldreich Antwort auf die Frage kund.
Denn wundersam und unverständlich ist zu sagen
Der Flügelpferde widersprechendes Betragen:
Die Kniee schleudern sie in übermütigem Bogen,
Als wie von einer nahen Heimat angezogen.
Die Hälse aber jucken furchtsam sie sodann,
Als wie erschreckt von eines strengen Herrschers Bann.
Zum dritten schwenken zärtlich sie die glatten Lenden,
Gleich Mädchen unter des Geliebten Schmeichelhänden.»

Da wandte sich der Herold, tat geschwind vom Mund
Das klare Horn und gab die Antwort freundlich kund:
«Die Kniee schleudern jene, weil sie von daheim
Die Krippe wittern und des Hafers leckern Seim.
Der starke Herr hernach, davor ihr Antlitz scheut,
Ist Uranos der Große, der allhier gebeut.
Doch wenn sie zärtlich ihre glatten Lenden schwenken,
Geschieht es, weil sie lüstern die Gedanken lenken
Nach den erlauchten sieben edlen Amaschpand,
Des Königs schönen Töchtern, deren feine Hand
Den Sattel ihnen lüpft und ihr Gebiß entzäumt
Und ihre heißen Nüstern kraut, von Gischt umschäumt.»

«Wohl!» sprachen sie, «doch übe länger noch Geduld
Und leih zum zweitenmal uns deiner Antwort Huld:
Barmherzig, wissen wir, ist Uranos und gut.
Warum vor seiner Nähe schwindelt mir der Mut?
Gleichsam als wenn aus eines Dickichts kleiner Enge
Plötzlich ein riesenhafter Bergturm jach entspränge?»

«Mein Herr», erwiderte der Herold, «ist verschlossen.
Ein ehern Rätsel, drum das Schweigen ist gegossen.
Wohl kennt und rühmt ein jeder seine hehren Taten,
Allein den Sporn, die Springkraft kannst du nicht erraten.
Der Rätsel größtes aber ist sein Wandelgeist,
Der dem erstaunten Urteil ewig Wunder weist,
Der, stets sich ändernd, zeigt ein immer neu Gesicht,
Das scharfgeprägt ihm aus dem Grund der Seele bricht.
Das Nahe spießt er und umspannt die ferne Weite,
Und jeden Würfel wirft er auf die rechte Seite.
Gleich wie der Panther, der ein fliehend Reh umkrallt,
Mit seinem Opfer sich zum grausen Knäuel ballt
Und gibt es nimmer frei und hält es fest umklammert,
Bis daß in seiner grimmen Faust es ausgejammert:
So siehst du seinen zornigen Geist die Dinge packen,
Und jeder flüchtigen Wahrheit sitzt er fest im Nacken.
Doch daß die Freundlichkeit dem Bilde nicht gebreche,
Geziemt mir, daß ich auch von seiner Milde spreche:
Des bunten Wechsels Einheit ruht in seiner Güte,
Die Gnad und Nachsicht zeitigt und des Lächelns Blüte.
Drum wollt hinfort der eitlen Angst und Sorge wehren:
Er wird gleich als ein Knecht die edlen Gäste ehren.»

«Hab Dank!» versetzten sie. «Doch woll uns nun daneben
Von seinen sieben Töchtern gleichfalls Auskunft geben,
Ob sie dem Vater ähnlich oder ausgeartet
Und spröd und herrisch sind, so daß uns Spott erwartet.»

«Groß», rief der Herold, «ist das Himmelskönigtum.
Vieltausend helle Sterne flimmern um und um.
Doch keine Sonne, kein Gestirn im Himmelreich
Kommt meines hohen Herren edlen Töchtern gleich.
Wer niemals sie geschaut, wer nicht ihr Lächeln kennt,
Weiß nicht, was Liebreiz ist und was man Anmut nennt.
Ihr arglos Kindesauge, rein und echt und wahr,
Dem keine Bosheit jemals widerfahren war,
Das noch von keines Schurken Anblick ward betroffen,
Blickt einfach dir entgegen, groß und frei und offen.
Gleich Tempelbogen schweben die geschwungnen Lider,
Und niemals schlagen sie die ruhigen Wimpern nieder.
Ihr Eigenwesen aber, ihre Sinnesart
Werd euch an einem Beispiel bildlich offenbart.
Ein Gleichnis mein ich, doch verstellt zum Gegensatze:
Du kennst die böse Tigerin, die Mörderkatze,
Die jedem Leben feind ist, das sich bebend regt,
Und quält und mordet alles, was sich nur bewegt:
Unähnlich dieser und verkehrt ins Gegenteil,
Bringen die Königstöchter jedem Wesen Heil.
Sie können weder Haß noch Zorn, bloß Freundschaft spüren,
Und ihre Hände trösten, was sie nur berühren.
Ja, diese heiligen, großen, guten Herzen sieben
Verstehen nichts als alles, was da lebt, zu lieben.
Ob unwert oder wert, sie unterscheidens nicht,
Auf Gut und Böse fällt ihr Seelensonnenlicht.
Kann denn das Feuer anders, nicht wahr, als erwarmen?
Nun wohl, sie würden, fürcht ich, einen Wolf umarmen.
Drum kenn ich einen, dessen väterliche Macht
Die wehr- und waffenlosen Herzen scharf bewacht.
Im Weichbild des Palastes hält er sie gefangen,
Läßt keinen Fremdling nach der Himmelsburg gelangen
Außer am Tag der Götterwanderung, wie ihr.
Doch das ist eine seltne Mahlzeit, glaubet mir.
Doch sieh, mir scheint, schon kreuzen wir die Schloßgemark
Und schwenken abwärts nach dem Paradiesespark.»
Er sprachs. Indes des aufgelösten Zuges Länge
Sich lautlos schmiegte durch gespenstische Zederngänge.
Zum Himmel wuchs des Waldes schwarze Doppelwand,
Und zierlich schlug der Huf den wohlgepflegten Sand.

Zum Herold aber wagten sie ein scheues Flüstern:
«Ein Schattenungeheuer seh ich vor mir düstern,
Ein nächtlich Ungetüm mit Armen und mit Flügeln,
Zum Himmel reckt es sich und sitzt auf Treppenhügeln.»
Doch schweigend faßte dieser jetzt das Horn, das klare,
Und schmetternd durch die Stille gellte die Fanfare.
Drauf schwang er sich vom Pferde, stellte, neigte sich
Und schickte durch die Nacht die Stimme feierlich:
«Großmächtiger König, Herr des Himmels und der Sterne!
Hier nahen sie, die Gäste, die aus tiefer Ferne
Gepilgert kommen, ihre Ehrfurcht zu gestehn,
Obdach zu suchen und um deine Gunst zu flehn.»
Und einer starken Mannesstimme Übermacht
Erwiderte von oben aus der schwarzen Nacht:
«Ihr seid erwartet, edle Gäste, und erbeten.
Gruß allen, die ihr meine Schwelle zu betreten
Huldvoll geruht und mochtet freundlich mein gedenken,
Um einen Festtag mir und meinem Haus zu schenken.»

Er sprachs. Und auf ein Wörtchen, das er kurz befahl,
Erscholl zu ihrem Gruß ein brausender Choral
Von reinen Engelstimmen, die, vereint mit Harfen,
Ein Meer von Wohllaut durch die Finsternisse warfen,
So daß der Tonschwall rauschend um die Klippen schnellte
Und Berg und Tal mit weiten Wogen überwellte,
Indes zuhöchst von einem unsichtbaren Turm
Die Glocken tobten, brüllend im Posaunensturm.
Noch hatte des Metalls, der Saiten harte Zungen,
Der Engel zarter Mund ihr Lied nicht ausgesungen,
Da zündete vom Turm ein blitzend Strahlenrad,
Das wusch die finstre Nacht in blauem Feuerbad.
Und tageshell in sonnengleicher Heiternis
Erschien des Labyrinthes kühner Linienriß,
Auf hohen Mauern ragend, luftig, leicht und hehr,
Treppen und Säulenbogengänge rund umher,
Geschmückt mit Kuppeln, Erkern, Türmen frohgestalt,
Einheitlich Bau an Bau gefügt: ein Marmorwald.
Lautlos, von Glanz und von Bewunderung geblendet,
Beharrten sie, das Angesicht zum Schloß gewendet.
Indes ein Willkommrufen, Winken, Flügelfächern
Des Engelvolks geschah von Zinnen und von Dächern.
Zuoberst Uranos im schimmernden Talar,
Die Krone in der Hand, mit bloßem Silberhaar.

Zwölf Engel traten sittsam aus dem Schloß hervor,
Die leiteten die Gäste durch das Himmelstor.
Hierauf, nachdem sie ihrer staubigen Sandalen
Entledigt waren und in duftige Wasserschalen
Die Finger tauchten und den schwieligen Fuß zu strecken
Begannen in die dampfumwölkten Badebecken,
Sieh, da erschien des Königs heilige Gewalt
Vor ihrem scheuen Blick in eigener Gestalt,
Allein an Tracht und Haltung einem Knechte gleich.
Und eine Bürde warmer Zwehlen, fein und weich,
Wog er im Arm und bog mit untergebnen Mienen
Das königliche Knie, die Gäste zu bedienen.
«Mitnichten sollst und darfst du, heilger Vater», sträubten
Entsetzt die Pilger sich, «mit unsern schmutzbestäubten
Wegwunden Füßen deine edle Hand entweihen,
Solch Amt magst du der Diener schlechtestem verleihen.»
Doch Uranos erhob sein mildes Angesicht:
«Gebt her, der Schmutz vom Unglücksanger ekelt nicht.»

Drauf saßen fröhlich schmausend sie beim Abendmahl
Im luftdurchzognen, hochgewölbten Kuppelsaal,
Während von einem auserlesnen Engelchore
Gesang und Orgelspiel ertönte vom Empore.
Und als des Leibes Wille nun geschehen war,
Hub an der König: «Liebe Brüder, redet wahr,
Doch folget einzig eurem Wünschen und Belieben:
Gefällt es euch, so werden meine Kinder sieben,
Gerne gehorchend meinem Wink, herniedersteigen,
Euch zu belustigen mit Tanz und Ringelreigen.»
Und als nun jene zugestimmt mit hitzigen Rufen,
Geschah ein leises Rauschen von des Chores Stufen,
Und hochaufragend durch die Wendeltreppe wallten
Der Königstöchter sieben schlanke Wohlgestalten.
Gleich dem Gedanken, der mit hohem Geistesschritt
Erhobnen Hauptes ruhig vor die Seele tritt,
Gleich einer Dichtung mutigem Heben oder Senken,
So schwebten sie herbei auf federnden Gelenken.
Erst stellten sie zum Gruß sich auf mit leichtem Neigen
Der lockigen Stirn, dann flochten sie den Ring und Reigen.
Da herrschte Todesstille längs der Tafelrunde,
Und tiefe Seufzer lösten sich von manchem Munde,
Während dem feuchten Blick die Träne überquoll.

«Hochedle Gäste», sprach der König sorgenvoll,
«Ists Wahrheit, oder will mein Ohr mich schlimm betören?
Ich seh euch stumm, und Seufzer mein ich gar zu hören.
Ist meiner Kinder Angesicht und Maß der Glieder
Euch also sehr verhaßt und ärgerlich zuwider?»

«O wolle solchen Irrtum aus dem Herzen reuten,
Erhabner Herr, und unser Schweigen nicht mißdeuten»,
Erklärten sie, «denn unser Seufzen will besagen:
Schwer wirds dem Blick, an so viel Anmut sich zu wagen.
Weh uns! Wir hießen Götter bis zu dieser Zeit,
Nun sind wir Eulen. Schande unsrer Häßlichkeit!»

Hierauf, nachdem der Reigentanz zu Ende zwar,
Doch nicht des Schauens Lust zugleich gesättigt war:
«Ihr lieben Brüder, ist euch solches angenehm,
Und habt ihr keinen andern Vorsatz außerdem»,
Meint Uranos, «so mögen meine Kinder morgen,
Derweil ich selbst von der Geschäfte Drang und Sorgen
Gefesselt und der ungeduldigen Arbeit Eile,
Ungerne zwar, im Schoß des Labyrinthes weile,
Inzwischen auf der luftigen Pfalz im Blumengarten
Als treue Führerinnen eurer Wünsche warten.
Dann sehe jeder, wie er Lieb und Freundschaft übe,
Und daß kein hartes Wort ein weiches Herz betrübe.
Bis daß Anankes unbeugsamer Willensspruch
Abends zum Abschied mahnt und bittern Unterbruch.»
«Ei ja! das ist uns wahrlich lieb und angenehm»,
Erklärten sie, «und nichts gefällt uns außerdem.»

Des Vaters Wangen aber küßten inniglich
Zum Dank die Kinder, neigten und entfernten sich.
Und das gesamte Engelvolk der Himmelshallen
Begann zum Abendabschiedsgruß daherzuwallen,
Des Herren Hand zu küssen, wie des Hauses Sitten
Verlangten, und ein huldvoll Wörtchen zu erbitten.
Doch als der Engel letzter endlich sich verzogen
Und Schlummerstille schwebte durch die Fensterbogen:
«Entscheidet», sprach der König, «welches von den zweien
Behagt euch mehr und scheint euch besser zu gedeihen?
Wollt ihr nach dieses Tages mühevollen Werken
Nun ebenfalls den matten Leib im Schlummer stärken?
Wo nicht, vielleicht ein Stündchen noch mit wachem Geist
Der Wechselrede pflegen, wies die Laune heißt?»
«Wir sind», entschieden sie, «von aller Müh gesundet
Dank deiner edlen Hirtung, die uns baß gemundet.
Drum mög uns gütig, falls du dessen willens bist,
Zum traulichen Gespräche gönnen eine Frist.»
Und also ward der Wechselrede jetzt gepflogen
Und dieses bald, bald jenes im Gespräch erwogen,
Frei wies der Einfall gab und der Gedanke spann,
Bis daß der Pilger einer diesen Spruch begann:

«Nachsichtig laß dir mein bescheiden Lob geschehen,
Erhabner Herrscher. Tausend Wunder darf ich sehen
In deinem Haus, der Wohnstatt aller Herrlichkeit,
Und preisend sie zu rühmen ist mein Lied bereit.
Allein als höchstes Wunder schätz ich deine Milde,
Im Blick und Ton sich stempelnd, wie in deinem Bilde.
Nie kann gemeinem Zorn, dem Unmut nie gelingen,
Die Hochburg deines freien Geistes zu bezwingen.»
Ob dieser Rede blinzte sonderbar und schloß
Die feinen Augen heimlich lächelnd Uranos:
«Der ist», entgegnet er, «fürwahr kein rechter Mann,
Der über eine Bosheit nicht ergrimmen kann.»

«Drum also», meint ein andrer, «muß es sich erweisen,
Wie du vor allen Herrschern glücklich bist zu preisen,
Hoch über allem Bösen in der Himmelsfeste,
Von Guten nur umringt, und jeder wirkt das Beste.»

Und wieder blinzelte der König sonderbar,
Dann bot er ihnen lächelnd diese Antwort dar:
«Kein Haus ist noch so fest, kein Himmel noch so hoch:
Im Balken nagt der Wurm, die Ratt im Kellerloch.
Wenn hier nur Gute wohnten, keine Schälke wären,
Woher denn etwa, meint ihr, stammen diese Schwären?»
Mit diesen Worten teilt er eine Spanne weit
Mit raschem Griff den Mantel und das Unterkleid.
Und siehe, seine Heldenbrust verschimpft von vielen
Blutrünstigen Striemen, Beulen und geschwornen Schwielen.
«Ja, Freunde!» rief er, als nun schaudernd die Entsetzten
Aufsprangen und ihr Angesicht mit Tränen netzten,
«Ja, teure Freunde, auch des Himmelskönigs Amt
Ist lauter Honig nicht! Und nicht auf weichem Samt
Sitzt sichs auf meinem Thron und molligem Gewölle.
Ihr seht den Himmel, aber ahnet nicht die Hölle,
Die drunter brodelt, auf Empörung stets bedacht
Und Aufruhr, nicht den Unhold, der um Mitternacht
Schnaubend die Treppe stürmt, im Schlaf mich anzufallen,
Und rüttelt an der Kellertür mit frevlen Krallen.
Allein mit Schild und Hammer und den Fäusten beiden
Will ich ihm, hoff ich, solch Beginnen wohl verleiden!
Auch tut mir Pluto, der beherzte Himmelshund,
Das Nahen meines Feindes je beizeiten kund.
Gleich Orgelbrüllen schnerzt des treuen Wächters Stimme,
Und trefflich haut sein Zahn den Höllenwicht im Grimme.
Ein schwieriger Geschäft, selbst Meinen Mut zu beugen
Geeignet, ist: den Minotaurus überzeugen,
Den ewigen Ochsen, der das Himmelsfundament
Tagaus, tagein mit nimmermüdem Horn berennt.
Warum? Das weiß man nicht. Aus Dummheit offenbar.
Sechs Stunden täglich schenk ich ihm Belehrung zwar,
Ihm klipp und klar beweisend, daß der Himmelssturz,
Wenn er gelingt, ihm hagelt auf den eignen Burz.
Endlich begreift ers, kratzt sich, leckt die Ohren, muht,
Worauf er ungesäumt den alten Unfug tut.
Genug. Was meines Amtes, schaff ich wohl allein.
Das Werk gehört der Welt, das Wissen drum ist mein,
Darüber sprechen kann die Tatkraft nur verwildern.
Wollt lieber ohne Hehl mir jetzt getreulich schildern,
Wie sichs mit meinem königlichen Freund verhält,
Hades, dem Herrn der regenreichen Unterwelt,
Und seinem keuschen jungen Ehgemahl daneben,
Und was auf eurer weiten Reise sich begeben,
Vom Espenbaum hinüber bis zum Erlenbaum,
Im tiefen Boden oder frei im hohen Raum.»

Und jene taten also, wie sein Mund befohlen,
Und huben an und gaben treu und unverhohlen
Ihm Kunde, wie sichs mit dem regenreichen Tale
Der Unterwelt verhielt und Hades, dem Gemahle;
Der züchtigen Persephone, und was daneben
Für Abenteuer auf der Reise sich begeben,
Vom Erlenbaum hinüber bis zum Espenbaum,
Im tiefen Boden oder hoch im freien Raum.
Doch als sie zu den Rufen der Lawinenbahn
Gelangten und von Kronos, ihrem heiligen Ahn,
Erzählten, wie sie dort mit ihm zusammenstießen
Und seinem Volk, die flüchtend den Olymp verließen,
Und wie die Unglückseligen von Wirbellauen
Hinweggerissen wurden in des Abgrunds Grauen,
Bewegte sich sein Antlitz und sein Auge zwinkte.
«Fahrt fort!» befahl sein Finger, der Erlaubnis winkte.

Doch als sie von dem Eichwald sprachen an der Erden
Und von der schauerlichen Grotte 'Tod und Werden'
Und von des Lethesprudels finsterer Gewalt,
Darin die Seelen ewig wechseln die Gestalt,
Und von dem unbarmherzigen fluchenswerten Weibe,
Das sie ins Fleisch verbannt in einem siechen Leibe,
Da wars, als ob durch seines Hauptes wildbewegte
Lockige Silbermähne jach ein Sturmwind fegte,
Und unter seinen zornumwölkten Schläfen drohte
Ein gräßlich Feuer, das ihm aus den Augen lohte.

Mit starren Mienen stierten da die Schreckensbleichen
Ihn an, verglasten Blicks, des Lebens bar, als Leichen.
Die Frage selbst erstarb im Halse mutgelähmt.
Schon aber hatte Uranos sein Blut bezähmt,
Erhob sich groß und ernst, betrachtete sodann
Prüfend mit Forscherblick die Gäste: «Saget an:
Wollt ihr Anankes Sturz und Untergang erfahren?
Wollt ihr den Fernschein vom meontischen Land gewahren?
Nirwana schauen und den Felsen Eschaton?
Den Engel, schlafend unterm Baume Thateron?
Im schnaubenden Verlies, von Feuergischt durchdampft,
Das Weltenklagebuch, auf Dauerstein gestampft?»
Er riefs bedeutsam. Aber plötzlich, sich besinnend,
Nahm reuig er, in väterlichem Ton beginnend,
Das unbedachte Wort zurück: «Nicht doch! wozu?
Was kümmert euch Ananke? Ihr bedürft der Ruh,
Denn ihr seid müde. Laßt des Schlummers uns gedenken.
Kann Schlaf nicht trösten, mag er doch den Frieden schenken.»
So wendet er den Spruch. Und einen Leuchter flink
Ergreifend: «Folgt mir!» forderte des Wirtes Wink.

Doch trotzig schreiend seinen Weg versperrten sie,
Erfaßten seinen Arm, umschlangen seine Knie:
«Halt ein! Versprochen Wort steht außer dem Belieben.
Und ein gezeigt Geschenk sollst du nicht rückwärts schieben.
Wir wollen von Anankes Untergang erfahren,
Den Fernschein vom meontischen Land laß uns gewahren,
Nirwana schauen und den Felsen Eschaton,
Den Engel, schlafend unterm Baume Thateron,
Das Weltenklagebuch, auf Dauerstein gestampft,
Im schnaubenden Verlies, von Feuergischt umdampft.
Und zwar nicht morgen, sondern jetzt und alsobald.»

«Wenn ihr mich zwingt, so seis, ich weiche der Gewalt.»

So sprechend wandt er sich und führte durch die Enge
Geheimer und verworrner Wendeltreppengänge
Sie vor ein rätselhaftes, gläsern Wagenhaus.
Ein blasser Ampelschimmer zitterte daraus,
Und an den Fenstern hingen große fremde Fliegen,
Die eine andre Welt verrieten und verschwiegen.
«Dies», sprach er, «ist des Himmelskönigs Reisewagen.
Wollt ihr mit mir die Antipodenreise wagen,
So tretet ein. Wo nicht, noch ists zur Rückkehr Zeit.»
«Wir sind an deiner Hand zur fernsten Fahrt bereit.»
«Seid ihr gefaßt?» «Wir sinds.» Ein Fingerdruck, und leise
Rollte durchs Labyrinth die unterirdische Reise.
Und öfters füllte sich auf ihrem raschen Schube
Mit Hitze bald und bald mit Frost die Wagenstube.
Bis daß, von seines Führers klugem Fingerdruck
Gestellt, der Wagen widerstand mit kurzem Ruck.
Der König rief: «Zum ersten Male steiget aus!»
Zögernd betraten sie ein lärmerfülltes Haus,
Des feuerunterwühlte, schreckempörte Mauern
Und Balken zitterten in unablässigen Schauern.
Nur Kolbenstampfen ringsumher und Wellbaumtoben.
Bis daß sie endlich, von des Führers Hand geschoben,
Die Füße wagten in ein schnaubendes Verlies,
Wo Donner das Gehör, den Atem Dampf verstieß.
Und ratlos irrte scheu umher der bange Blick.
Doch kundig richtete der König ihr Genick
Nach einem sturmbewegten Eisenräderwerke,
Woselbst von hundert Hämmern die vereinte Stärke
Auf einem Walzenband von Stein, das Funken spritzte,
Mit grimmen Eisengriffelhieben Runen ritzte,
Daß knirschend der Granit, im Mark verwundet, krisch
Und stets erneute sich die Walzenrolle frisch.
Indessen von der Wand aus Lücken und aus Scharten
Drei stumme Reihen drohender Posaunen starrten.

Jetzt eine Eisenmaske nahm der König vor
Und setzt ein ehern Schallhorn an der Lippen Tor.
«Ihr wilden Eisenmänner», dröhnt er, «sollt mir sagen:
Was lehrt die Schrift, die eure grimmen Fäuste schlagen?»
Und schmetternd aus dem Walde der Posaunen schnellte
Der Gegenruf, der Lärm und Tosen übergellte:
«Wir schmieden Runen in das Weltenklagebuch,
Da schreit die Kreatur dem Schöpfungstage Fluch,
Der Seele Traurigkeit, des Leibes Angst und Qual,
Jedwede Träne, die aus einem Aug sich stahl,
Ein jeder Schmerz, der jemals einen Nerv zerriß,
Ein jeder Blick der Trübsal und Bekümmernis,
Des Menschen wissend Weh, der Tiere dumpfe Not,
Des kleinsten Wurmes unverdienter Martertod,
Und wärs von Nacht und Einsamkeit verhehlt geblieben,
Von unsern Fäusten wird es pünktlich aufgeschrieben,
Auf daß am jüngsten Tag und schließlichen Gerichte
Das Buch den namenlosen Schuldigen bezichte.»

Also bekannte schmetternd der Posaunenchor.
Und Antwort gab der König durch des Schallhorns Rohr:
«Merkt auf, ihr wackern Eisenmänner, wollt mich hören!
Denn einen fürchterlichen Eidschwur will ich schwören:
Der strenge Kläger, den ihr rufet, der bin ich.
Ich will mit diesem Buch ihn zeihen sicherlich.
Ins Ohr des Weltenmörders will die Schrift ich schreien
Und ihm die Qual der Kreatur ins Antlitz speien.»
Nach diesen Worten, die er durch das Schallhorn stieß,
Verließen sie das dampfdurchdonnerte Verlies.

Und wieder ritten in dem Reisewagenstuhl
Sie schnellen Falles durch den labyrinthischen Pfuhl
In grause Tiefen. Und dem spürenden Gefühle
Schlug Kälte bald entgegen, bald beklommne Schwüle.
Als sie zum zweitenmal dem Wagenhaus entstiegen,
War stumm der Lärm, der Raum verwaist, die Luft verschwiegen.
Und an ein morsches Pförtchen, das seit alters nie
Des Spinngewebs entledigt worden, führte sie
Der König jetzt: «Hier hat Anankes Macht ein Ende»,
Belehrt er feierlich, «drum faltet eure Hände.
Denn einem fremden See, den selten Augen sahen,
Dem grauen See Nirwana sollt ihr nunmehr nahen.»
Hiermit entriegelt er das Pförtchen. Und, jawahr!
Bot sich der See Nirwana ihren Blicken dar.
Endlos in Nebelfernen schwamm die Wasserwüste,
Doch herwärts, an der öden Weltenscherbenküste,
Klatschte der Schwall der schweren Wogen, langgezogen,
In dumpfen Schlägen längs dem flachen Uferbogen.
«O Herr», bemerkten sie, «dies Wasser scheint unendlich,
Denn nirgends sind des grauen Meeres Ufer kenntlich.
Doch jenseits in den Wolken grüßt ein Widerschein,
Als könnt ein weltenfernes Land dahinten sein.»
«Man glaubt von einem Lande Meon, daß es wäre.
Die Hoffnung betet, daß der Glaube sich bewähre.»

Er sprachs und setzte fort in feierlichem Ton:
«Nun aber folgt mir nach dem Felsen Eschaton,
Da trotzt der letzte Stein, da winkt den Scheidegruß
Die Welt, denn niemals weiter trat des Lebens Fuß.
Doch eine Botschaft geb ich tröstlich euch zu wissen:
Auf eitle Neugier nicht und Wundersucht beflissen
Geschieht der Pilgerzug, den ich mit euch will fahren.
Ein köstliches Geheimnis laßt euch offenbaren:
Ein Kirchlein birgt sich unterm Felsen Eschaton,
Das ist beschattet von dem Baume Thateron.
Du fragst: doch welches ist das teure Heiligtum,
Weshalb zu seiner Hut ein Kirchlein steht darum?
Vernehmt: leg mir die Welt und was sie hält zur Linken
Und laß zur Rechten jenes einzige Kirchlein blinken,
Dann heiß mich hurtig wählen eines von den beiden:
Ich zaudre nicht, zum Kirchlein will ich mich entscheiden.
Allein warum mit Worten Nebelburgen bauen?
Frohlockt! mit euren seligen Augen dürft ihr schauen.»
Er sprachs. Und über einen Isthmus rückte fort
Der Pilgerzug zum Felsen Eschaton. Von dort
Hinunter klommen sie zum Kirchlein unterm Stein,
Bedeckt vom Baume Thateron, und traten ein.
Und siehe, hinter einem spitzen Gitterhag,
Auf einem hohen Polsterbette ruhend, lag
Ein Engel schlafend, seine Stirn vom Ellenbug
Gestützt, darum ein Wald von Ringellocken schlug.
Ein schmeidiger Schuppenpanzer floß um die Gestalt
Und seiner süßen Schönheit lächelnde Gewalt.
Der Strahl der lichten Wangen war so rein und hehr:
Er kam von eines andern Himmels Heimat her.
Siehst du des Diadems, des Halsbands Feuergarben?
So funkeln keines hiesigen Tageslichtes Farben.
Und wenn den Atem zieht der Engel aus und ein,
Erblaut die Luft von seines Hauches Sonnenschein.

Doch sieh, welch Herzeleid, welch wehmuttrunkner Wahn
Packt über diesem Anblick jetzt die Pilger an?
Sie fallen überlauten Schluchzens auf die Knie,
Und ihre sehnsuchtskranken Arme strecken sie
Durchs Gitter nach dem Engel, der so nahe scheint
Und den der starre Zaun verwehrt; und jeder weint.
Da rührte sich und hob den Arm die Schläferin
Und sang die traumumwobnen Worte vor sich hin:
«Mir träumt von einer bösen Welt, von Übeln schwer.
Ich spüre Leiden, höre schluchzen um mich her.
Getrost! Ich weiß von einem Tage gut und groß,
Da windet sich Vergeltung aus der Zeiten Schoß.
Erlösung und Genesung blühn auf seiner Spur.
Da hört man Schluchzen nicht, des Glückes Seufzer nur.»

«Der du die Hoffnung heißest, heilige Schläferin,
Engel des Trostes, gönn uns jetzt von Anbeginn»
Rief Uranos, «von jenem schönen Helfertage
Aus deinem wahrheitskundigen Mund die selige Sage.»
Da richtete gen Osten sich des Engels Haupt:
«Ich schaue wahr», verkündet er, «vernehmt und glaubt!
Ich seh ein großes Licht am Horizont gen Morgen.
Im fernen Lande Meon wächst heran verborgen
Der Weltenheiland, das ersehnte Gotteskind,
Von dem euch Hilf und Arzenei verheißen sind.
Schon schweift er unstet auf und ab die Uferhalde.
Und gleich dem flüggen Adler, der vom Föhrenwalde
Den Auslug schreiend nimmt und flattert mit den Flügeln
Und kann mit Mühe kaum die zornige Kriegslust zügeln,
So blickt von Meons fernem Strand der junge Held
Feindlich hinüber nach Anankes Mörderwelt.
Geduld! Bald wird er mutig sich zu Pferde schwingen.
Triumph! Ich höre Schlachttrompeten, Waffenklingen.
Hei, wie die hurtigen Hufe durch Nirwana greifen!
Hei, wie die Lilienbanner in den Wolken pfeifen!
Was trägt er auf der Lanze? Einen Flammenstift.
Wer speist die Flamme? Der Erlösung Gegengift.
Er steht im Bügel, zielt und schleudert das Geschoß
Siegschwirrend in den unheilschwangern Weltenschoß –
Tahoi! Wie aus dem Schwefelbauch die Flamme loht!
Gegrüßt, Ananke! Schmeckt dir dieses Morgenrot?
Umsonst die Wut, die du aus hässigen Augen glotzest!
Vergebens alle Höllensäuren, die du protzest!
Fuchtle mit Stickstoff oder ficht mit Oxydul,
Diesmal verbrennst du in dem eignen Teufelspfuhl.
Amen. Im Todeskampfe brüllt die Welt und zischt,
Dann platzt der Greuel, und das Lebensgas erlischt.
Mit zornigem Huf zerstampft den rauchigen Kohlenherd
Und in der Asche schnuppert des Erlösers Pferd.»
So sang der Engel, und den frohen Spruch bewährte
Der Glanz der Hoffnung, der sein Angesicht verklärte.

«Also», rief Uranos, «geschehe pünktlich bald!
Doch siehe, des Erlösers tröstliche Gestalt
Ist blasser als der Hauch des Mundes. Und kein Pfand
Ist unserm Aug gegeben vom meontischen Land.
Des angsterfüllten Zweifels drum erbarme dich:
Von wannen weißt du von dem Helden sicherlich?»
Verächtlich lächelnd wandte die geschloßnen Lider
Der Engel nach dem Sprechenden. Dann sagt er wieder:
«Wer spricht zur Braut von dem Geliebten 'Unbekannt'?
Ich heiße Wahrheit. Hoffnung werd ich zubenannt.
Von meinen Händen ward, von Mörderhand errettet,
Im Baume Thateron der junge Held gebettet.
Von diesem Felsen lehrt ich ihn den kühnen Sprung
Am Tag der Schöpfung nach Nirwanas Niederung.
Mit meinem Finger hielt ich der Verfolger Lauf,
Mit meinem Wort und Blick die Gottesmörder auf.
Da brandete der Weltenstrom, den Bosheit braute,
Und flutete zurück. Die Schöpfung stockt und staute.»

Der König rief: «Die Sage wollen wir behalten.
Es ist kein andrer Trost, er darf uns nicht erkalten.
Doch eine letzte Frage mögest uns bejahen:
Wann wird sich alles jähen? Wann der Tag sich nahen?»
«Wenn ihr vom Lande Meon hört die Hähne krähen,
Wenn in Nirwanas Meer die Mähder Schwaden mähen»,
Verkündet er, «dies ist der Tag. Dann wird sichs jähen.»
Nach diesem Wort entschlief der Engel traumestrunken
Im weichen Pfühl des Armbugs, drauf sein Haupt gesunken.
Und lieblich flog sein schöner Odem aus und ein.
Und als nun aus dem Kirchlein wieder auf dem Stein
Die Pilger angelangt, begehrten sie zumal:
«Wie ist die Welt nun hohl, das Leben leer und schal!
Ob Glück, ob Unglück, Hölle oder Himmelreich,
Was schierts? Dem Kirchlein kommt die weite Welt nicht gleich.
Hier auf dem Felsen Eschaton, da laßt mich sitzen,
Und nach dem Lande Meon Aug und Ohren spitzen.
Wer weiß, ob heute nicht vielleicht der Hahn noch kräht?
Die Welt ist alt, und der Erlöser ist schon spät.»

«Dies, liebe Brüder», riet er, «wollet unterlassen.
Mit tatenloser Hoffnung müßig sieh befassen,
Um stets gespannt und stetsfort neu enttäuscht zu sein,
Das, Freunde, ist des Herzens grauenvollste Pein.
Auch ich ja, ich, vor langer, undenkbarer Zeit,
Als ich noch frisch war und noch jung die Ewigkeit,
Auch ich bin hier am Felsen Eschaton gesessen,
Die Fläche des nirwanischen Meeres zu ermessen
Und jenseits nach dem Lande Meon auszuspähen,
Ob sich der Morgen röte, ob die Hähne krähen.
Wie oft hab ich geschloßnen Auges nicht gelauscht,
Ob nicht die Sense dengelt, nicht ein Huftritt rauscht.
Und lange Tag und Nächte lag ich knieend, traun,
Im Kirchlein auf dem Boden vor dem Gitterzaun,
Versuchend, mit der Hand den Engel zu erreichen
Und den metallnen Hag mit Tränen zu erweichen.
Und welcherlei Erfolg davon und Trost gefunden?
Zwei tränenkranke Augen und die Hand voll Wunden.
Indessen oben in des Labyrinthes Turm
Der Unhold Stock um Stock eroberte im Sturm
Und unablässig mit der Dummheit Eiferhitze
Den Himmel stieß des Minotaurus Hörnerspitze.
Drum heim! Man mag die Welt auch ohne euch erlösen.
Uns aber trifft der Krieg der Guten mit den Bösen.»
Er sprachs. Und seufzend ließen sie vom hurtigen Wagen
Sich wieder in Anankes strenge Zwingburg tragen,
Wo nach wie vor das Räderwerk der Stunden ging
Und unverrückt das Firmament am Himmel hing.

Und als nun Uranos im obersten Gemach
Des Hauses unterm freien, luftumspülten Dach
Die Gäste in das kühle Schlafgelaß geleitet
Und ihres Lagers Betten, weich und glatt bereitet,
Mit eigner Hand geprüft, und ob auf jeden Fall
Nichts mangle irgendwo, noch fehle überall,
Und auch mit heiligem Gruß und Segen jeden Schaden
Verbannt und Frieden auf ihr müdes Haupt geladen,
Begab er sich hinunter in den Dienersaal,
Allwo bei eines schmächtigen Lichtes Zitterstrahl
Erlesne Engel, seines Herrscherrufs gewärtig,
Sich wach erhielten und zu jedem Auftrag fertig,
Mit traulichem Gespräch den Schlummer niederkämpfend,
Doch jeden überlauten Ton erschrocken dämpfend,
Und Morpheus holt er aus dem Saale, welcher flink
Vor seinen Herrn sich stellte auf den ersten Wink:

«Morpheus», begann er, «deine Klugheit wollest zeigen.
Zum Schlafgemach der Götterherberg sollst du steigen
Mit deinen besten Gläsern. Dort durchs offne Fenster
Laß gaukeln deiner Träume neckische Gespenster.
Gib Freiheit deinem Pinsel und die Farben misch!
Und über die Gedächtnisbilder Märchen wisch!
Auf daß der rege Geist, vom Schlummerrausch verwirrt,
Behaglich schaukelnd nach dem Fabellande irrt,
Und also durch der Seele Lustfahrt frische Stärke
Der Leib gewinne zum erneuten Tagewerke.
Doch merkst du, daß der Mund den Atem ruhiger zieht,
Gen Morgen, wenn beim Dämmergrau die Nacht entflieht,
Dann sollst du ihnen mit den schönsten Farbenstrahlen
Das Antlitz meiner Kinder vor die Augen malen.
Auf daß, entzündet von der Sehnsucht Funkenschlag,
Der Freundschaft selige Glut im Herzen brennen mag.
Denn reiner Minne Glück und frohe Freundschaftsfeste
Am klaren Tag: so ehrt der Himmel seine Gäste.
Doch deine Liebe, wird sie meine Liebe mindern?
Drum spiegle gleichfalls durch das Fenster meinen Kindern
Ins Herz das Abbild unsrer Gäste. Hin und her
Gerät die Liebe besser und die Freundschaft mehr.»

Der König sprachs, und dem Befehl gehorsam brach
Morpheus geschäftig auf. Und vor dem Schlafgemach
Mischt er die Farben, brannte sie im heißen Tiegel
Und gaukelte durchs Fenster mit dem Zauberspiegel,
Den Atem schlau berechnend aus der Schläfer Munde.

Doch Uranos umschritt die abendliche Runde,
Von unten angefangen bis hinauf zur Zinne,
Und jeglichen Geräusches ward er weislich inne,
Hörte das Engelvolk im Traume leise wistern,
Vernahm im schwarzen Weltenraum der Sterne Knistern.
Doch wie er seiner Kinder Schlafgemach umschlich,
Hemmt er den Schritt und an die Mauer lehnt er sich,
Das Auge sanft vom lauen Sternenwind gebadet
Und das verklärte Angesicht von Glück begnadet.
Endlich, nachdem er alles ordentlich bestellt
Gefunden und im Frieden ruhend Haus und Welt,
Macht er sich eilends auf, und in der Waffenkammer
Den bäumigen Schild ergreifend und den wuchtigen Hammer,
Betrat er eine Bodenfalle, einzig nur
Ihm selber kundig, stampfte mit dem Fuß und fuhr
Hinunter in den Keller, wo vom Höllentor
Des Unholds fürchterliches Toben traf sein Ohr.
Das Tor zu brechen war sein trotziger Gedanke,
Und tückisch in den Fugen kratzte seine Pranke.
Doch welch ein zweiter Riesenstimmenzorn erfüllte
Das Ohr mit Wohllaut, der wie Orgeldonner brüllte?
Sieh da, der treue Himmelswächter, der beherzte
Pluto, der durch die Tür dem Feind entgegenschnerzte.
Mit Lobesworten schürte seines Dieners Feuer
Vorerst Held Uranos zum hitzigen Abenteuer.
Dann gleich dem Züchter, welcher seine Löwenzucht
Zuvor mit übermächtigem Lärm zu schrecken sucht,
Eh daß er unversehens mit Tyrannenschritt,
Die Tür aufreißend, drohend in den Zwinger tritt:
So prasselte des Königs Schild und mächtiger Hammer
Dem Unhold drüben in dem Pfuhl der Höllenkammer
Den Herrschergruß, damit ihm dessen, der da komme,
Die Warnung nützlich werde und die Vorsicht fromme.
Bis daß der wilden Bosheit unvernünftig Jappen
Er nach und nach in Winseln hörte überschnappen.
Da zerrt er auf die Tür mit jähem Ruck und Riß,
Und Herr und Diener juckten in die Finsternis.
Hei, wie sich wand der Feinde dreigestalter Knäuel!
Die Tür fiel dröhnend zu. Da schwieg der Stimmengreuel.
Einzig ein dumpfes Tosen aus dem Höllengrab
Gab Kunde von dem Kampfe, der sich jetzt begab.


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