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XIII.

Schneller, als ich gedacht, – denn der schmale Gang schien endlos, und ich hatte wiederholt über Bretter, Fässer, oder was sonst im Wege lag, mühsam klettern müssen – gelangte ich ins Freie, das heißt auf jenen breiten Kai, der auf der einen Seite die Häuser und auf der anderen den Hafen hatte. Aber es war nicht jener Teil des Kai, den ich kannte in der Nähe meines Gasthofes, dem gerade gegenüber eine »Abfahrt der Jollenführer« sich befunden hatte, nach welcher ich jetzt suchte. Wie sollte ich anders an Bord der »Cebe« gelangen? Ich hielt mich auf gut Glück rechts, merkte aber bald, daß ich von der gesuchten Stelle mich nur noch weiter entfernte. So kehrte ich wieder um, diesmal die Häuserseite wählend, welche im Schatten lag, während die andere Seite von dem Mond, der eben über die Giebel heraufkam, hell beleuchtet war. Auch hoffte ich, hier im Notfalle mich hinter einem der Kellerhälse, oder in irgend einer jener dunklen unendlichen Gänge – wie jener, aus dem ich gekommen – eher verbergen zu können. Daß ich im Grunde keine Ursache habe, meinen Verfolgern auszuweichen, sondern ihnen kühn die Stirn bieten müsse und mir einen freien Abzug ertrotzen – daran dachte ich auch nicht einen Augenblick. Vielmehr war meine Seele von einer Angst erfüllt, die etwas Grauenhaftes hatte und mir jede klare Besinnung raubte: sie hätten zweifellos die Macht, mich festzuhalten, zur Rückkehr zu zwingen, und ich müßte noch einmal ihm, vor dem ich geflohen war, gegenübertreten. Lieber sterben! wiederholte ich mir fortwährend, indem ich so mit klopfendem Herzen auf jedes Geräusch lauschend, mit starren Augen das Dunkel durchspähend, an der Häuserzeile hinstrich.

Ich war bis jetzt nur wenigen Personen begegnet und keiner, die meine scharfen Augen nicht schon aus einiger Entfernung als unverdächtig erkannt hätten. Auch bemerkte ich zu meiner großen Beruhigung, daß ich mich jetzt in der rechten Richtung bewegte. Das mußte die Hafenwache sein, die ich von meinem Fenster im Gasthof hatte liegen sehen – das die hohen Masten des Auswandererschiffes, welches mir der Wirt gezeigt hatte – ich konnte nur noch etwa fünfzig Schritt bis zum »Saxonia-Hotel« haben. Und da war es mit seinen beiden Giebeln, schräg vom Monde beschienen, der auf den krummen Fensterzeilen glitzerte und – auf drei Gestalten fiel, die vor der Thür standen. Im nächsten Moment war ich in einen jener schmalen Gänge getaucht, dessen schwarzer Mund sich gerade an der Stelle, wo ich mich befand, nach links zwischen den Häusern aufthat. Ich hatte in den Gestalten Weißfisch und den Polizisten von vorhin erkannt – der dritte mochte ein Hafenwächter sein. Nur ein paar großen Fässern, welche bis beinahe auf das Trottoir gewälzt waren, und hinter denen ich eben hervortreten wollte, hatte ich es zu verdanken, daß sie mich bei der geringen Entfernung nicht ebenfalls gesehen hatten.

Wenn sie mich nicht gesehen! Gleichviel: man war mir auf der Spur und hart auf den Fersen. Das gehetzte Wild mußte seine ganze Schlauheit aufbieten, wollte es den Jägern entrinnen.

Und nun kam auch etwas von jener Ruhe über mich, der ich mich in den kritischen Momenten meines Lebens noch immer zu erfreuen gehabt hatte. Ich überlegte, was ich thun sollte, wenn der Gang, wie ich hoffte, auf der anderen Seite einen Ausweg hatte, und was, wenn er sich als eine Sackgasse erwies. Im ersteren Falle wollte ich auf dem kürzesten Wege, den ich auffinden könnte, zum Hafen zurückkehren und von welchem Punkte auch immer ein Boot, das mich ans Schiff brächte, und wäre es um den ganzen Rest meiner Barschaft, zu erlangen suchen; im zweiten hier in dem Gange noch eine halbe Stunde bleiben, und dann umkehren auf die Gefahr hin, meinen Verfolgern in die Hände zu laufen. Die »Cebe« sollte um zwei Uhr die Anker lichten; bei dem trüben Schein, der aus einem Fensterchen in dem Gäßchen dämmerte, las ich von meiner Uhr halb zwölf; ich konnte nicht wissen, wie lange es währen würde, bis ich ein Boot fand; die andere Gefahr also, daß, wenn ich zögerte, das Schiff ohne mich abging, war nicht minder groß.

In dem Gäßchen, das keine acht Fuß breit sein konnte und bei der Dunkelheit noch schmaler schien, war es völlig still; so leise ich auftrat, hallte mein Schritt doch unheimlich laut auf dem holprigen Pflaster. In den Jammerhöhlen zur Rechten und zur Linken mochten hier und da die Fenster ausstehen; ich vernahm, wie ich so vorüberschlich, dann und wann röchelndes Schnarchen oder das erstickte Wimmern eines Kindes oder ein paar dumpfe Worte, wie von Leuten, die aus dem Halbschlaf wirr zu einander sprechen. Ein mephitischer Dunst, der von der Gasse selbst, aus den Baracken heraus qualmte, benahm mir fast den Atem, und immer noch wollte das entsetzliche Gäßchen kein Ende nehmen.

Da hörte ich plötzlich ein Geräusch wie von Schritten. Lauschend, mich dicht an die Wand drückend, blieb ich stehen. Ich hatte mich nicht getäuscht: es waren Schritte, hinter mir das Gäßchen herauf, und von mehreren Personen, mindestens zweien, wenn nicht dreien, die sich schnell näherten, da sie offenbar nicht, wie ich, eine ängstliche Vorsicht beobachten zu müssen glaubten. Wer sollte das sein, wenn nicht meine Verfolger? Noch war mein Vorsprung groß genug, daß ich im Schutze der Dunkelheit ihnen zu entkommen hoffen durfte. Ich that ein paar eilige Schritte, verlor plötzlich den Boden unter den Füßen und glitt mit Blitzesschnelle, seltsamerweise, ohne zu fallen, die klebrigen Stufen einer Holztreppe hinab, die unten in einer Thür endete, durch deren oberen Teil ein Licht dämmerte. Von den gewaltsamen Verrenkungen, durch welche ich mich beim Hinabgleiten instinktiv vor dem Fallen bewahrt hatte, in allen Gliedern wie gerädert, lehnte ich noch keuchend in der Ecke von Thür und Treppenwand, als die Tritte meiner Verfolger bereits über mir in dem Gäßchen erschallten. Sie standen unmittelbar an der Treppe still, und in demselben Moment blitzte ein scharfer Schein schräg die Stufen hinab hart an mir vorüber, der ich mich gerade in die andere Ecke gedrückt hatte. Es war glücklicherweise auch eben nur für einen Moment, dem sofort wieder die alte Finsternis folgte.

Was gibt es? hörte ich Weißfischs Stimme.

Nichts! war die Antwort. Eine alte Gewohnheit, wenn ich hier vorbeikomme. Die Hinterthür zu einem Lokal, das Ihr in Berlin einen Verbrecherkeller nennen würdet.

Da kann er nicht sein?

O nein, sagte der Beamte. Dazu gehört mehr.

Wenn er nicht am Hafen zu finden ist, ist er nirgends zu finden; murmelte eine dritte Stimme.

Ich will nur noch eben den Gang zu Ende gehen, sagte der Polizist. Bitte, bleiben Sie hier stehen; oder besser: Sie bringen den Herrn gleich zurück, Käsebier! Umkehren müssen wir so wie so; es ist eine Sackgasse.

Und eine reizende Gasse, sagte Weißfisch, in der man sich Hals und Beine brechen kann. Wenn Sie doch nur wenigstens Ihre Laterne auflassen wollten!

Dann könnte ich sie ebensogut ausmachen, sagte der Beamte lachend. Also, ich treffe Sie am Hafen wieder.

Man trennte sich. Der Beamte ging die Gasse weiter hinab, die anderen kehrten um. Sobald die Schritte nach beiden Seiten nicht mehr zu vernehmen waren, pochte ich leise gegen die Thür. Der Beamte konnte, zurückkommend, aus »alter Gewohnheit« die Treppe noch einmal hinableuchten und weniger flüchtig als das erste Mal. Ich pochte stärker, da keine Antwort erfolgte, trotzdem ich jetzt dumpfe Stimmen von drinnen zu vernehmen glaubte. So öffnet mir doch! rief ich durch das Schlüsselloch, das ich endlich entdeckt hatte. Und wirklich drehte sich ein Schlüssel. Die Thür wurde vorsichtig so weit zurückgezogen, als die Sperrkette es zuließ; durch die Spalte sah ich das brutale Gesicht eines Kerls, der mir jetzt mit der Laterne, die er bei sich führte, in das Gesicht leuchtete:

Was wollt Ihr?

Obdach.

Könnt Ihr bezahlen?

Ja.

Die Sperrkette wurde geräuschlos ausgehoben, und die Thür geöffnet, daß ich eben durchschlüpfen konnte. Dann schloß der Mann hinter mir ab, hängte die Kette wieder ein und beleuchtete mich, die Laterne hebend, von Kopf bis zu Fuß und abermals bis zum Kopf. Das Examen schien günstig für mich ausgefallen zu sein. Von einem Menschen wie ich, mochte mich nun hergeführt haben, was da wollte, hatte man offenbar nichts zu fürchten.

Kommen Sie! sagte der Mann.

Ich hatte es aus dem Munde des Polizisten, daß dies ein »Verbrecherkeller« sei, und um hier einzudringen, »mehr gehöre«, und darunter verstanden: mehr Mut, als er mir zutraue. Nun, ich hatte den Mut gehabt und war auf alles gefaßt; vielmehr ich glaubte es zu sein. Auf das hier war ich nicht gefaßt gewesen: nicht auf das scheusälige Elend, das hier zusammengehäuft war, wie der Kehricht einer Gasse, und über das die Laterne des Wirtes schauerliche Streiflichter warf, wie er jetzt vor mir her durch diese entsetzlichen Höhlen schlürfte, hier und da das Bein, den Arm eines der auf dem faulenden Stroh rechts und links Schlafenden mit dem Fuße beiseite stoßend; einmal auch über einen Haufen Lumpen, welcher quer über den schmalen Gang lag, und in dem ein Menschenleib steckte – ich weiß nicht, ob eines Mannes oder Weibes – ruhig wegschreitend, wie ich es, ihm nach, auch thun mußte, während Ekel mir das Herz zusammenschnürte, und Entsetzen mir die Glieder wie im Fieberfrost schüttelte. Ich hatte vorhin geschaudert bei der wüsten Orgie in der Matrosenkneipe und gemeint, das sei die äußerste Tiefe, bis zu welcher das Laster sinken könne; und war doch alles nur kaum getrübtes Wasser gewesen, in Vergleich zu dem stinkenden Schlamm, durch den ich jetzt zu waten hatte. O, der grauenhaften Stunde, die mir noch heute nach Jahren in ihren gräßlichen Einzelheiten dann und wann ein Traum zurückbringt, aus dem ich, in Angstschweiß gebadet, erwache! Und mir einreden möchte, es sei eben nur ein Traum und nicht denkbar, daß so wahnsinnig Scheußliches in der Wirklichkeit existiere. Und das ich deshalb weiter zu schildern nicht versuchen will, da man mir doch nicht glauben, und vermöchte ich das Entsetzliche Zug für Zug wiederzugeben, nun erst recht annehmen würde, ich habe der Phantasie die Zügel der Vernunft abgestreift und lasse sie dahinrasen, Kinder und Thoren zu schrecken! O, Kinderweisheit, o, Thorenklugheit, die sich schrecken lassen! O Aberwitz, der die Gefahr nicht sieht! unselige Verblendung, welche die Augen vor dem Abgrund schließt, dem klaffenden Höllenrachen, dem Nimmersatten, der Jahr aus, Jahr ein und Tag für Tag seine Speise in sich schlingt, hungrig nach mehr und immer mehr – die ekle Speise, die doch nur Stücke sind, so er von dir losriß mit gierig giftigen Zähnen, von deinem Leib, o, Menschheit!

Ich erinnere mich genau, daß es gerade dieser Gedanke war, an dem sich mein betäubtes Gehirn abquälte, als ich, die Augen mit der Hand bedeckend, vor einem Glase Schnaps saß, das der Wirt ungeheißen vor mich hingestellt hatte, nachdem wir aus den Schlafhöhlen heraus in einen Raum gelangt waren, welcher die Gaststube dieser fürchterlichen unterirdischen Herberge zu sein schien. Ein etwas größerer Raum, von dessen schmutzigen nackten Wänden das Wasser in dicken Tropfen rann, die hier und da aufglitzerten im trüben Schein der Talglichter, welche vereinzelt auf den von übergegossenem Schnaps und Bier klebrigen Tischen qualmten. Es waren nur noch wenige Gäste da, wohl die zuletzt gekommenen, oder solche, die noch ein paar Pfennige daran zu wenden hatten, den trüben Rest von Verstand und Besinnung vollends zu ersäufen: aufgedunsene, totbleiche oder gräßlich gerötete Gesichter, aus denen die verglasten Augen stumpfsinnig ins Leere stierten, oder wie im Wahnsinn brannten. Ich hatte den Anblick nicht länger ertragen können und zwang mich nun doch, wieder hinzusehen, als sei es meine Pflicht, mich, bevor ich aufbräche, noch einmal zu überzeugen, daß dies Fürchterliche wahr und wahrhaftig sei; und ich es sei, der es gesehen und erlebt – derselbe Mensch, der vor noch nicht acht Tagen den Wind hatte rauschen hören durch die Riesentannen oben »auf dem Walde«, und von der Freiheit geträumt hatte, die er sich erringen müsse um jeden Preis. Nun, dies hier war der Preis: die Gesellschaft der Elendesten der Elenden – ein grausamer Hohn scheinbar, und der doch die Rechtfertigung dessen, was ich gethan, in sich barg. Mir sagte: ja, du thatest recht, als du eine Herrlichkeit von dir wiesest, welche sich auf diesem Schlammgrund aufbaut, und deshalb nicht sein sollte, ja, in Wirklichkeit gar nicht ist, nur ein Schein ist, wie Irrlichttanz auf einem faulen Sumpfe. So hatte Adalbert die Welt gesehen, in deren Glanz beim Sonnenuntergang ich mich berauschte. Ich hatte ihn einen Pessimisten gescholten. Jetzt wußte ich es besser. Es ist leicht, Optimist sein, wenn man nicht sehen will oder – sehen kann.

Der Wirt war eben einmal wieder in den Raum gekommen; ich erhob mich, an allen Gliedern wie zerschlagen, und trat zu ihm heran, fragend, was ich zu zahlen habe? Er sah mich verwundert mißtrauisch von der Seite an und versetzte brummend: das hat Zeit bis morgen früh. – Ich erwiderte, ich müsse fort; ich habe keinen Augenblick zu verlieren.

So! sagte er gedehnt. Und vorhin hatte man's so eilig? Wer ist man denn eigentlich?

Das gehört nicht hierher; erwiderte ich trotzig.

Nicht hierher? so? Vielleicht gehört man überhaupt nicht hierher unter ehrliche Leute?

Er sah mir starr in die Augen mit einem Ausdruck im Blick, vor dem mir schauderte. Offenbar hielt er mich – und hatte er nicht Grund dazu? – für einen Verbrecher, der eben von der frischen That kam. Schwerlich wurde ich dadurch schlechter vor diesen gräßlichen, blutunterlaufenen Augen, wohl nur kostbarer. Er hatte mich in seiner Gewalt. Wie hoch war der Preis, für den er mich losgeben konnte?

Ich bin überzeugt, daß der Mensch in diesem Moment sich das fragte, wie ich mich fragte, was ich ihm wohl bieten dürfe? Es war hart für mich, dessen Barschaft so schon gering genug war. Aber was sollte ich thun? Eine halbe Stunde mochte ich doch wohl schon in dieser Hölle zugebracht haben. Ich mußte fort, oder das Passagierbillet in meiner Tasche wurde zu einem wertlosen Stück Papier, und dann war ich ganz verloren.

Wieviel? sagte ich.

Taxieren Sie sich selbst; sagte der Wirt; werde dann schon sagen, ob's langt.

Ich war im Begriff, eine für meine Verhältnisse thörichte Summe zu nennen, bei der es doch schwerlich sein Bewenden gehabt hätte, als ein Mann, der in dem äußersten, dunkelsten Winkel des Raumes, das Gesicht in beide Hände gedrückt, an einer Tischecke gesessen und, wie ich meinte, geschlafen hatte, plötzlich den Kopf hob und nach uns stierte. Mir war, als müßte ich das Gesicht schon gesehen haben; aber der aus Tabaks- und Torfrauch gemischte bläuliche Qualm, welcher den Raum, wie das ganze gräßliche Lokal füllte, war zu dicht – ich konnte es nicht herausbringen. Was war auch daran gelegen? Dennoch hatte der Anblick meine Aufmerksamkeit auf einen Moment in Anspruch genommen und meine Antwort verzögert; im nächsten war der Mann von seinem Sitze aufgetaumelt und hatte ein paar Schritte auf uns zu gemacht. War es möglich? konnte das August sein?

Der Mann war stehen geblieben und fixierte jetzt mich, wie ich ihn. Auf einmal flog ein Lachen über das verwilderte bärtige Gesicht, und einen gurgelnden Laut des Wiedererkennens ausstoßend, der in einem greulichen Fluch endete, stürzte er auf mich zu und riß mich in seine Arme: Muttersöhnchen, Zuckersöhnchen! kennst Du mich denn nicht mehr? – Und derselbe greuliche Fluch noch einmal.

Es war ein schlimmes Wiedersehen, und das mir doch das Herz seltsam bewegte. Nicht bloß, weil ich in dieser äußersten Not einen Menschen fand, der zu mir stehen würde! Er hatte mich stets mißhandelt, und ich war froh gewesen, als er aus dem Hause kam; aber er war der Sohn des Mannes, den ich Vater nannte; ich hatte ihn wie einen Bruder geliebt – trotz alledem. Das alte Gefühl der Zugehörigkeit, das ich längst erloschen glaubte, wallte mächtig in mir auf, und so erwiderte ich seine Umarmung.

Na, was heißt denn das? sagte der Wirt verwundert.

Das heißt, daß Du Dich zum Teufel scheren kannst, anstatt hier zu stehen und Maulaffen feilzuhaben; schrie August den Kerl an. Oder ja, geh' hin und mach' uns einen Grog, Peter – halb und halb! Und von Deinem besten, Du ... hier folgte ein wüstes Schimpfwort – oder ich komme Dir auf Deine Glatze. Du kennst mich.

Der Wirt murmelte Unverständliches in seine Bartstoppeln, aber schlürfte gehorsam davon. August hatte mich zu sich an einen Tisch gezogen, der jetzt, wie auch so ziemlich die übrigen, leer geworden war, – von den trunkenen Gästen waren die meisten einer nach dem andern in die gräßlichen Hinterräume getaumelt.

So, sagte er; wir sind hier ganz unter uns. Nun erzähle einmal, Brüderchen, was Du dem Peter nicht auf die Nase zu binden brauchtest – war ganz recht von Dir! Mir kannst Du's ruhig erzählen: was hast Du ausgefressen?

Nichts, August; erwiderte ich, oder es wäre doch eine lange Geschichte, zu der ich keine Zeit habe. Ich muß fort von hier, auf der Stelle, und ich bitte Dich, hilf mir dazu!

Wo willst Du denn hin?

Nach Amerika, und das Schiff segelt um zwei.

Ich sah nach der Uhr und wollte erschrocken aufspringen; August hielt mich fest.

So eilig wird's nicht sein.

Ja, es ist! rief ich; ich habe höchstens noch anderthalb Stunden; und weiß nicht, wie ich an Bord komme. Ich bitte Dich, halt' mich nicht auf!

Der Wirt war wieder hereingekommen, in jeder Hand ein dampfendes Glas, welche er vor uns auf den Tisch stellte.

Trink! rief August mir zu.

Ich kann nicht, sagte ich schaudernd.

Er nahm das Glas an den Mund und leerte es bis zur Hälfte in langsamen Zügen. Ich blickte ihm, während er trank, stumm flehend in die Augen.

Na, sagte er, das Glas niedersetzend, meinetwegen.

Und dann auf französisch – und in gutem Französisch dazu, das mir an diesem Orte und aus seinem Munde gar seltsam klang: – Hast Du Geld?

Ich nickte.

Dann – er sagte das wieder französisch – gib dem Kerl –

Er nannte eine kleine Summe und fügte, als ich ihn unsicher anblickte, lachend hinzu: das sei genug; ich könne aber ein paar Groschen mehr geben, wenn ich wollte.

Ich that, wie er geheißen, und zählte das Geld auf den Tisch von dem es der Wirt in seine hohle Hand strich, augenscheinlich wenig erbaut von diesem Ausgang des Handels, aber ohne Widerrede, von der er sich keinen Vorteil versprechen mochte.

August hatte unterdessen sein Glas vollends geleert, sich erhoben und mit dem Wirt, den er ein wenig auf die Seite zog, ein paar Worte geflüstert. Dann wandte er sich wieder zu mir und sagte, abermals französisch: Wenn Du aber denen in die Hände läufst, die Dich suchen?

Es ist mir alles eines; erwiderte ich ebenso; aber fort muß ich.

Dann komm!

Der Wirt war mit uns auf einen schmalen Flur hinausgetreten, wo eine Laterne an der Wand schwälte, und an dessen Ende es eine Reihe Stufen hinaufging bis zu einer Thür, die er aufschloß. Wir gelangten in ein Gäßchen, das ziemlich steil abfiel. Nach der abfallenden Seite sah ich gegen den helleren Himmel die dunklen Linien von Schiffsmasten. Der Anblick und die frische Luft, die von dort herausstrich, erfüllten mich nach dem Grausen dieser letzten Stunde mit einem unendlichen Dankesgefühl, das ich doch ihm schuldete, der mich aus jener Hölle erlöst hatte. Heiße Thränen stürzten mir aus den Augen, während ich, unfähig zu sprechen, August an beiden Händen faßte.

Ja, ja, sagte er. Du bist das nicht gewohnt; unsereiner schüttelt das ab, wie der Hund die Flöhe. Wir sind ja nur Hunde; und das Hundeleben, das ich schon seit vierzehn Tagen führe – Tag und Nacht in der Spelunke, und nur des Nachts einmal eine Stunde draußen, wie jetzt, um ein bißchen frische Luft zu haben, immer in Gefahr, abgefaßt zu werden, wie jetzt. Und dann ein paar Jahre Festung und hinterher noch eben so viele Zuchthaus. Und das alles, weil man kein Tyrannenknecht ist und sich für die Tyrannen nicht die Knochen entzwei schießen lassen will, daß sie ihre schönen Siege gewinnen und sich Retter des Vaterlandes schelten lassen, damit's doch hübsch beim alten bleibt. Vereinigtes Deutschland – ich pfeife darauf! Schönes vereinigtes Deutschland da unten in der Spelunke, he? mit dem braven Peter als souveränem Herrscher! Möchte nur alle Fürsten und Minister da mal auf eine Nacht zusammen haben, damit sie wenigstens wissen, wie das Leben der Armen riecht! Sie schert's nicht! Beim Teufel, mich schert's auch nicht, wenn ich so wollte. Könnte da ruhig unten in der Schweiz sitzen, und von anderer Leute Fett leben. Aber wir sind ehrlich und tragen unsre Haut zu Markte, wenn's für die Brüder sein muß. Hätten mich ums Haar abgefaßt in Berlin; bin nur noch eben mit heiler Haut davongekommen – just das nackte Leben – zwei Treppen hoch zum Fenster hinaus – hoffe, daß ich sie noch alle einmal an dem Strick baumeln sehe! Gehetzt von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, wie sie ihre Sauen hetzen, die Herren im roten Frack – hinter den Hecken geschlafen, auf einem Heuboden, wenn's hoch kam, bis hierher, wo sie mir auch schon wieder auf den Hacken sind, daß ich wohl nächstens das Quartier werde wechseln müssen, obgleich Peter soweit ein ehrlicher Kerl ist und so leicht keinen von der Partei verrät. Siehst Du, Brüderchen, das nennt man in der Patsche sitzen! Weiß nicht, in welcher Du sitzt; schlimm wird's just nicht sein, wie ich Dich kenne. Aber, schlimm oder nicht, Du bist besser dran, als ich. Denn Du hast Geld und hast ein Billet nach Amerika.

Da hast Du es! sagte ich.

Ich hatte das Papier aus meiner Brieftasche genommen und drückte es ihm in die Hand. – Und da hast Du Geld – hier und hier und hier! Du siehst, ich behalte nur den kleinen Rest für mich, und würd' Dir auch den geben, wenn – willst Du ihn haben?

Gar nichts will ich, sagte August, bist Du betrunken?

Er war es bis zu diesem Augenblicke gewesen; ich hatte es wohl aus seinem Schwanken und an der schweren Zunge gehört, mit der er mir die konfuse Geschichte seiner Mission nach Berlin und seiner Flucht nach Hamburg erzählte. Jetzt war der Rausch mit einemmale verflogen. Er stand fest auf den Füßen und blickte mich, wie ich im fahlen Licht des Mondes wohl bemerken konnte, mit prüfenden Augen an.

Ich bin nicht betrunken, sagte ich; aber Du brauchst es notwendiger, als ich. Nimm, und mach' daß Du an Bord kommst! Es ist die höchste Zeit.

Und Du? kannst Du denn noch einen Platz bezahlen?

Nein, ich bleibe hier. Es war das nur so ein Einfall. Ich habe drüben nichts zu suchen. Du mußt fort. Und ich geb's Dir von Herzen gern. Nimm, nimm!

Ich drückte ihm nun doch die Scheine in die Hand; er zögerte, sie einzustecken.

Das habe ich nicht um Dich verdient; murmelte er.

Du hast Dich ja schon meiner annehmen wollen, – nach des Vaters Tode – erinnerst Du Dich nicht? und mir eine Zuflucht bei Dir angeboten. Wollt', ich hätt's angenommen und nicht zu erleben brauchen, was ich jetzt erlebt habe. Komm! komm! oder es ist zu spät!

Wenn Du wenigstens von der Partei wärest; sagte er durch die Zähne.

Und bin ich's nicht? erwiderte ich in atemloser Hast: von der Partei der Armen und Elenden, so gut wie Du? die uns zu Brüdern machen würde, wenn wir es nicht schon wären? Bei dem Andenken an unsern Vater beschwöre ich Dich, thu' mir den Willen! Ich habe keine ruhige Stunde im Leben wieder, wenn Du es nicht thust!

Ich weiß nicht, wie es gekommen war, aber wir hatten uns auf einen Haufen Bretter gesetzt, der in einem wüsten Winkel lag ein paar Schritte vor dem Ausgang der Gasse auf den Hafenkai. Der Mond schien hell in dem Winkel, und in dem Licht des Mondes betrachtete August das Papier, das er noch in den Händen hielt.

Ist denn das ein richtiges Passagierbillet? sagte er.

Es war in der That nur ein Blatt Papier, auf welchem in des Kapitäns Karl Haltermann steifer Hand geschrieben stand, daß er den Inhaber dieses für so und so viel nach Rio in seinem Barkschiff Cebe mitnehmen wolle – Verköstigung inklusive – und daß Inhaber die Summe bezahlt habe.

Ich erklärte das alles, und wie gut es sich treffe, daß es ein Segelschiff sei, und der Kapitän keine Legitimation verlange, die ich meinerseits auch nicht habe. Und weiter, wie Freund Fritz Brinkmann, den August ja so gut und besser noch kannte, als ich, mich habe an Bord schaffen wollen; und wie ich von dem Fritz auf so unglückliche Weise fortgekommen sei. Zu dieser Auseinandersetzung hatte ich nur wenige Minuten gebraucht, indem ich mich auf das durchaus Notwendige beschränkte. Ich konnte die Zeit von der Uhr lesen: es war in fünf Minuten eins.

Nur noch eine Stunde, rief ich aufspringend.

Er erhob sich langsamer.

Es wird nichts helfen, sagte er; wir kommen – oder ich komme nicht an Bord ohne Fritz. Sie halten scharf Wache am Hafen. Und wenn nicht wenigstens einer dabei ist, der, selbst unverdächtig, den andern legitimieren kann, geht es nicht.

Versuchen müssen wir's, sagte ich; auf alle Fälle.

Nun denn: auf alle Fälle; sagte er.

Er hatte schon vorher den Rock über dem Billet, das er mit dem Gelde in eine schmutzige Brieftasche gesteckt, zugeknöpft. Bei den letzten Worten hatte er in eine Seitentasche gegriffen und etwas hervorgezogen, das er mir hinhielt. Es war ein langes Dolchmesser.

Hast Du auch so was? sagte er mit finsterem Lächeln.

Nein, sagte ich, wozu?

Eben auf alle Fälle! erwiderte er, das Messer wieder in die Tasche gleiten lassend.

Ich weiß nicht, was ich zu einer anderen Zeit, in anderer Stimmung dabei empfunden haben würde. Jetzt sah ich nichts, als einen wilden Eber, den die Hunde verbellt haben, und der seine Hauer wetzt. Soll er sich nicht seines Lebens und seiner Freiheit wehren? Und wahrlich, das Bild mußte mir wohl kommen, als im Schein des Mondes das Messer in der Hand dieses finsteren, breitschultrig-stämmigen Mannes blinkte, dem ein stachliger schwarzer Bart bis beinahe in die funkelnden Augen starrte. Ich hatte immer einen tiefen Respekt vor seiner alles wagenden Kühnheit und seiner schier übernatürlichen physischen Kraft gehabt, und die knabenhafte Bewunderung solcher Eigenschaften war dem Jüngling noch unverloren. Er wird's schon durchwettern, sprach ich bei mir, besser, als du's irgend gekonnt hättest. Und so gebührt ihm die Fahrt ins Land der Freiheit und nicht dir.

Wir waren eben aus unserm Winkel herausgetreten, als ein eiliger Schritt das Gäßchen herabkam.

Es ist nur einer, sagte August ruhig, mit der Hand in in die Tasche fassend, wo das Messer stak. Ich reckte meine waffenlosen Arme – gutwillig gab ich mich nicht, das stand bei mir fest.

Da war der Eilige schon bei uns.

Holla! Lothar, bist Du's?

Fritz!

Dammi! das war zur rechten Zeit! Ich lauf' schon seit einer Stunde Gass' auf Gass' ab. Wo zum Teufel hast Tu denn gesteckt? Wer ist das?

Ein alter Freund, Fritz: der August!

Welcher Satan führt denn Dich hierher?

Er geht statt meiner mit Dir, Fritz.

Dammi! Warum?

Es kann Dir gleich sein und Deinem Kapitän auch. Mach' nur, daß wir fortkommen!

Fritz hatte als Junge stets alles gethan, was ich gewollt, und an jenem Herbsttage, als wir auf dem wackligen Boot jene unsinnige Probefahrt machten, sein Leben für ein Gelüst von mir in die Schanze geschlagen. Es bedurfte auch diesmal nur weniger Worte, den Gutmütigen unter meine Autorität zu beugen. Wenn ich darauf bestehe, nun, er hätte mich dammi! gern mitgehabt, aber der August sei ihm auch recht; und der Kapitän wolle nur sein Geld. Das habe er; und, einen tüchtigen Schlosser an Bord, das sei auch nicht bitter auf einer Fahrt von sechzehn Wochen – bi Gott! das Boot liege schon seit einer Stunde da – gerade vor uns. Aber ich solle nun zurückbleiben. Einen könne er schon herausreden, im Fall wir angehalten würden; zwei – dammi! das gehe über den Flaggenstock.

Gut denn: so geht Ihr beide. Leb' wohl, August! leb' wohl, Fritz!

Ich hatte August umarmt und Fritz die große harte Hand gedrückt; zu langem Abschied war nicht die Zeit. Ich begleitete sie ein paar Schritte, bis zum Ausgang des Gäßchens; da blieb ich im Schatten der Häuser stehen. Sie huschten über den mondbeschienenen Kai schräg weg nach der Stelle, wo unten an der Treppe, deren oberes Geländer ich noch eben sehen konnte, das Boot lag und verschwanden hinter der Brüstung. Würden sie unbehelligt fortkommen? Ich stand da, spähend, mit hochklopfendem Herzen. Eine Militärpatrouille kam den Kai herauf gleichmäßig hallenden Schrittes: ein Offizier auf der Ronde mit seinen Leuten. Sie konnten ebensowohl in mein Gäßchen biegen; mochten sie den Vagabunden mit zur Wache nehmen! Ich hatte nur Aug' und Ohr für meinen Flüchtling.

Die Patrouille war vorüber, alles war wieder still. Nun der dumpfe, mir so wohl bekannte Ton, wenn die Riemen eines Bootes gegen die Pricken drücken! Und noch ein paar bange Minuten, dann gleitet über die offene Stelle des Hafens, welche ich gerade von meinem Standpunkt überblicken kann, zwischen den großen Schiffen ein Boot. Ich sehe es deutlich in dem hellen Mondschein, und daß zwei die Riemen führen, während ein dritter am Ruder sitzt. Es gleitet pfeilschnell dahin und ist im nächsten Moment hinter dem dunklen Schiffskörper rechts verschwunden. Die »Cebe« liegt weiter draußen; aber einmal in dem Außenhafen, sind sie vor jeder Verfolgung sicher. Gott sei Dank!

Und dann saß in dem Gäßchen in dem Winkel auf dem Bretterhaufen, auf welchen der Mond schien, ein armer Junge, den Kopf in die Hand gestützt. Er hatte gethan, wozu ihn sein Herz getrieben, und er bereute es nicht. Aber, als jetzt eine benachbarte Turmuhr zwei schlug und von den andern Türmen es weiter hallte in der großen fremden Stadt, die ihm nach dem, was er hier durchlebt, als ein schlingendes Ungeheuer erscheinen mußte, und er nun im Geist die Ankerketten des Schiffes rasseln hörte, das einen Geretteten in das Land der Freiheit trug – es wird wohl keiner so grausam sein, den armen Jungen zu verachten, wenn er da das Gesicht in die Hände drückte und bitterlich weinte.

 

Ende des ersten Bandes.


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