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Fünf Tage später – in der letzten Stunde eines schwülen Sommerabends – stand ich vor einem jener uralten, windschiefen, mit jedem Stockwerk ein wenig vorspringenden Häuser, welche sich in langer Zeile an dem Innenhafen von Hamburg hinziehen, und betrachtete ein großes Schild, auf welchem ein Schiff gemalt war, das mit vollen Segeln durch grasgrüne Wogen strich. Unter dem Schiff las man in großen Buchstaben: Nach Amerika. Darunter in kleinerer Schrift: Billet-Ausgabe nach New-York, Philadelphia, Boston, New-Orleans und Australien. Wieder darunter: Geldwechsel.
Aber ich betrachtete das Schild nur so aus Langerweile, denn, wenn ich auch nach Amerika wollte, so war dies nicht meine Route. Ich hatte vielmehr mein Billet bereits in der Tasche. Es lautete auf einen südamerikanischen Hafen mit dem Segelschiff »Cebe«, Kapitän Karl Haltermann; und mein alter Spielgenoß aus den Knabenjahren, Fritz Brinkmann, Kutschers Karl Brinkmann ältester Sohn, hatte es mir besorgt.
Fritz Brinkmann war Untersteuermann auf der »Cebe«, und der Kapitän war auch aus unsrer Stadt, ein älterer Mann, den ich von Ansehen wohl gekannt hatte; und der um der Landsmannschaft willen, und weil mich Fritz Brinkmann so warm empfohlen, ein Auge über den gänzlichen Mangel an Legitimationspapieren bei mir zudrücken und mich mitnehmen wollte.
Ich aber hatte Fritz Brinkmann gestern morgen hier am Hafen zufällig getroffen. Die Freude des Wiedersehens war auf beiden Seiten gleich groß gewesen, und ich hatte den braven Burschen ohne weiteres mit meiner Lage so weit vertraut gemacht, als es für ihn notwendig war. Ich sagte ihm, daß nach dem Tode des Vaters meine Verhältnisse immer mißlicher geworden seien, bis ich den Entschluß gefaßt hätte, Europa den Rücken zu kehren und in Amerika mein Heil zu versuchen. Mit Geld sei ich hinreichend versehen, um die Ueberfahrt nach New-York in der zweiten Klasse eines Postdampfers bezahlen zu können. Aber, abgesehen davon, daß dabei fast mein ganzes kleines Kapital darauf gehen und ich so ziemlich pfenniglos drüben ankommen würde, mache man mir wegen meiner Legitimationslosigkeit Schwierigkeiten, die mich beinahe schon mit der Polizei in bösen Konflikt gebracht hätten. Ob Fritz keinen Rat wisse?
Der gute Fritz hatte Rat gewußt. Ganz glatt lief die Sache freilich auch jetzt noch nicht, und Vorsicht und Geheimnis waren dringend geboten, wenn auch über die Schiffe nach Südamerika, die im Außenhafen vor Anker lagen, eine so scharfe Kontrolle nicht geübt wurde; und zumal die »Cebe«, die nur gelegentlich Passagiere beförderte, kaum etwas nach dieser Seite zu fürchten brauchte. Gegen das Gesetz verstieß der Kapitän immer, wenn er mich hinter dem Rücken der Polizei mitnahm; und so hatte er sich denn den Dienst, den er mir leisten sollte, nicht nur ganz anständig, wie Fritz meinte, bezahlen lassen, sondern diesem auch auf die Seele gebunden, daß er mich »auf seine Gefahr« an Bord zu schaffen, das heißt: wenn er dabei abgefaßt würde, »vor dem Riß zu stehen habe«. Er – der Kapitän – werde in diesem Falle von der ganzen Geschichte »nichts nicht wissen«.
Fritz hatte gesagt, er habe es auch nicht anders verstanden, und was die Gefahr betreffe, so »pfeife er darauf«.
Zwischen mir und Fritz aber war verabredet worden, daß wir uns Punkt neun Uhr vor dem »Saxonia-Hotel« begegnen, den Abend – er hatte zu dem Zweck vom Kapitän Urlaub erhalten – miteinander zubringen und Punkt zwölf Uhr von einem ihm bekannten, völlig sicheren und verschwiegenen Jollenführer an Bord rudern lassen wollten.
Das Saxonia-Hotel war mein Hotel: von all den schiefen, wurmstichigen Häusern am Hafen das schiefste und wurmstichigste; trotz seiner drei Stockwerke, über denen nach rechts und links je ein Giebel aufragte, nicht höher, als die zweistöckigen Nebenhäuser, welche auch nicht eben hoch waren. Die Fenster klebten dicht aneinander, und bildeten, da das Haus sich nach der Mitte zu gesenkt hatte, anmutige Kurven. Nur die beiden oberen Reihen (nebst den Giebeln) gehörten zum »Hotel«; zu ebener Erde und in dem Souterrain hatten neben- und übereinander noch ein »Wool & Coal Merchant«, ein »Watch-Maker«, ein »Grocer« und ein »Dealer in Wine & Spirits« Raum gefunden.
Vor diesem interessanten Gebäude, welches ich auf meiner Wanderung nun schon ein paar Dutzend Male passiert – jedesmal dem Himmel dankend, daß ich in der gräßlichen heißen Koje da oben in dem Giebel rechts nicht noch eine Nacht zuzubringen brauchte – machte ich jetzt wieder Halt. Denn die Uhr in dem Laden des »Watch-Maker« zeigte auf neun, und gleich darauf schlug es auch neun von irgend einem Turme in der Nähe: die verabredete Stunde.
Ich wartete fünf, zehn Minuten, nach allen Richtungen spähend: unter den Passanten wollte Fritz' breitschulterige Gestalt nicht auftauchen. Es mußte ihm irgend etwas dazwischen gekommen sein. Geduldig begann ich meine Wanderung von neuem, jetzt aber mich auf die Nähe des Saxonia-Hotel beschränkend und nur manchmal über die Straße hinüber bis an den Rand des Kai gehend und dort, mich auf die hölzerne Brüstung lehnend, in den Hafen hinein nach der Richtung spähend, wo, wie ich wußte, die »Cebe« vor Anker lag.
Es lägen nicht eben viele Schiffe im Hafen – hatte mein Wirt gesagt, und Fritz hatte es bestätigt – trotzdem mir, dem an die bescheidenen Verhältnisse meines kleinen Heimatsortes Gewöhnten, der Anblick der langen, schier endlosen Reihen von so viel Fahrzeugen jeder Größe und Gattung mit dem Wald von Masten, Raaen, Spieren, welcher von einem unentwirrbaren Netz von Tauen übersponnen und von zahllosen Wimpeln überflattert war, gewaltig imponierte. Gerade in diesem Moment, wo sich das ungeheure Bild von dem rotglühenden abendlichen Himmel, bis in die kleinsten Einzelheiten deutlich erkennbar, abhob, schwimmend auf dem Wasser, welches die rote Glut zurückstrahlte, daß es, aller Erdenschwere entrückt, mir wie ein Abbild der Freiheit erschien, nach der meine Seele lechzte, wie der Hirsch nach Wasser.
Und die Worte Fausts, der der scheidenden Sonne nachblickt, kamen mir in den Sinn:
Ich eile fort, ihr ew'ges Licht zu trinken,
Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht –
Welche Nacht! so dunkel, so voll von Schrecken, daß mir, der ich jetzt an sie zurückdachte, an dem brutwarmen Sommerabend das Blut kalt durch die Adern rieselte. O, der grausigen Stunden, die ich – drei endlose Tage und Nächte hindurch – in dem Giebelstübchen der Mühle verbrachte, bis die Jagd, welche man ringsumher nach mir, wie nach einem entsprungenen Verbrecher, anstellte, an ihrer Erfolglosigkeit ermüden würde! Damals, als man glaubte, daß die Wasser des Baches sich über meiner Mutter und ihrem Kinde geschlossen, hatte man es sich bequemer gemacht. Die böse Sache sollte eben »entre nous« bleiben. Heute hatte es gerade nur noch an einem Steckbrief in den Zeitungen hinter mir her gefehlt. Woher der Unterschied zwischen damals und jetzt? War es Adeles Einfluß, die, nachdem sie ihren Frieden mit dem Herzog gemacht, nicht daran zweifelte, daß es ihr leicht gelingen werde, den Bruch zwischen ihm und mir wieder auszuheilen? War es die kindisch-lächerliche Ursache dieses Bruches, deren man sich nachträglich schämte, und die man vergessen machen wollte, bis – nun ja, bis man den Ueberlästigen wenigstens auf eine anständige Weise entfernen konnte? War es, daß die momentane thörichte Wallung einer besseren Empfindung hatte weichen müssen; man sich des Wohlwollens erinnerte, mit dem man den jungen Menschen behandelt hatte, und das dieser doch auch zu verdienen schien, und infolgedessen wirkliche Reue über das Geschehene empfand und das Verlangen, es nach Kräften wieder gutzumachen?
Ich hatte die Wahl gehabt zwischen diesen verschiedenen Erklärungen des Uebereifers, mit welchem man die verlöschten Spuren des Flüchtlings aufzufinden suchte: aber, welcher ich auch den Vorzug gab: ich wußte, ich durfte zurückkehren; es stand bei mir, ein Verhältnis wieder anzuknüpfen, das jetzt, nachdem ein Zufall die Wahrheit desselben an den Tag gebracht hatte, bei nur einiger Klugheit meinerseits gar nicht anders als zum höchsten Vorteil für mich ausschlagen konnte. Als ob die Klugheit, wenn man sie allein walten läßt, nicht gar vieles vermöchte, wovon sie wohl Abstand nehmen muß, sobald sie im Dienst der Ehre thätig sein soll! Und mir gebot die Ehre, daß ich lieber mich von Träbern nähren müsse, ein verlorenes Menschenkind, als mit ihm an einem Tische essen, für den meine Mutter »entre nous« sich samt ihrem Kinde ertränkt hatte.
Sechzehn Jahre hatte er die Schuld auf seinem Gewissen fühlen können, wenn ein etwas derart in seinem moralischen Haushalt sich vorfand. Denn nicht, wie er mir an jenem Abend sagte, unmittelbar nach dem bösen Vorfall war er in die Müllersleute gedrungen, ihm die Wahrheit zu entdecken, und hatten sie ihm dieselbe entdeckt – nein! erst im vorigen Herbst, als Weißfisch die Totgeglaubte wiedergefunden und durch das Bild, welches er mir aus dem Koffer stahl, die Identität der Tischlersgattin mit der einstigen Primadonna des Hoftheaters auch für den hohen Herrn konstatiert hatte, war der Müller halb durch Bitten, halb durch Drohungen vermocht worden, einen Schwur zu brechen, welcher durch die Thatsache des Lebens meiner Mutter und ihres Kindes inhaltlos geworden war.
Was hätte der hohe Herr wohl jetzt darum gegeben, wäre der schlaue Weißfisch weniger schlau gewesen, und sein Gewissen hätte die leichte Last weiter tragen dürfen!
Aber weshalb kehrten meine Gedanken immer wieder zu ihm zurück, der fürder für mich tot sein mußte, wie ich selbst es für die war, die ich doch wenigstens Mutter hatte nennen dürfen?
Und die mir doch in den ersten Jahren meines Lebens wirklich Mutter gewesen war und ihre Mutterpflichten an mir erfüllt hatte, ich durfte nicht zweifeln, mit derselben Leidenschaftlichkeit, mit der sie alles bis ins Uebermaß steigerte, was immer ihre phantastische Seele erfaßt hatte als dasjenige, wofür zu leben es sich einzig der Mühe verlohne: Mitleid, Liebe, Freundschaft, Resignation, Religion – der Reihe nach, um, – wer konnte es wissen? – die Reihe von vorne zu beginnen. War es doch dieser Gedanke, daß sie den Sohn in ihre Arme und an ihr leidenschaftliches Herz schließen würde, wenn er jetzt vor sie trat und sprach: ich weiß nun, was an uns beiden gefrevelt ist, und verzeihe dir, wie ich hoffe, daß du mir verzeihen wirst – und ihm, der mir den Weg nach Amerika gewiesen. Gutmütiger Narr! Als ob der Pfaffen Arme nicht länger wären, als die der Könige! Der Pfaffen Hände nicht festzuhalten verstünden, was sie einmal gepackt hatten, nun gar jetzt, nachdem die Beute gemacht und der Millionenschatz gehoben war! Und du, Narr, in den Verdacht geraten würdest, nicht zur Mutter zu kommen, sondern zu der reichen Frau! Und die reiche Frau dir durch ihre Diener sagen lassen würde, sie sei für Bettler nicht zu sprechen! Bist du in Deutschland aus einem Herzogsschlosse stolz geflohen, um dich drüben von der steinernen Schwelle eines Bankier-Hauses auf dem Broad-Way schimpflich fortjagen zu lassen? Hat das Schicksal dir versagt, was es doch sonst dem Allerärmsten gewährt: daß er Eltern hat, die er bei dem teuren Vater- und Mutternamen nennen, und, so Gott will, lieben und achten darf, und dich so von den heiligsten Banden der Natur gelöst, – nun, so hat es auch offenbar gewollt, daß du den Trieb der Freiheit, den es in deinen Busen pflanzte, als Ersatz für das Vorenthaltene nehmest; kühn diesem Triebe folgest und aus dir einen Menschen machest, der sich vor keiner Autorität beugt, sie sei denn sanktioniert durch den Ausspruch der Vernunft. Und wollen sie der Freiheit goldnes Samenkorn hier ersticken unter den Dornen ihrer Vorurteile, es zertreten auf der steinigen Straße tausendjährigen Schlendrians, nun, in dem neuen Kontinent, wo es keine Basalte und keine alten Schlösser gibt, wird es schon einen guten gedeihlichen Boden finden und Früchte tragen hundert und tausendfältig.
So phantasierte ich, auf das hölzerne Geländer gelehnt, während die Abendglut, die meine Träumereien gezeitigt hatte, allmählich verblich, und der dumpfheulende Ton einer Signalpfeife von einem der kleinen Schlepper im Hafen mich daran mahnte, daß ich vorläufig noch sehr weit von dem Lande meiner Hoffnung sei und, wenn mich Fritz Brinkmann im Stich lasse, wie es nun allen Anschein hatte, auch schwerlich jemals dahin gelangen werde.
Verzweifelnd schier starrte ich in den Abend hinein. Schon begannen die Gestalten der Passanten schattenhaft zu werden; die Lichter der Laternen blitzten längs des Kai auf; die Fenster in den alten Häusern erhellten sich allgemach – und noch immer kein Fritz! Das hätte ich dem sonst so braven Kerl nicht zugetraut!
Endlich! – Aber Du hast mich lange warten lassen!
Konnte bi Gott nicht eher! gab zu viel zu thun an Bord; und just, als ich da unten anlege, begegne ich ein paar Jungen, die ich in Australien glaubte und mit denen ich notwendig ein Glas trinken mußte – dammi!
Es war augenscheinlich nicht bei dem einen Glas geblieben. In dem Licht der Laterne, das plötzlich neben uns aufflammte, sah ich, daß sein breites Gesicht von einer bedenklichen Röte war, und aus dem breiten Gesicht die kleinen Augen unbehaglich hell glitzerten. Indessen, der Fritz konnte einen Hieb vertragen – das wußte ich; und – betrunken oder nüchtern – er war mein Stab und meine Stütze.
Und die auch nicht wesentlich schwankte, als wir jetzt Arm in Arm den Kai hinausschlenderten, vorüber an dunklen Gestalten, die uns nur noch seltener begegneten, und mit denen Fritz gelegentlich einen kurzen Gruß oder ein derbes Schifferwort austauschte. Dazwischen sprach er ganz vernünftig mit mir über unsre bevorstehende Reise, die voraussichtlich sechzehn Wochen dauern würde; über den Kapitän, der soweit ein ordentlicher Mann und nur ein bißchen sehr hinter dem Gelde her sei. Ich hoffte, den guten Jungen so im Gespräch zu erhalten bis zur Stunde, in welcher wir an Bord gehen sollten; aber plötzlich bog er vom Hafen ab in eine schmale und dunkle Seitengasse, aus der uns in einiger Entfernung das Licht einer roten Laterne entgegendämmerte. Das sei seine Lieblingskneipe, sagte Fritz – und man hörte ordentlich das Behagen, mit welchem er es sagte; – da gebe es das beste Ale und den besten Cherry-Cobler und die schönsten Mädchen, und so oft er noch von Hamburg ausgefahren sei, habe er seinen letzten Abend da verbracht. –
Was sollte ich thun? Dem guten Jungen ein Vergnügen stören, auf das er sich offenbar schon so lange gefreut hatte, und welches auf Monate hinaus das letzte nach seinem Geschmacke sein würde? Dazu hatte ich kein Recht, und ich war seit mindestens drei Stunden ununterbrochen auf den Beinen gewesen, gründlich ermüdet und einer Erquickung dringend bedürftig. So bat ich denn den Kameraden nur, der Verantwortung, die er sich mit mir aufgeladen, eingedenk zu sein und sich nicht vollends –
Zu betrinken? unterbrach mich der Vergnügte lachend. Als ob ich bi Gott nicht so nüchtern wäre, wie die Spritzen bei uns zu Hause, wenn sie im Sommer mal probiert wurden, und das Wasser aus allen Schläuchen platzte. Weißt noch? Nein, sei ganz ruhig! Erstens betrinke ich mich nie; und zweitens würde sich das in der Gesellschaft von einem so noblen jungen Herrn auch gar nicht schicken. Und nicht wahr, Lothar, – Du kannst sie alle haben, und ich gönne sie Dir von Herzen; aber, nicht wahr, die Katherin – das ist meine Flamme – die läßt Du mir! Hand darauf!
Wir reichten uns unter der rothen Laterne feierlich die Hände; ich blickte zaghaft zu dem Schild über der Thür, auf dem noch eben »Mermaid« zu entziffern war über einer Gestalt, welche vermutlich die betreffende Nixe in Person vorstellen sollte, wie sie im obligaten Kostüm aus spritzenden Wogen taucht und einem Herrn in Matrosenkleidung, der sich von einem Felsen zu ihr herabbiegt – auf die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren – einen weitbauchigen, von dem edlen Inhalt überschäumten Pokal kredenzt –
Es wird Dir schon gefallen, raunte mir Fritz zu mit vor antizipiertem Vergnügen rauher Stimme; bi Gott!
Und wir gingen in das Haus.
Ein dunkler oder doch kaum erhellter Flur; Fritz faßte mich bei der Hand und führte mich geradeaus bis zu der hinteren Wand, in welcher er eine Thür öffnete, durch die er mich vor sich herschob, um dann selbst zu folgen.
Ich mochte mir von dem Lokal in der Eile ein schauerliches Bild gemacht haben und war deshalb angenehm überrascht, als nun, was ich sah, jenem Bilde in keiner Weise entsprach: ein sehr großer, allerdings drückend niedriger, mäßig beleuchteter, aber durchaus reinlicher, mit einem rohen, offenbar gut gemeinten Geschmack dekorierter Raum, der mit seinen glatten Dielen wohl als Tanzplatz dienen mochte, und von dem nach allen Seiten (außer der Flurseite) sich größere und kleinere, zum Teil mit roten Vorhängen verhüllte Kojen öffneten. Der große Raum war bis auf einige wenige Paare, welche sich nach den Klimpertönen eines verstimmten Klaviers, das ein alter Mann bearbeitete, im Walzer drehten, leer; in den Kojen mußten sich hier und da Gesellschaften befinden, denn man hörte sprechen, lachen oder singen, aber keineswegs übermäßig laut, oder doch nicht viel lauter, als es in unserem ersten Restaurant auch zugegangen war, wenn mich Renten nach einem Hoffest abgeholt hatte, eine letzte Flasche Sekt mit ihm und anderen Hofkavalieren en petit comité zu trinken.
Es ist noch zu früh, sagte Fritz, der den Ausdruck meines Gesichtes mißdeutet haben mußte; aber warte nur eine lütte Stunde, dann sollst Du schon Deine Freude daran haben, bi Gott!
Fritz war augenscheinlich ein oft und gern gesehener Gast der »Mermaid«. Von den »Damen« kamen ihm zwei oder drei entgegengestürzt, mit denen er sofort in ein lustiges Wortscharmützel geriet, bei welchem es just nicht immer blieb. Ich stand in bitterer Verlegenheit daneben, bis der Vielumworbene sich meiner erbarmte, die letzte Nixe (und eine recht plumpe war's, eher wie eine Phoke, als wie eine Nixe anzusehen) von sich schüttelte und mich tiefer in den Hintergrund des Saales geleitete, wo er dicht neben dem »Bar«, hinter welchem die Wirtin thronte, an einem Tische noch innerhalb des Saales mit mir Platz nahm, bei der Nixe, die uns gefolgt war, ein Abendessen »gleichviel was, wenn's nur gut ist« und zwei Gläser »aber vom echten« bestellend. Dammi!
Ich merkte, daß irgend etwas Fritz' gute Laune gestört haben mußte, und ich sollte alsbald die Ursache davon erfahren. Im Vorübergehen hatte er in einer der Kojen durch eine Spalte des roten Vorhanges seine »Flamme«, seine Katherin, mit einem Matrosen gesehen, den er schon lange, das heißt: seit vorgestern abend, in Verdacht der Nebenbuhlerschaft um die Gunst der Schönen genommen. Fritz schwur, wenn sich das bestätigen sollte – und er wolle schon dahinterkommen – der Kerl müsse da zu der Thür hinaus, noch ehe eine Stunde ins Land gegangen, oder er heiße nicht Fritz Brinkmann! Ich hatte Mühe, den Aufgeregten einigermaßen zu beruhigen, indem ich ihm pathetisch von dem raschen Wandel der menschlichen Dinge im allgemeinen und dem Wankelmut der Frauen im besonderen sprach – Unvermeidlichkeiten, in die man sich als Mann und Philosoph mit geduldigem Lächeln zu fügen habe. Einen rascheren und entschiedeneren Erfolg als meine lange Rede hatte die kurze der Wirtin, welche sich zu uns gesetzt hatte, und, nachdem sie erst an meinem, dann an des Freundes Glase genippt, – sich zu überzeugen, ob wir auch vom »echten« hätten, – zu Fritz sagte: Fritz Brinkmann, Du bist ein Schafskopf, ein richtiger. Wenn es nicht die Katherin ist, so ist es eine andere; und da soll mich – hier folgte ein kräftiger Fluch – wenn von meinen zehn Mädchen nicht neun hübscher sind, als die Katherin.
Die Wirtin mußte wieder an den »Bar«; Fritz sah ihr mit strahlendem Gesicht nach. Ein kapitales Frauenzimmer, sagte er; und recht hat sie, bi Gott!
Eines von den Mädchen hatte der Wirtin Platz an unserm Tische eingenommen; Fritz begann sofort, die eben vernommene Theorie in fröhliche Praxis umzusetzen, wobei ihm die Stine in gefälliger Weise entgegenkam. Sie trank aus seinem Glase, zauste ihm in seinem Backenbart und erlaubte sich und ihm andere Freiheiten, zu denen ich überlegen lächelte, während ich tausend Meilen von diesem Orte zu sein wünschte. Denn die traurigen Erfahrungen meines jungen Herzens hatten mir in nichts die heilige Scheu geraubt, welche ich von Kindheit auf vor den Frauen empfunden, und mit der ich zu meiner Mutter anbetend aufgeblickt hatte. Aber konnte man diese hier Frauen nennen, ohne das Wort zu entweihen: diese entarteten, erbarmungswürdigen Geschöpfe, bei denen man nur deshalb nicht von Laster sprechen durfte, weil sie offenbar nicht mehr wußten, oder nie gewußt hatten, was Frauentugend war? Und denen ich nur dafür im stillen dankte, daß sie so grenzenlos häßlich waren: grobe, gemeine Gesichter mit entsprechenden, zum Teil unförmlich plumpen Leibern; und keine, die nicht über die erste Jugend längst hinaus gewesen wäre. Was denn wieder einen traurig-lächerlichen Kontrast bildete zu der Erscheinung ihrer Verehrer, die zumeist, wie Freund Fritz, kaum das Jünglingsalter überschritten hatten, manchmal noch halbe Knaben waren: schlanke elastische Gestalten, manche augenscheinlich guter Leute Kind, mit offenen Mienen und glatten Stirnen, auf die wohl kaum schon eine südliche Sonne herabgebrannt haben mochte. Dazwischen denn auch freilich wüste, verwegene Gesellen, die sich nicht minder augenscheinlich den Wind in allen Teilen der Welt um die Kupfernasen hatten wehen lassen und von mancher wilden That und tausend wüsten Orgien erzählen konnten.
Denn allmählich hatten sich die Räume gefüllt, die dadurch und weil sich von der Decke der Tabaksrauch wie ein graues Tuch immer tiefer senkte, um vieles kleiner und noch niedriger als im Anfang erschienen. Die verhältnismäßige Stille war einem wüsten Lärm gewichen, in welchem man nur noch manchmal das Klavier hörte, trotzdem der alte Mann ohne Aufhören die Tasten bearbeitete. Auch schienen die Tänzer der Musik nicht zu bedürfen, sondern machten sich derer nach Bedarf durch Schreien, Jauchzen und Klappern mit Stückchen Holz, die sie zwischen den Fingern hielten, auch wirklichen Kastagnetten, welche ein paar braunschwarze Bursche mit großen Ringen in den Ohren aus den Taschen ihrer verschlissenen Samtjacken genommen hatten. Und so wenig wie der Musik, bedurften die Lärmenden der Tänzerinnen – glücklicherweise! Denn es waren schreckliche Tänze, die da getanzt wurden, wenn man dies Gliederverrenken, dies Schleudern mit Armen und Beinen noch so nennen durfte: Tänze, wie sie nur die Lasterhöhlen überseeischer Hafenorte so grauenhaft hatten ausbrüten können. Der Anblick wäre unerträglich gewesen, hätte ich dabei nicht beständig das Gefühl gehabt, daß es die Bursche im Grunde gar so schlimm nicht meinten, ja, daß sie sich zum guten Teil gar nichts dabei dachten und in der Welt nichts wollten, als die überschüssige Kraft vertoben und eine Stunde lustig sein im Rückblick auf die monatelangen Entbehrungen und Strapazen, von denen sie gestern heimgekehrt waren, oder denen sie mit dem nächsten Morgen entgegengingen.
Dennoch sehnte ich mich von Herzen aus diesem traurigen Tempel der Lust, den ich doch ohne Fritz nicht verlassen konnte; und Fritz raste schon seit einer Stunde mit den Rasenden und war jetzt sogar gänzlich verschwunden.
Er wird schon wiederkommen, tröstete mich die Wirtin, die sich, wie sie das schon mehrmals im Laufe des Abends gethan, zu mir gesetzt hatte. Stine oder Katherin – das ist ganz gleich. Meinen Sie nicht auch?
Ich meinte allerdings, daß Stine und die Katherin, die ich inzwischen auch gesehen, ganz gleiche Ungetüme in meinen Augen seien; aber da ich das der Frau nicht sagen konnte, schwieg ich verlegen.
Sie schien sich an meiner Verlegenheit zu weiden, die dadurch nur noch vermehrt wurde. Ich hätte, ich weiß nicht was, darum gegeben, wäre die Frau wieder zu ihrem »bar« zurückgekehrt; aber hinter demselben stand jetzt ein großer, breitschultriger, finster blickender Mann, ihr »barkeeper«, wie sie mir sagte, der um diese Stunde, wo die Jungens ein bißchen übermütig zu werden pflegten, seinen Posten antrete. Sie selbst sei Witfrau, schon seit drei Jahren; aber werde wohl wieder heiraten müssen, das Geschäft wolle doch ohne Mann im Hause manchmal nicht recht gehen; ob ich sie heiraten möchte? Ich lachte über den tollen Scherz, und sie lachte auch und zeigte dabei zwei Reihen weißer Zähne. Auch sonst bemerkte ich, sie jetzt zum erstenmale mit scheuer Aufmerksamkeit betrachtend, daß sie in ihrer Art eine hübsche Frau war von etwas vollen, aber nicht unschönen drallen Formen, deren Reize sie augenscheinlich sehr gut kannte. Sie hatte dessen auch gar kein Hehl; und da sei es denn ein Kreuz und ein Elend mit den Mannsleuten, deren sie zehn an jedem Finger habe; aber ihr dürfe keiner zu nahe kommen, das hätte ich doch wohl schon selbst gesehen!
Dabei war sie nah und näher an mich herangerückt, indem sie, sich weit vorbiegend, den Ellbogen auf den Tisch stemmte und, die rundliche Wange in die flache Hand drückend, mich immerfort mit Blicken betrachtete, deren Meinung ich trotz meiner Unerfahrenheit kaum mißverstehen konnte. Wie denn ein so junges vornehmes Blut hierher komme? und was ich drüben wolle? da könne man so feine Herrchen gar nicht brauchen. Ich sollte hübsch hier bleiben in Hamburg, bis ich wenigstens ein paar Jahre älter geworden, in einem feinen kaufmännischen Geschäft, wie sie deren viele kenne mit guten Stellen. Ob sie mir eine verschaffen solle? Ich brauche bloß ein Wort zu sagen und die Sache sei abgemacht. Ueber die ihr gebührende Provision würden wir uns schon verständigen.
Ich saß auf glühenden Kohlen, und meine Situation wurde dadurch nicht weniger peinlich, daß ich wiederholt die Gesichter der vorüberstreifenden Gäste mit einem spöttischen Ausdruck auf das seltsame Paar in dem Winkel gerichtet sah. Denn wir befanden uns in einem äußersten Winkel des Lokals, welchen die Wirtin wohl für sich und etwaige bevorzugte Gäste reserviert hielt, deren einziger ich Aermster heute abend war. Und keiner der anderen wagte uns zu stören! Und Fritz schien mich ganz vergessen zu haben! Wie sollte dies enden? Meine Zaghaftigkeit, meine Zerstreutheit, weit entfernt, die hübsche Frau abzuschrecken, schienen ihr Wohlgefallen an mir nur zu vermehren. Ihre Blicke wurden immer feuriger, ihre Rede immer verfänglicher; schon seit Minuten war meine Hand nicht mehr aus der ihren gekommen. Plötzlich hatte ich sie ihr denn doch entzogen.
Aber nur aus Schrecken.
Meine Augen, die an ihr vorüber in den Raum starrten, hatten an dem entgegengesetzten Ende eine Gestalt entdeckt, welche auf den ersten Blick Weißfisch zu ähneln schien, und in der ich mit einem zweiten Weißfisch erkannte. Er war in Begleitung eines um einen Kopf kleineren Mannes, der sicher kein Schiffer war. Beide konnten eben erst eingetreten sein und standen noch in der Nähe der Thür, in diesem Augenblick in Gespräch, zu welchem Weißfisch des Lärmens wegen, der in dem Lokal tobte, den Kopf tief zu dem Kleinen herabbog. Noch hatte er offenbar, den er suchte, nicht gesehen; denn daß er mich suchte, daß man die Spur des gehetzten Wildes, der Himmel mochte wissen wie, aufgefunden, und derselben bis hierher gefolgt war, – daran zweifelte ich nicht einen Moment.
Retten Sie mich! flüsterte ich der Wirtin ins Ohr.
Mein starrer Blick hatte der Klugen gesagt, wovor und vor wem: vor dem Fremden, der da eben mit dem Kleinen, den sie nur zu gut kannte, hereingekommen war.
Der verdammte Polizist! murmelte sie durch die weißen Zähne.
Sie hatte sich schnell erhoben und vor mich gestellt, derart, daß sie mich mit ihrer Gestalt, wenigstens gegen die in der Tiefe des Lokals, beinahe vollständig deckte. So schob sie mich vor sich her, nur zwei oder drei Schritte bis zu einer Thür unmittelbar neben dem »bar«, die ich vorher nicht bemerkt hatte, und durch diese Thür, welche sie sofort hinter uns schloß.
Wir befanden uns in einem kleinen Zimmer, das wohl ihr eigenes war, und in welchem eine auf dem Tisch vor dem Sofa stehende Lampe ein mäßiges Licht verbreitete.
Ist es schlimm? flüsterte die Frau.
Was?
Was Du gethan hast?
Nein. Aber, die mich verfolgen sind sehr mächtig. Ich will lieber sterben, als in ihre Hände fallen.
Es ist gut.
Sie hatte mich wieder bei der Hand gefaßt und leitete mich so aus dem Zimmer auf einen dunklen Korridor, dann ein Paar Stufen hinab, dann wieder durch dunkle Gänge, in welchen es feucht und kühl war, bis zu einer Thür, deren Riegel sie vorsichtig zurückschob.
Man kann nicht wissen; flüsterte sie.
Nun öffnete sie langsam die Thür und schaute hinaus.
Es ist alles sicher; flüsterte sie. Halt' Dich links den Hof hinauf! Du kommst direkt an den Hafen. Da nimm das erste beste Boot und laß Dich an das Schiff bringen! Hast Du Geld?
Ja.
Dann geleit Dich Gott! Und wenn Du wiederkommst – Sie hatte meinen Kopf in beide Hände genommen, mir einen heißen Kuß auf die Lippen gedrückt und die Thür hinter mir verschlossen.
Ich eilte mit so raschen Schritten, als die Dunkelheit erlaubte, durch die lange enge Passage in der von der Wirtin angewiesenen Richtung davon.