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Es mögen vierzehn Tage vergangen sein, seitdem ich die Gastfreundschaft des Hoppschen Hauses genieße – Tage, die ich in Stumpfheit und Dumpfheit der Seele und des Leibes hingebracht habe, unbekümmert um alles, was mit mir und um mich her geschieht. Der Vater ist tot – freilich: ich habe ihn ja im Sarge gesehen; – Herr Hopp hat mich neben dem Sarge liegend in tiefer Ohnmacht gefunden und mit Karl Brinkmann, den er herbeigerufen, hierher getragen – wie sollte er nicht? er konnte mich doch da nicht liegen lassen! – Wir sind im Kriege mit Frankreich; eine siegreiche Schlacht ist schon geschlagen – die große Neuigkeit für mich! Ich hatte es ja aus dem Munde des Majors von Vogtriz, der es doch wissen mußte, daß es zum Kampfe kommen werde! Aber wenn mir Frau Hopp die Suppe bringen möchte, von der sie vorhin gesprochen, dafür würde ich ihr sehr dankbar sein.
Die gute Frau eilt davon, daß die zerknitterten Bänder der ungewaschenen Haube hinter ihr herflattern, und kehrt mit dem überfüllten Teller zurück, dessen Rand sie mit der Schürze abwischt, bevor sie mir den Inhalt einlöffelt, trotzdem ich mir jetzt bereits ganz wohl selbst helfen könnte.
Dann kommt ein Morgen – oder ist es früher Vormittag?
Ich sitze in dem großen Lehnsessel, eine leichte Decke auf den Knieen. Die Sonne scheint hell in das Zimmer, und durch die offenen Fenster weht eine warme erquickliche Luft herein von der Gasse, in der es so still ist, daß das Summen der aus- und einschwirrenden Fliegen ordentlich ein Geräusch macht. Dazu tickt die Wanduhr. Was mag es an der Zeit sein?
Ich weiß nicht, warum ich es wissen will: von Frau Hopp, die ich sicher in der Küche finden werde.
Auf dem Flur habe ich bereits wieder vergessen, was mich aus dem Zimmer getrieben hat. Aber die Hinterthür nach dem Hofe steht weit auf. Die Sonne scheint hell herein, die Hühner glucksen, die Tauben girren – ich meine jetzt, ich habe dahin, ins Freie gewollt.
Da bin ich nun und gehe langsam in dem kühligen Schatten an den Ställen und Wagenremisen hin nach der Tiefe des Hofes, und beginne, dort angelangt, die Stiege durch den Wallgarten auf den steinernen, unregelmäßigen Stufen hinaufzuklimmen.
Da bin ich auf der obersten Treppenstufe. Jetzt durch das im Winde nickende Gras den Wall empor bis zu dem Bänkchen unter dem Haselbusch! Schon blitzt es über den Rand des Walles – ein blauer Streifen, breiter werdend mit jedem meiner Schritte. Nun liegt es ausgebreitet vor mir in seiner Pracht, mein geliebtes, angebetetes, heiliges Meer! Und plötzlich brechen aus meinen Augen die Thränen, nach denen ich mich alle diese Tage gesehnt, wie ein Verlechzender nach einem Labetrunk, und stürzen stromweis über die hageren Wangen und rieseln mir durch die Finger, wie ich jetzt auf dem Bänkchen zusammensinke und das Gesicht in die Hände drücke.
Der Vater ist tot! der gute, geliebte Vater, mein bester, mein einziger Freund, er, den ich zumeist vor allen Menschen liebte, und der niemand auf der weiten Welt zum Lieben hatte als mich! Kann ich das fassen? Bin ich wahnsinnig gewesen alle diese Tage, daß ich es denken, andere davon reden hören konnte, ohne in Thränen zu vergehen, ohne vor Jammer zu schreien wie ein Tier? Da blickt das Dach seiner Werkstatt über den Wall. Aber wenn ich nun die paar Schritte auf dem Wall weitergehe, die Treppe durch das Kärtchen hinab in unsern Hof und an seine Thür komme, – der Klang seines Hammers, das Rauschen seiner Säge werden mir nicht entgegenschallen! Wenn ich auf die Schwelle trete, wird mir sein liebes Lächeln nicht entgegenglänzen, die treue Stimme nicht entgegentönen: Kind, wo bleibst Du heute so lange? – O, Jammer, nicht zu tragen! O, arger Vater, der du deinem Kinde das thun konntest! mit einem Lächeln auf den Lippen Abschied von ihm nehmen konntest – auf immer!
Unsägliches Weh erfüllt mir die Brust, aber die Thränenflut hat sich erschöpft; mit brennenden Augen starre ich vor mich hin in die verödete Welt. Da knackt es neben mir in den Büschen; ich schaue auf: es ist der »malle Heinrich«, der dort die Nacht zugebracht haben mag: er sieht verkommener und verlumpter aus als sonst; die langen ergrauenden Haare hangen ihm in dünnen Strähnen unter der Mütze mit dem großen zerbrochenen Schirm über das erdfahle Gesicht, aus dem die wässrigen geröteten Augen zwinkern. Er stutzt nicht, wie er mich erblickt – ihm begegnet nichts Verwunderliches – aber über die verwelkten Züge zuckt eine Helligkeit, und er fängt, vor mir stehen bleibend, an zu plappern – von der Musik – natürlich! – er kennt ja nichts anderes – und was er vorbringt, ist so kraus und verwirrt! Endlich begreife ich, daß mir der alte Mensch ein Begräbnis schildern will, dem er kürzlich beigewohnt hat, wie er sich denn gern bei einer solchen Gelegenheit einfindet, die ihm früher wenigstens die Aussicht eröffnete auf eine besonders feierliche Musik des Abends vom Turm der Nicolaikirche. Aber nun ist die schöne Musik tot; heute vor vierzehn Tagen haben sie sie begraben; er selbst hat den Sarg bestellt bei Tischler Lorenz, und ein schöner gelber Sarg ist es gewesen mit einem großen Kranze darauf, in Herrn Hopps bestem Leichenwagen. Und Herr Hopp und seine Frau und Christine Hopp haben der schönen Musik in einer Kutsche das Geleit gegeben, sonst niemand – außer ihm. Er ist aber nicht gefahren, sondern hinterdrein gegangen, immer hinterdrein bis zu dem großen Kirchhof vor dem Schwedenthor, Da haben sie sie hinabgesenkt, die schöne Musik, in ein tiefes, tiefes Grab und schwarze Erde darauf geworfen, bis das Grab ganz voll gewesen ist. Er könne es mir zeigen: rechts neben dem breiten Wege, wo das große Kreuz steht, und dann noch dreißig Schritte, in einem stillen Winkel, ganz mit frischem Rasen zugedeckt, oben und unten ein Rosenstrauch, und in der Mitte ein weißer Stein mit gelber Schrift »Peter Lorenz«. Das sei aber nur der, der den Sarg gemacht habe, weil niemand wissen solle, daß da die schöne Musik begraben liege. Es wisse es auch niemand, außer ihm, nicht einmal die Hopps. Die glaubten alles Ernstes, und hätten es ihm selbst gesagt, daß da der alte Sargtischler begraben sei – die dummen Leute! Ja, wenn der da begraben wäre, weshalb brauchte er sich dann zu ängstigen, wie er es thue, und um das Haus von Herrn Lorenz herumzuschleichen mit seinem bösen Gewissen? Aber woher sollte er das Geld nehmen, das er nun Herrn Lorenz schuldig sei für den schönen Sarg? Er habe keinen Heller, keinen Pfennig. Das könne ich doch selbst sehen.
Und der alte Mensch fängt an, sich die Taschen umzukehren, aus denen nichts herausfällt, als eine verbogene Kindertrompete, ein paar Murmeln, eine Brotrinde und ein altes Messer, wie man es in der Groschenbude kauft: und während er seine Schätze wieder aufsammelt, fängt er jämmerlich an zu weinen, daß er auf seine alten Tage in den Schuldturm solle, weil er Tischler Lorenz nicht den Sarg bezahlen könne, den er bestellt habe für die schöne tote Musik.
Ich versuche, den Alten zu trösten, so gut ich kann; aber es ist vergeblich, denn, wenn nicht der Tischler Lorenz selbst, sondern Herr Hopp den Sarg bezahlt habe, so sei er ja das Geld Herrn Hopp schuldig; und wenn ich Herrn Hopp das Geld auch zurückerstatten wolle, sei er mein Schuldner; und er sei noch keinem Menschen etwas schuldig gewesen, und nun müsse er auf seine alten Tage in den Turm.
So weint und jammert er, und schleicht weinend und jammernd davon.
Die schlottrige Gestalt ist hinter den Haselbüschen verschwunden. Auch ich habe mich von der Bank erhoben und schleiche den Weg, den ich gekommen, zurück in einer Stimmung, die an Verzweiflung grenzt. Ich bin im Geist mit dem mallen Heinrich hinter dem Sarge hergeschritten, in welchem für ihn die tote Musik lag, für mich der tote Vater. Ihm ist die Welt öd und leer, wie mir, nachdem wir beide verloren, was uns nichts ersetzen kann. Und sind darüber zu Schuldnern geworden – er in der Einbildung, die für ihn Wirklichkeit ist; ich in der Wirklichkeit, deren Druck sich plötzlich mit atembeklemmender Schwere auf meine Brust gelegt hat. Ich habe dem »mallen Heinrich« versprochen, den Sarg zu bezahlen. Wovon? Als ich dem armen Menschen ein Almosen geben wollte, waren meine Taschen leer, wie die seinen.