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Als ich auf die Gasse trat, schlug es von dem Turm der Nikolaikirche, an der ich vorüber mußte, gerade neun. Ein heftiger Wind, der, vom Meere her, durch die Stadt brauste, zerriß die Töne, daß einzelne wie mit Gewalt zu mir herabfielen, andre fast klanglos nach oben flogen. Wirres Gewölk, dessen Ränder der unsichtbare Mond hier und da mit schmutzigem Rot färbte, jagte über den Turm, von dem jetzt, als ich dicht unter ihm hinschritt, das mißtönende Gekreisch eines Uhus erscholl, in das sich das Krächzen vom Sturm aus ihren Ruheplätzen aufgescheuchter Dohlen mischte.
Ich starrte und horchte hinauf und es durchschauerte mich bis ins Mark von der eisigen Luft, welche um den Turm pfiff, und von einer entsetzlichen Empfindung, die mich wie ein Schwindel jäh befiel. Es war mir aber, als stünde ich oben auf dem Turm, wie damals mit dem mallen Heinrich, aber allein in der wilden Sturmesnacht, und die Teufel rissen sich nicht um die Glockentöne, sondern um meine arme Seele und rissen ganze Stücke ab und flögen damit kreischend und krächzend hinaus in die wilde Nacht.
Und wie jemand, der vor einem Abgrund zurückprallt, in welchen ihn die nächste Sekunde stürzen würde, eilte ich weiter mit gesträubtem Haar und wildbewegtem Herzen, dessen Klopfen ich bis in die Kehle fühlte. Dann war es vorbei. Das Grausen wich von mir; ich knöpfte den dünnen Rock, den ich in meiner Angst aufgerissen hatte, wieder zu und drückte mir die Mütze fest in die Stirn.
Nein! es war nichts damit: ein Spuk nur für den, der sich fürchtet. Der arme malle Heinrich hatte da oben, wie sehnsüchtig er auch durch die Turmritze starrte, keine Engel gesehen, aus dem einfachen Grunde, weil es keine gab. Gab es aber keine Engel, so gab es auch keine Teufel, die sich um meine Seele stritten; und meine Seele flatterte nicht da oben in der Luft, sondern war hier in meinem Kopf und in meinem Herzen. Und wenn ich es nicht begreifen konnte, was ich begreifen sollte, so war es nicht meine Schuld – ich konnte doch mit keinem anderen Kopfe denken, als mit meinem eigenen. Und wenn mein Herz so unruhig hin und her zuckte, so war es, weil sie es nicht zur Ruhe kommen ließen, weil sie alle an ihm rissen: der Pastor mit seiner fanatischen Wut, der Professor mit seiner weltweisen Güte. Denn überzeugt hatte auch er mich nicht, das fühlte ich klar. Und wenn ich ihm folgte, so that ich es doch wieder nicht aus Ueberzeugung. Und eine Ueberzeugung, wie er sie meinte, von der man ein Stück preisgab und ein anderes zurückbehielt – das war ja eben so schlimm wie die arme Seele, von der die Teufel so viel abrissen, als sie ergattern konnten. Gab es denn keinen Menschen, dessen Kopf mit dem Herzen in Frieden war? in dessen Seele die Ruhe war, nach der mich doch so innig verlangte?
Auf einmal, als fiele es mir wie ein Schuppen von den Augen, stand das Bild des guten Vaters hell vor mir da. Wie hatte ich nur einen Augenblick schwanken können, an wen ich mich wenden sollte in meiner Not! Ihn hätte ich fragen sollen, ihn allein; ihn, aus dessen Munde keine Lüge ging und keine halbe Wahrheit; in dessen Seele immer stiller Friede war; und der so oft durch sein sanftes Wort, ja nur durch den Blick seiner treuen Augen die Unrast und Verstörtheit meines Herzens zur Ruhe gebracht hatte!
Und wie ein Kind, das zum Schoß der Mutter flüchtet, lief ich durch die menschenleeren Gassen zu ihm, der nicht mein Vater war, und der mir doch Vater und Mutter gewesen von meinen Kindesbeinen an.
Er wartete auf mich in der Werkstatt mit dem Abendbrot. Seitdem die Mutter nicht mehr mit uns speiste, nahmen wir unsre frugalen Mahlzeiten oft in der Werkstatt ein, zumal an Tagen, wo es dem Vater mit der Arbeit pressierte. Das war auch heute der Fall gewesen. Ein Sarg, der morgen in der Frühe abgeliefert werden mußte, hatte fertig werden sollen. Und da war er fertig und stand mitten in der Werkstatt auf der Drehscheibe, auf welcher der Vater immer die einzelnen Stücke zum Ganzen zusammenfügte: groß und gelb mit kräftigen gedrechselten Knäufen und feiner kunstvoller Täfelung, besonders sorgfältig ausgeführt, wie ich auf den ersten meiner durch lange Uebung geschärften Blicke sah.
Für die Mutter Möllern, sagte der Vater als Erläuterung, sein Werk mit zufriedenen Blicken betrachtend. Die alte Seele hat nicht Kind, nicht Kegel und keinen Menschen, der sich um sie gekümmert hat, die dreißig Jahre, die sie im Spittel war. Sie wird natürlich auf Spittelkosten begraben; wir werden unsern kleinsten Satz nehmen müssen.
Er hatte sich die blaugrüne Schürze abgebunden, in der Kammer die Hände gewaschen und kam nun wieder in die Werkstatt mit einem noch besonders freundlichen Lächeln auf dem lieben sanften Gesicht.
Nun, sagte er, da stehst Du noch gerade wie vorhin? bist Du nicht hungrig, Kind?
Ich raffte mich aus meiner Verstörung auf. Der Vater hatte vom frühesten Morgen bis jetzt ununterbrochen sich abgemüht, durfte ich ihm nun, wo er der Ruhe, der Erholung so bedürftig war, sich nach einem stillen friedlichen Beisammensein mit mir sehnte, mein bittres Leid, meine bange Not klagen? ihm, dem Mitleidigen? ihm, der anderer Not stets tiefer empfand, als seine eigene? Was mir noch vor einem Augenblick als selbstverständlich und als einziger Ausweg erschienen war, deuchte mir nun eine egoistische Grausamkeit. Nein, lieber mochte es kommen, wie es wollte.
Ich hatte eben Zeit zu dieser Ueberlegung gehabt. Der Vater hatte sich geschäftig nach dem Tischchen in der Ecke der Werkstatt gewandt, auf welchem unsre Mahlzeit hergerichtet war, über die er sorgsam die Zipfel eines reinen Tellertuches nach allen Seiten in die Höhe geschlagen hatte. Jetzt nahm er dieselben vorsichtig auseinander: zwischen Brot, Butter und kaltem Ausschnitt stand statt des üblichen kleinen irdenen Kruges mit Bier eine Flasche Wein und zwei Gläser.
Er blickte mich lächelnd an.
Was sagst Du, Kind, zu dieser Verschwendung? Ich fand sie heute, als ich da – er deutete nach der Kammer – in der großen Kiste eine Zeichnung suchte. Weiß nicht, wie sie da hinein gekommen ist; aber es muß lange her sein; ich erinnere mich nicht, seitdem wir hier sind, Wein gekauft zu haben, oder daß mir wer welchen geschenkt hätte. Gleichviel! Und da dachte ich, die willst du mit dem Kinde ausstechen, wenn es nach Haus kommt. Weißt Du, auf wessen Wohl?
Ich schüttelte den Kopf.
Deines, Kind, Deines! rief er triumphierend; es ist ja heute Dein Geburtstag.
Er hatte die Arme ausgebreitet; ich warf mich an seine Brust. Die gewaltsame Spannung, in welcher meine Nerven diese letzten Stunden hindurch gewesen waren, löste sich in einer Thränenflut.
Er war erschrocken über meine stürmische Heftigkeit, die er sich in seiner Weise auslegte.
Laß gut sein, Kind, laß gut sein! bat er, indem er mir wie einem wirklichen Kinde die nassen Wangen streichelte und mir die wirren Locken aus der heißen Stirn strich. Sie ist eben krank, sonst hätte sie es sicher nicht vergessen. Und ich schlechter Kerl, hätte es auch beinahe vergessen über all der Arbeit. Laß gut sein, Kind! laß gut sein!
Ich fühlte, wie ich ihn quälte, und richtete mich entschlossen aus seinen Armen auf.
Ja, Vater, sagte ich, es ist gut. Du und ich! Wenn ich Dich nur habe, das ist mir genug. Das ist besser als alles andere. Laß uns essen; ich bin schrecklich hungrig.
Ich war es gar nicht; ich mußte mir die Bissen hinunterwürgen. Er bemerkte es glücklicherweise nicht, um so weniger, als ich mich zu einer Gesprächigkeit zwang, welche mir der Wein erleichterte. Ich hatte drüben bei Hopps oft Wein zu trinken bekommen, so trefflichen nie. Er glänzte in den Gläsern wie flüssiges Gold, und ein herrlicher Duft stieg aus ihm empor. Auch der Vater erlabte sich sichtlich daran. Eine leichte Röte, die ihm schon nach dem zweiten Glase in die sonst so bleichen Wangen stieg, und das sanfte Licht, das sich in den guten blauen Augen entzündete, ließen ihn um viele Jahre jünger erscheinen. Zum erstenmal in meinem Leben fiel mir ein, daß auch er einmal jung gewesen sein müsse. Und weiter: daß ich doch so gar nichts von seinem Leben wisse. Und weiter, daß, wenn ich den Mut fände, ihn zu bitten, mir von sich und was er erlebt zu erzählen, und er, woran ich nicht zweifelte, es thäte, dabei doch irgend einmal eine Gelegenheit sich ergeben werde, wo ich die Rede auf meine Angelegenheit bringen könne.
Ich hatte den Gedanken, wie er in meinem von dem Feuerwein erregten Gehirn aufgestiegen war, kaum erfaßt, als ich nur noch auf eine Wendung in dem Gespräch wartete, die es mir möglich machte, meine Bitte vorzubringen, ohne mich zu verraten. Und der Augenblick sollte bald kommen. Der Vater hatte wieder von der Zeichnung angefangen, die er suchte, als er den Wein fand. Das Blatt lag mir zur Hand auf dem Werkzeugtisch. Ich langte danach und sah zu meinem Erstaunen, daß es nicht nur mit zierlichen Ornamenten bedeckt war, wie sie die Kunsttischler brauchen, sondern auch mit schönen Figuren, männlichen und weiblichen, teils nackt, teils in prächtigen faltenreichen Gewandungen. Ich hatte mich selbst hin und wieder im Zeichnen versucht und wußte wenigstens, wie schwer so etwas zu machen sei.
Ist das auch von Dir, Vater? fragte ich.
Er nickte mit bescheiden vergnüglichem Lächeln.
Ich starrte wieder auf das Blatt, als ich plötzlich nicht mehr die Figuren vor mir auf dem Blatte sah, sondern die geheimnisvollen Gestalten und Gesichter, die hoch auf mich herabgeblickt aus dem golddurchblitzten Halbdunkel jenes großen schönen Gemaches, in welches mich der seltsame Traum geführt, der mir meine Mutter und mich gezeigt hatte, wie wir vor dem Manne mit den blitzenden Augen auf den Knieen lagen.
Dieselbe abergläubische Furcht, die mich schon einmal befallen hatte, als ich Emil Israel den Traum erzählen wollte, – ich hatte es sonst gegen niemand gethan – befiel mich wieder. Aber jetzt war ich kein Kind mehr, und die letzten Stunden hatten zu hart in meine Seele gegriffen. Der Augenblick war gekommen, wo ich mit den Zweifeln, die mich so lange gemartert, eine Ende machen mußte, mich nicht mehr schrecken lassen durfte von heiligen oder unheiligen Geheimnissen. Und gesetzt auch, der gute Vater konnte mir das Geheimnis des Glaubens nicht lösen, so doch vielleicht das jenes Traumes.
Dies alles muß binnen wenigen Sekunden durch mein Gehirn gezuckt sein, denn, als ich jetzt aufblickte, hatte des Vaters Gesicht noch genau denselben lächelnden Ausdruck, mit dem er vorhin meine Frage bejaht, die mir nun erst wieder einfiel.
Aber, wenn Du so Schönes machen kannst, sagte ich, das viel, viel schöner ist als unsre schönsten Vorlegeblätter in der Schule, wie kommt es –
Daß ich Sargtischler geworden bin? vervollständigte er, mich unterbrechend, meinen Satz. Das möchtest Du wissen?
Ja, sagte ich, das möchte ich wissen.
Das ist zwar eine lange Geschichte, sagte er, und ich fürchte, Du würdest nicht so viel Freude daran haben, als an den Märchen, die ich Dir sonst zu erzählen pflegte. Es war einmal ein König – weißt Du?
Gleichviel, sagte ich eifrig. Ich bin heute siebzehn Jahre alt, und – thu's mir zuliebe! Das wäre mir das rechte Geburtstagsgeschenk.
Er blickte nachdenklich vor sich nieder.
Ein wunderliches Geschenk; murmelte er.
Und dann, das Gesicht wieder hebend und mich mit den treuen Augen liebevoll anlächelnd, sagte er:
Du hast recht, Kind. Ich hätte es schon früher thun sollen: Du und ich, wir sind ja wie zwei gute Kameraden. Aber Du weißt, welch ein scheuer Kauz ich bin. Und wenn Du es noch nicht wüßtest, würdest Du es erfahren, wenn ich Dir erzählen soll, wie ich Sargtischler ward. Will Dir's erzählen, als wär's just nicht ich, dem's passierte, sondern irgend ein armer Junge von den vielen Tausenden; da wird es, glaube ich, besser gehen.
Er nippte an dem herrlichen Wein, strich mit der Linken durch den grauen Bart und begann.