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Auf Schloß Warnow hatte niemand geschlafen, außer Frau von Wallbach. Und auch sie war wiederholt durch seltsame Geräusche geweckt oder doch beinahe geweckt worden, – ein Rollen und Rasseln, gerade als ob sie zu Hause in der Behrenstraße und heute nacht ein Dutzend großer Gesellschaften auf einmal ausgewesen und die Feuerwehr zwischendurch gerasselt wäre. Was das wohl gewesen sein möge? – Die Kammerjungfer, die ihr die Schokolade vor das Bett brachte, sagte, das sei der Sturm, der seit gestern abend, nachdem die gnädige Frau sich zur Ruhe begeben, ganz erschrecklich tobe. – Wie sonderbar! sagte Frau von Wallbach. Warum bist du aber so früh gekommen? ich wollte ja erst um elf Uhr fahren.
Es ist bereits zehn, gnädige Frau; es wird heute nicht Tag.
Natürlich, sagte Frau von Wallbach, wenn du die Jalousien nicht öffnest.
Sie sind gar nicht geschlossen, gnädige Frau; wir wagten es gestern abend nicht mehr, gnädige Frau; den einen Flügel hat auch schon der Wind heruntergerissen, wie ich vom Flurfenster aus gesehen habe.
Wie sonderbar! sagte Frau von Wallbach; – du hast doch gepackt?
Gewiß, gnädige Frau; aber aus unserer Reise wird wohl nichts werden; Herr Damberg hat herüber sagen lassen, es täte ihm sehr leid, aber es ginge nicht; man könne nicht wissen, was passierte, und er müsse alle seine Pferde auf dem Hofe behalten.
Ja, was soll denn passieren?
Ich weiß es nicht, gnädige Frau; sie sagen ja, das könne sehr schlimm werden. Ach, gnädige Frau, wenn Sie doch nur aufstehen und selber sehen wollten! Es ist, als ob die Welt unterginge; sie laufen alle mit bleichen Gesichtern herum, und ich ängstige mich zu sehr, gnädige Frau!
Du bist nicht gescheit. Ist Fräulein von Wallbach schon auf?
Gewiß, gnädige Frau; und sie hat schon zweimal nach der gnädigen Frau gefragt.
Sag' ihr hernach, daß ich sie jetzt sehen könne. Und dann richtest du der Frau Baronin eine Empfehlung aus, und ob sie die Güte haben wolle, mich nach Prora fahren zu lassen; ich würde ihr, sobald ich angezogen, meine Aufwartung machen.
Carla kam, als Luise eben in ihren Schlafrock geschlüpft war. Sie war bereits in Toilette und sehr blaß, mit tiefen Rändern unter den Augen, meinte Frau von Wallbach. Carla versicherte, das sei die abscheuliche Beleuchtung; sie habe allerdings auch nicht so gut geschlafen, wie sonst wohl; aber gewiß weniger infolge des Sturmes, als der Mitteilung, die ihr gestern abend noch der Graf im Vorüberreiten gemacht – er sei nur fünf Minuten geblieben, nur so lange, daß er die reizende Geschichte mit fliegenden Worten habe erzählen können.
Was ist das nun wieder für eine Geschichte? fragte Luise, ihre Schokolade schlürfend.
Dieselbe, erwiderte Carla, an die meine liebe Seele gestern nicht glauben wollte, aber an die sie jetzt wohl wird glauben müssen, da das letzte interessante Kapitel sich zum Teil in der Gegenwart Golms abgespielt hat.
Und Carla gab mit den Auslassungen und Zusätzen, die ihr für den Zweck nötig schienen, eine Darstellung der Ereignisse von gestern abend auf dem Wissower Haken.
Frau von Wallbach hatte unterdessen ihre zweite Tasse, die sie auf dem Sofa einzunehmen pflegte, beendet und lehnte sich zurück.
Nun, was sagst du? fragte Carla.
Was soll ich sagen? erwiderte Frau von Wallbach, nachdem du mich gestern erst darauf vorbereitet hast. Und ich begreife deshalb auch gar nicht, weshalb du nun heute tust, als ob der Himmel eingefallen wäre. Was geht es denn schließlich dich oder Golm an? ich dächte, ihr hättet beide alle Ursache, sehr zufrieden zu sein, daß es so gekommen ist. Er konnte doch schließlich nur eine heiraten. Es scheint ja, daß du jetzt die eine sein wirst.
Aber wie wird Eduard es nehmen? rief Carla.
Ich weiß nicht, was mein Mann dagegen haben sollte. Es scheint mir vielmehr, je länger ich darüber nachdenke, daß er uns nur hierher geschickt hat, damit das zwischen euch richtig wurde. Ich meine nur, es wäre anständiger von ihm – und nebenbei auch von dir – gewesen, wenn ihr mir es vorher gesagt hättet, anstatt mich hier im Dunkeln tappen zu lassen; werde das übrigens auch Eduard sagen, wenn wir heute nach Hause kommen.
Carla hatte sich zu ihrer Schwägerin auf das Sofa gesetzt und spielte mit einer der langen seidenen Schleifen an dem Schlafrock.
Wir, liebe Seele? sagte sie; ich denke, meine liebe Seele wollte allein reisen?
Und ich denke, du bist nicht recht gescheit, erwiderte Frau von Wallbach, und ich würde mich in deine Seele hinein schämen, wenn ich nicht bedächte, daß du zu verliebt bist, um zu wissen, was du sprichst. Wie kannst du jetzt, nachdem du mit Golm einig bist, wie es scheint –
Aber es ist zwischen uns noch gar nichts entschieden! rief Carla.
Das ist ganz dasselbe – übrigens glaube ich es, mit deiner Erlaubnis, nicht; aber gleichviel: du darfst keinen Tag länger in dem Hause von Ottomars Tante zu Gast sein; es ist ein Skandal, und ich will keinen Teil daran haben, und wenn du nicht mitkommst, – nun aber!
Der zweite Flügel der Jalousie schlug rasselnd zu, eine Scheibe klirrte ins Zimmer.
Carla war mit einem Schreckensschrei aufgefahren: Und in dem Wetter soll ich reisen?
Wenn ich reisen kann, kannst du es auch, sagte Frau von Wallbach; und nun habe die Freundlichkeit, dich zurecht zu machen; wir fahren in spätestens einer Stunde.
Zum Glück für Carla, die nicht mehr wußte, wie sie dem drohenden Schlage ausweichen sollte, kam in diesem Augenblicke die Jungfer zurück, um zu melden, daß die gnädige Frau Baronin sehr bedaure, der gnädigen Frau nicht gefällig sein zu können; sie habe selber eine Fahrt vor – mit dem gnädigen Fräulein von Werben – indessen habe sie in das Dorf geschickt; vielleicht daß einer von den Bauern fahren würde; es sei freilich unwahrscheinlich.
Das ist ja allerliebst, sagte Frau von Wallbach, ich kann doch nicht zu Fuß gehen! Wo wollen denn übrigens die Damen hin?
Die Jungfer lächelte: sie könne es nicht für gewiß sagen, aber die Jungfer, die das gnädige Fräulein von Werben bediene, meine ja, es werde wohl nach Wissow sein.
Es ist gut, sagte Frau von Wallbach, und nun sieh', wie du da mit dem Fenster zurecht kommst; ich werde unterdessen selbst zur Frau Baronin gehen; sie wird mein Negligé entschuldigen; du kommst mit, Carla!
Carla wäre sehr viel lieber nicht mitgegangen, aber Luise war heute so unausstehlich entschieden, und sie mußte ihr Möglichstes tun, um sich wieder in ihre Gunst zu schmeicheln. Überdies, wenn Luise, wie es ja nun schien, nicht wegkommen würde, so hatte sie wenigstens die angenehme Aussicht, die beiden anderen Damen, vielleicht für den ganzen Tag, vom Hause entfernt zu sehen. Luise würde schon mit sich reden lassen, kein unüberwindliches Hindernis sein bei der Ausführung des kühnen, entzückenden Planes, den sie gestern mit dem Grafen in aller Eile verabredet. Und an der Hauptsache, daß sie selber bleiben konnte, war jetzt kaum noch zu zweifeln.
Aber nicht wahr? sagte sie zu ihrer Schwägerin, während sie über die Korridore zu den Zimmern der Baronin gingen; das wird mir meine liebe Seele nicht antun und in meiner Gegenwart irgend eine Anspielung auf Golm machen? Solange sie sich in Geheimnis uns gegenüber hüllen, brauchen wir wahrhaftig nicht mit der Sprache herauszugehen.
Ich denke, es ist zwischen euch noch gar nichts entschieden? sagte Frau von Wallbach.
Um so mehr, sagte Carla.
Valerie war allein, als die Damen bei ihr eintraten, und bereits zu der Fahrt angezogen. Auch sie sah blaß und angegriffen aus, so sehr, daß die gutmütige Luise sofort rief: Sie sollten sich wieder zu Bett legen, liebe Baronin, anstatt sich diesem Wetter auszusetzen, das ja wirklich greulich zu sein scheint. Ich will mit Elsen fahren – mir schadet so was nicht; oder, was das Gescheiteste wäre: wir bleiben alle hier und leisten Ihnen Gesellschaft, wenn meine Gesellschaft auch nicht übermäßig interessant ist.
Gewiß, wir bleiben gern bei Ihnen, fiel Carla ein, wir wollen den trüben Tag recht gemütlich verplaudern.
Valerie hatte, während sie Carla nicht zu sehen schien, Luisens Hand genommen:
Ich danke Ihnen für Ihre Güte, liebe Frau von Wallbach, und bitte um Entschuldigung, wenn ich trotzdem die Pflichten der Gastfreundschaft verletze. Es soll und kann nur für einige Stunden sein, da ich heute noch einen anderen Besuch erwarte – Herrn Giraldi, mit dem ich dringendste Geschäfte zu besprechen habe. Er wird erstaunt und unzufrieden sein, mich nicht zu finden. Ich wollte Sie deshalb bitten, ihm zu sagen, daß ich meine Nichte nach Wissow begleitet habe, deren Verlobter – Sie haben ohne Zweifel von Fräulein von Wallbach bereits das Nähere erfahren – in diesem furchtbaren Sturm jeder Gefahr ausgesetzt ist. Wir haben bis jetzt vergebens auf Nachricht, wie sie unter diesen Umständen selbstverständlich war, geharrt; haben jetzt auch keine Hoffnung mehr, welche zu erhalten, und fürchten Schlimmes, vielleicht das Schlimmste – ich wenigstens, während das liebe Mädchen mir noch immer Mut einzusprechen sucht, an dem es ihr innerlich wohl selbst gebricht. Sie, mit Ihrem freundlichen Herzen, können sich gewiß in meine – in unsere Lage versetzen.
Gewiß, gewiß! sagte Frau von Wallbach, der die Tränen in den gutmütigen Augen standen; fahren Sie denn in Gottes Namen, liebe Baronin; und was die Bestellung angeht – wann erwarten Sie Herrn Giraldi?
Er hätte bereits heute morgen mit dem Frühesten hier sein müssen; ohne Zweifel hat das Unwetter ihn aufgehalten, er kann jeden Augenblick eintreffen.
Na, das ist ja nun auch ganz gleich, sagte Frau von Wallbach, ich will schon die Honneurs machen. Die Hauptsache ist, daß Sie fortkommen, und da ist ja auch unsere liebe Else.
Sie begrüßte Else, die jetzt, zur Ausfahrt fertig angezogen, hereintrat, mit einer Herzlichkeit, die von Elsen dankbar erwidert wurde. Es war ihr ein tröstliches Gefühl, daß in dem Konflikt, der von allen Seiten hereindrohte und in dem so viele schlimmste Leidenschaften entfesselt waren, so viele unlauterste Motive durcheinanderwirrten, doch alle guten Herzen zusammenhalten würden. Ja, sie mußte die Bravheit bewundern, mit der diese Frau, deren Unbedeutenheit sprichwörtlich war, in dem Augenblicke der Entscheidung und in Carlas Gegenwart, um alles sonst unbekümmert, nur dem Zuge ihres Herzens folgend, sich zu dem bekannte, was sie für das Rechte hielt. Was Carla dabei empfand, die, ihr gewöhnliches gesellschaftlich-höfliches Lächeln versuchend, aus einiger Entfernung zuhörte, aber trotz aller ihrer vielgerühmten Sicherstelligkeit und Geistesgegenwart nicht wagte, sich auch nur mit einem Worte an dieser peinlichen Szene zu beteiligen – Else wünschte nicht, es zu wissen; sie war froh, als sie jetzt mit der Tante in dem Wagen saß und die Pferde anzogen.
Man hatte heute leider nicht den kürzeren Weg nach Wissow wählen dürfen. Durch den unendlichen Regen, der seit gestern abend herabgoß, waren, nach Aussage des Kutschers, die Strandfelder und Wiesen, durch die Else gestern abend gewandert war, bereits zu sehr aufgeweicht. Man spürte das, sobald man den etwas höher gelegenen Platz, den das Schloß mit dem Parke und der Gutshof einnahmen, verlassen hatte und in die Senkung gelangte, die sich in der Längenrichtung der Hügelkette hinzog, auf der das Dorf lag, und an beiden Ausgängen wieder mit der eigentlichen Ebene in Verbindung stand. Sofort drückten sich die Räder, trotzdem der Weg dick mit Kies bestreut und sonst stets trocken war, bis fast zu den Achsen ein, man hatte Mühe, die kaum zweihundert Schritt breite Stelle zu passieren.
Es sei heillos, sagte Herr Damberg, der Pächter, der zu Pferde vom Dorfe her ihnen entgegenkam und wieder eine Strecke neben dem Wagen zurückritt; ja, man könne gar nicht wissen, ob die Sache nicht noch schlimmer werde und ob man nicht doch besser tue, dem Rate des Herrn Lotsenkommandeurs zu folgen, der bereits gestern überall an der Küste Botschaft habe herumsagen lassen, es werde eine Sturmflut geben, wenn der Sturm von Osten komme, die sehr weit reichen könne, und man solle sich darauf vorbereiten. Nun lägen ja das Schloß und der Gutshof hoch genug – es müßte denn ärger als arg kommen; aber die Senkung hier, deren Sohle mit der Feldmark und den Strandmarschen gleiches und vielleicht noch etwas tieferes Niveau habe, werde jedenfalls auch überflutet werden, und sie säßen dann in Warnow richtig auf einer Insel. Das sei eine verteufelte Situation, besonders da sie hier, mitten auf dem Lande, keine Boote hätten, und die Geschichte könne wer weiß wie lange dauern. Er sei nur froh, daß er den neuen Kontrakt mit dem Herrn Grafen noch nicht unterschrieben habe. Die Weizenbreiten und die Wiesen unten – das sei alles ja ganz schön und gut, aber so viel werfe es denn doch nicht ab, daß man eine Kalamität, wie sie jetzt hereindrohe und deren Folgen ganz unabsehbar, überstehen könne, zumal bei Pachtbedingungen, die doppelt so hoch wären, wie die alten.
Ja, ja, gnädige Frau, sagte Herr Damberg, Ihr seliger Herr Gemahl, das war ein rechtschaffener Herr; der dachte auch an andere und nicht bloß an sich selbst, wie gewisse andere Herren. Na, gnädige Frau, ich muß nun zurück und bei uns da unten nach dem rechten sehen, ehe sie noch alle den Kopf verlieren. Kommen gnädige Frau und gnädiges Fräulein gut über und gut wieder zurück, und sagen Sie dem Herrn Lotsenkommandeur, er solle nur ein paar Boote auch für uns bereit halten; wir würden vielleicht noch vor Abend zu seinem Revier gehören.
Der alte Mann, der das ganz ernsthaft gesagt, drückte die Mütze, die er abgenommen, wieder möglichst tief in die Stirn, gab seinem Gaule die Sporen und sprengte abwärts nach dem Hofe, während der Wagen eben die ersten Häuschen des Dorfes erreichte.
Auch hier hatte sich die Aufregung, die heute selbst das trägste Gemüt ergriff, der Leute bemächtigt. Wenn sie gleich vor der Flut, falls sie kommen sollte – mit Ausnahme etwa von ein paar Büdnerstellen am Fuße der Hügel – gesichert waren, so hatte der Sturm auf der verhältnismäßigen Höhe bereits desto größeres Unheil angerichtet: Stroh- und Ziegeldächer zum Teil oder ganz abgedeckt, Fensterscheiben eingedrückt, Schornsteine heruntergeworfen, Zäune umgelegt, Baumzweige massenhaft herabgeschlagen, ja die Bäume selbst umgebrochen. Auf dem kleinen freien Platze vor dem Wirtshause, so ziemlich auf der höchsten Stelle, lag die mächtige Linde, der Stolz des Dorfes, mit den Wurzeln herausgerissen. Es war erst vor einer halben Stunde geschehen; ein Glück, daß die drei Fuhrmannswagen, die von Jasmund herunterkamen und weiter nach Prora wollten, nicht schon da gehalten, wo sie jetzt – vor der Tür des Wirtshauses – hielten; Pferde und Leute – es wäre alles totgeschlagen worden. Die Leute wollten auch nicht weiter, sagte der Wirt, der an die Kutsche der Herrschaften getreten; sie müßten fürchten, daß ihnen der Sturm die Wagen von der Straße fegte; die gnädigen Herrschaften sollten doch auch lieber wieder umkehren; wenn der Weg nach Wissow ja auch zum Teil hinter den Hügeln weglaufe und so einigermaßen geschützt sei, so könne es doch hernach hinter dem Haken nach Wissow herab, wo der Sturm wieder frei zufassen würde, sehr schlimm werden.
Weiter, weiter! rief Else.
Sie hatte wahrlich ihre Kraft zusammengehalten, und niemand, der nicht, wie Valerie, so innigen Anteil an ihr nahm, hätte auch nur ahnen mögen, was in ihrer Seele vorging; aber jetzt, wo die Wut der Elemente, vor der sie in dem festen Schlosse doch gesichert gewesen waren, von allen Seiten auf sie eindrang, von allen Seiten sich in tausend und abertausend schrecklichen Zeichen offenbarte; wo sie auf so vielen Gesichtern die Angst ausgesprochen sah, die sie, um der Tante willen, in dem zuckenden Herzen verborgen – jetzt wollte doch der feste Mut wanken, und sie lehnte weinend ihr Haupt auf der treuen Freundin Schulter.
Weine dich aus, liebes Kind! sagte Valerie gütig; erleichtere dein armes, gequältes Herz! es sind reine und milde Tränen, trotz alledem; und du brauchst dich ihrer wahrlich nicht zu schämen. Du hast gekämpft, wie nicht viele es vermöchten.
Und ich hatte doch mir und ihm gelobt, stark zu sein, rief Else schluchzend, und ich denke immer, er spürt es, wenn ich es nicht bin, und kann dann selbst nicht sein, wie es ihm die Pflicht und das treue mutige Herz gebieten.
Um Valeriens blasse Lippen zuckte ein schmerzliches Lächeln: Wer in seiner Liebe, in dem Glauben an den Geliebten so sicher ruhen kann, wie du! Ach, Else, Else! wie namenlos glücklich bist du in deinem Unglück!
Ich weiß es ja, sagte Else, und schäme mich deshalb doppelt, dein armes Herz noch mit der Sorge um mich zu belasten.
Und für wen hätte ich sonst zu sorgen? entgegnete Valerie; wahrlich nicht für mich. Ich habe dir alles gesagt, ohne deine Liebe zu verlieren; ich würde deine Liebe mit ins Grab nehmen – damit ist mein Leben abgeschlossen – köstlich, wie eine in wilden Fieberphantasien durchraste Nacht mit einem holden Morgentraum. So möchte es denn zu Ende sein; der Tag, den ich die langen fürchterlichen Jahre so heiß herbeigesehnt, der Tag, an dem dein Vater zu mir sprechen würde: ich habe dir verziehen, Valerie; er wird ja doch niemals kommen.
Und wenn heute der Tag wäre? sagte Else, der Tante Hände in die ihren nehmend. Verzeihe mir, was ich, ohne dich zu fragen, getan! Als ich heute nacht bei dir wachte und der Sturm immer fürchterlicher tobte, da fühlte ich, daß ich meine Kräfte doch wohl überschätzt, daß ich dich heute doch wohl verlassen müßte, um zu Reinhold zu eilen, und daß ich dich nicht verlassen dürfte, ohne den Vater herbeigerufen zu haben. Ich habe ihm in aller Frühe eine Depesche geschickt; er wird kommen – ich weiß es. Aber er kann vor Abend nicht hier sein; und das ist der Grund, weshalb ich dir erlaubt habe, meine gute Tante, mich zu begleiten. Es fügt sich ja nach dieser Seite alles so gut: der Schreckliche ist wider Erwarten nicht gekommen; wenn wir gegen Abend zurückkehren – selbst, wenn du allein zurückkehren müßtest – du würdest ihm nicht allein gegenüberstehen: er wird bei dir sein, der dich besser schützen kann und wird, als ich es vermöchte. – Du zürnst mir, Tante?
Valerie lächelte durch die Tränen, die ihr über die bleichen Wangen rollten: Seinem guten Engel zürnt man nicht. Möchtest du auch hierin mein guter Engel gewesen sein; – ich wage es nicht zu hoffen. Dein Vater kennt nur, verehrt nur die Gerechtigkeit; die holde, erlösende Macht der Gnade – er kennt sie nicht; ja, ich muß annehmen: er verachtet sie, und er verachtet die, die um Gnade flehen. Meine flehenden Briefe, die ich unter tausend Ängsten den Späheraugen verbergen mußte, wie ich die Antworten unter tausend Ängsten empfing – sie haben ihn nicht gerührt. Kalt und fremd der Blick, mit dem er mir dann nach so langer Zeit, die auch den Härtesten milder zu stimmen pflegt, entgegentrat; kalt und fremd die wenigen Worte, deren er mich würdigte, nur, um mir zu sagen, welches der erste Schritt sei, den ich tun müßte, sollte zwischen ihm und mir Friede werden. Er sah es nicht, was du Gute mit dem ersten Blick durchschautest, daß ich diesen Schritt, wie die Dinge lagen, jetzt noch nicht tun konnte, ihn ohne die Hilfe eines erbarmungsvollen Herzens nie würde tun können. Ach, Else, Else! ich will ja deinen Vater nicht anklagen, und noch dazu vor dir; aber, Else: es wäre vieles anders und besser gekommen für mich, für uns alle – für deinen Vater selbst, hätte er jemals wahrhaft das tiefe Wort verstanden, daß der Himmel sich dem Stolzen verschließt.
Aber der Vater ist doch gegen mich so gut gewesen, sagte Else, trotzdem meine Liebe die Hoffnungen, die er für meine Zukunft sicher gehegt hat, so gänzlich zerstörte. Und er ist es doch auch wieder gewesen, der gegen Reinholds stolzen Onkel den ersten Schritt getan, und also gewiß nicht schuld, wenn Ottomars Angelegenheit eine so traurige Wendung genommen.
Valerie antwortete nicht; sie wollte dem lieben Mädchen nicht sagen, wie ganz anders in ihren Augen die Dinge lagen; wie sie dafür hielt, daß gerade die Einmischung des Vaters Ottomars und Ferdinandes Vereinigung unmöglich gemacht; daß selbst seine Zustimmung in Elses Fall nicht die herzliche eines liebevollen Vaters sei, sondern eines Mannes, der widerwillig geschehen lassen muß, was er nicht hindern kann, ohne sein höchstes Prinzip der Gerechtigkeit zu verletzen. Auch Else schwieg; ihre Gedanken flogen dem Wagen voraus, der ihr, trotzdem der brave Kutscher und die kräftigen Pferde das Mögliche taten, nicht aus der Stelle zu kommen schien. Es wäre auf dem schlecht gehaltenen und durch die Regengüsse hier und da fast zerstörten Wege noch langsamer gegangen, wenn die Hügel, in deren mittlerer Höhe man fuhr, die Wut des Sturmes nicht gebrochen hätten. Nur ein paarmal, wo man auf die Höhen gelangte, traf sie seine volle Gewalt; es schien ein Wunder fast, daß das Gefährt nicht heruntergewirbelt wurde. Doch hielt es sich, und so hielten sich die Pferde, die wiederholt von selbst stehen blieben, sich mit der ganzen Schwere ihrer Körper gegen den Anprall zu stemmen. In solchen Augenblicken, wo der Blick über die Ebene nach links hin bis zu dem Meere schweifte, sahen die Damen mit Grausen, wie über der langen wellenförmigen Linie der grauen Dünen von dem Golmberge bis zum Haken eine andere weiße Linie auf und nieder schwankte, um hier und da in haushohen Strahlen emporzuschießen oder in dichten Wolken landeinwärts zu zerstieben. Sie wußten, daß dies die Brandung war, die Brandung desselben Meeres, dessen Wellen sonst, fünfzig, hundert Schritte von dem Fuße der Dünen entfernt, auf dem glatten Sande sich überschlugen und verrannen, wie an jenem stürmischen Abend, als Else dort, in ihren Regenmantel gehüllt, stand und die nickenden Gräser hinter ihr auf dem Rande der Dünen sie weiter in das prächtige Abenteuer zu locken schienen. Ach! ihr Sinn war jetzt nicht mehr auf Abenteuer gerichtet! Wohin, wohin der kecke Wagemut, der das Schicksal selbst herausfordern zu können glaubte! wohin die sonnige Heiterkeit, die ihre Seele damals so ganz erfüllt hatte, daß der dunkelregnerische Abend ihr heller schien, als der hellste Tag? wohin, ach, wohin das frohe Glück des Herzens, das von der Liebe nichts wußte, nichts wissen wollte, wenn es nicht das holde, rosenduftdurchhauchte, nachtigallengesangerfüllte Märchen aus dem Zauberspiegel der träumenden Phantasie war? Und jetzt! dies war die Wirklichkeit – ein grimmer Hohn auf den frommen Märchenglauben! und doch! und doch! Du würdest sie nicht hingeben, armes gequältes Herz, für ein Paradies, in dem du ihn nicht fändest!
Und wenn ich ihn nicht mehr fände?
Sie hatte es laut geschrien, entsetzt von dem Anblick, der sich ihr darbot, als jetzt, nachdem man die Hügelkette passiert, die dann in den Wissower Haken nach dem Meere aufstieg, Wissow selbst unter ihnen lag. Die kleine Halbinsel, die höchstens eine viertel Meile lang und an dem Fuße des Vorgebirges halb so breit sein mochte, erschien mit ihren winzigen Häusern, von der keineswegs bedeutenden Höhe gesehen, wie ein schmales Brett, auf das Kinder ihr Spielzeug aufgebaut, um es dann in den Strudeln eines schäumenden Baches treiben zu lassen. Die Brandung, die sie bisher nur aus der Ferne und immer noch durch die Dünenkette zum größten Teil verdeckt beobachtet hatten, – hier umgab sie nach der offenen See das winzige Stückchen Sand in einem einzigen hochaufgetürmten Wall, dessen oberer in Zickzacklinien zerrissener Rand stieg und fiel, um wieder zu steigen und dann, in schäumenden Gischt zerpeitscht, über den grauen Sand bis mitten zwischen die kleinen Häuser getrieben zu werden.
Und doch! die kleinen Häuser auf dem grauen Sande – sie mochten noch immer, so unglaublich es schien, einen sichern Schutz gewähren! Aber wie durfte sie hoffen, daß er auf eines ihrer Schwelle ihr entgegen treten werde? sein Boot eines von den paar Dutzend größeren und kleineren Fahrzeugen sein werde, die dort, unmittelbar unter ihnen, in der Bucht zwischen der Halbinsel und dem Festlande vor ihren Ankern wie Nußschalen auf und nieder schwankten! Er würde da draußen sein – da draußen, wo, so weit das Auge reichte, schäumende Wogen sich über schäumenden Wogen türmten – da draußen, wo Meer und Himmel in einem gräßlichen Grau ineinander brauten, als hätten sie sich vereinigt zum Untergang der Welt.
Da – da!
Es kam nicht über Elses zuckende Lippen; die deutende Hand fiel schwer herab. Valerie nahm die kalte starre Hand.
Er wird wiederkehren, Else!
Else schüttelte das Haupt.