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Viertes Kapitel

Es war bis nach Hause wenig zwischen den Damen gesprochen worden. Die Tante schien unter einer tiefen Abspannung zu leiden; dazu die unsichere, eilige Fahrt auf dem schlechten Wege, der sich, wie Reinhold vorausgesagt, bei der seltsam schnell herabsinkenden Dunkelheit, kaum noch von der Heide abhob: zuletzt die beängstigende Schwüle der dicken, feuchten Moorluft, in der selbst Elsen schwer wurde zu atmen. So hatte denn auch sie geschwiegen, wie voll ihr das Herz war, und hatte es mit dankbarem Herzen empfunden, daß die Tante – mochte nun kommen, was wolle – auf ihrer Seite sein würde. Hatte sie doch das Bekenntnis ihrer Liebe zu Reinhold, so überraschend es für sie sein mußte, ohne Besinnen mit einer zärtlichen Umarmung, die beredter war, als alle Worte, erwidert! ließ sie doch jetzt ihre Hand kaum einmal los, um, wenn sie es auf Momente tat, sogleich wieder danach zu fassen, als wolle sie wenigstens so, da sie es bei ihrer Schwäche nicht anders vermochte, sie ihrer Teilnahme, ihrer Liebe versichern.

Sie waren endlich auf dem Schlosse angelangt; die Baronin war ihrer Kammerfrau halb ohnmächtig in die Arme gesunken und hatte sich von dieser mit Elses Hilfe sogleich nach ihren Gemächern führen lassen. – Ich danke dir tausend-, tausendmal! sagte Else, nachdem sie der Tante gute Nacht gewünscht.

Es war ihr um so weniger möglich gewesen, Carla, die noch im Salon sein sollte, aufzusuchen, als Frau von Wallbach, wie sie hörte, sich bereits auf ihr Zimmer zurückgezogen – um zu lesen, wie sie selbst anzugeben pflegte, um zu schlafen, wie Carla stets behauptete. Die geschwätzige Kammerjungfer erzählte Elsen unaufgefordert, daß der Herr Graf, aber nur auf ein paar Minuten, kurz bevor die Herrschaften gekommen, noch einmal dagewesen sei und dem gnädigen Fräulein von Wallbach die Nachricht gebracht habe, daß die Herrschaften bald zurückkommen würden, vermutlich mit dem Herrn Kommandeur. – Das Mädchen lächelte bei den letzten Worten, nicht so auffallend, daß sie es nicht nötigenfalls hätte in Abrede stellen können; aber auch gerade hinreichend, dem gnädigen Fräulein anzudeuten, daß sie auch noch mehr wisse und durchaus bereit sei, dem gnädigen Fräulein auf Verlangen ihren guten Rat und ihren erprobten Beistand zur Verfügung zu stellen. Der Graf hatte also seine Zeit trefflich benutzt. Mochte er! und mochte er aus welchem Grunde immer: aus Haß gegen Reinhold, aus Eifersucht – das häßliche Wort war in diesem Falle zu edel: aus kläglicher, verletzter Eitelkeit, oder auch nur, um sich und Carla ein hämisches Vergnügen zu bereiten, wie heute die Bewohnerschaft des Schlosses, so morgen bereits ganz Berlin wissen lassen, was sich ereignet, – lange sollte er gewiß nicht das Vergnügen haben, ein so kostbares, so amüsantes Geheimnis unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu kolportieren. Die Verlobungsanzeige würde das Siegel bald genug zerbrechen, und mit der durfte nun nicht länger gezögert werden. Um neun Uhr kam die Post von Jasmund nach Prora durch Warnow; es war noch gerade Zeit.

Und Else setzte sich an den kleinen Tisch in dem weitvorspringenden Erker, der, weil man aus dem Fenster einen freien Blick über die Ebene bis aufs Meer und auf den Wissower Haken hatte, sogleich ihr Lieblingsplatz geworden war, und schrieb mit fliegender Feder ein paar herzliche Zeilen an ihren Vater: weder sie, noch Reinhold hätten es gewollt, da sie einer des andern Liebe zu versichert wären, um nicht geduldig helleren und freundlicheren Tagen entgegenhoffen zu können. Aber es habe sich nun einmal so gefügt, und der Name der Tochter ihres Vaters dürfe nicht in dem Munde der Leute sein. Das wisse niemand besser, fühle niemand tiefer, als der liebe, gütige Vater, in dessen reine Hände sie nun ihre reine Sache lege.

Sie hatte das Briefchen einem alten, sichern Diener, der während der langen, langen Abwesenheit der Herrschaft Kastellan des Schlosses gewesen, zur Besorgung übergeben und schritt nun in wundersamer, halb banger, halb freudiger, ja übermütiger Erregung in ihrem Zimmer auf und nieder: »Else von Werben, Lotsenkommandeur Reinhold Schmidt, Verlobte. Berlin–Wissow!« Ein Lotsenkommandeur? wie sonderbar! was ist das eigentlich? – Und Wissow? weiß keine von den Herrschaften, wo Wissow liegt? – Wissow, meine Herrschaften, ist eine kleine sandige Halbinsel mit etwa zwanzig Häusern, von denen keines ein Viertel so groß sein soll, wie das Jagdschloß auf Golmberg, oder auch nur wie eines der Wirtschaftsgebäude vom Stammschloß Golm, an dessen steinernem Hoftore man auf dem Wege von Prora nach Warnow vorüberkommt. – Wie wunderlich! – Freilich! aber sie hatte immer einen wunderlichen Geschmack! – Und wie klug von dem Grafen, beizeiten von der unpassenden Konkurrenz zurückzustehen! – Es soll übrigens so weit ein angenehmer Mann sein. – Das sagt man denn so hinterher. – Auch Reserveoffizier. – A la bonne heure! da konnte sich die Generalstochter freilich nicht lange besinnen!

Und Else lachte und tanzte, nachdem sie dies kleine Konzert, zu dem die alte Baronin Kniebreche mit ihrem großen schwarzen Fächer den Takt geschlagen, in mehreren, ihr sehr bekannten Stimmen ausgeführt; und zuckte zusammen, als jetzt, wie sie so am Fenster des Erkers vorüberhüpfte, ein greller Blitz die weite Ebene vor ihr in ein fahles Licht tauchte, daß selbst der Pölitzsche Hof wie am Tage deutlich dalag, und alsbald ein langhin rollender Donner die Fenster klirren machte. Und dann war's, als ob ein Erdstoß das Schloß in seinen Grundfesten erschütterte; von dem hohen Dach prasselten die Ziegel, Jalousien klapperten herunter, Türen krachten zu, ganze Fenster mußten auf einmal herausgerissen sein, während es um die Mauern, um die Giebel, durch die Fugen und Ritzen winselte und zischte und heulte.

Ein Laufen und Rennen und Rufen war im Schloß; Tritte näherten sich ihrer Tür. Es war die alte Kammerfrau der Tante: ob das gnädige Fräulein nicht zur gnädigen Frau kommen wolle? sie sei so schrecklich unruhig und aufgeregt, und an Schlaf sei ja auch wohl für das gnädige Fräulein bei solchem entsetzlichen Wetter nicht zu denken? – Else war sofort bereit; sie wollte nur eben hinübergehen, der Tante für die zarte Rücksicht zu danken und sie zu bitten, um ihretwillen sich nicht der Ruhe zu entziehen, deren sie nach dem schlimmen Tage gewiß so notwendig bedürfe. Sie sagte das der Kammerfrau; die Alte schüttelte den Kopf, erwiderte aber nichts, sondern geleitete Elsen schweigend bis an die Tür der Herrin.

Valerie kam Elsen schon in der Tür entgegen. Else erschrak über das todbleiche, verweinte Gesicht. Sie konnte nicht anders denken, als daß der Schrecken über den fürchterlichen Donnerschlag das physische Unwohlsein der Tante bis zu diesem Grade gesteigert habe; sie bat sie, sich zu beruhigen, sich zu Bett bringen zu lassen; sie wolle bei ihr bleiben – die ganze Nacht. Die Tante werde Mut fassen, wenn sie sehe, wie mutig sie selber sei, sie, die doch gewiß Ursache habe, sich zu ängstigen.

Sie hatte die Schwankende, Zitternde nach dem Sofa geleitet und wollte nun der Kammerfrau klingeln; aber jene hielt ihre Hände krampfhaft fest und zog sie wieder neben sich auf den Sessel: Nein, nein, murmelte sie: das ist es nicht, ich muß dich haben, du mußt bleiben, aber nicht, weil ich mich vor dem Wetter fürchtete – ich fürchte mich vor etwas, das viel schrecklicher ist.

Sie sprang auf und irrte mit gerungenen Händen durch das weite, von der Lampe auf dem Tisch nur spärlich erhellte Gemach. – Ich trage es nicht länger! Jetzt ist der rechte Augenblick, oder nie! Ich muß es von der Seele haben, ich muß – ich muß!

Wie von dem Donner, der eben krachte, zerschmettert, hatte sie sich plötzlich zu Elses Füßen geworfen und ihre Knie umklammert: Es ist meine Hoffnung, mein Trost gewesen all diese Zeit: dir zu beichten, der Reinen, Guten! mich so zu lösen aus dem Bann, in dem mich der Schreckliche hält! das Opfer zu bringen, das höchste, größte, das ich bringen kann! den einzigen lichten Punkt auszulöschen in dieser grabesdunkeln Welt: deine Liebe!

Du wirst meine Liebe nicht verlieren, sagte Else; – was du mir auch anvertrauen magst – ich schwöre es dir!

Schwöre es nicht, du kannst es nicht! Sieh, ich fühle ja, wie deine lieben Hände zittern, wie dein holder Leib bebt, wie du dich zwingst, ruhig zu sein, und noch hast du nichts gehört!

Wie könnte ich ruhig sein, wenn du so fürchterlich aufgeregt bist! erwiderte Else. – Sieh, Tante, ich habe ja längst gefühlt, daß zwischen dir und mir etwas liegt, – ein anderes, als die traurigen Familienwirren, so weit ich sie kenne – ein Geheimnis, das du mir nicht mitzuteilen wagst. Ich habe oft und oft dich bitten wollen, mir alles zu sagen; ich habe nicht den Mut gehabt und mich gescholten, daß ich ihn nicht hatte. Aber du warst in letzter Zeit, wie mir schien, zurückhaltender gegen mich als im Anfang – das hat mich denn noch ängstlicher gemacht. Und hatte ich doch auch ein Geheimnis auf dem Herzen, wagte ich es doch nicht, dir meine Liebe zu bekennen, trotzdem mich jede Stunde des Zusammenseins mit dir immer mehr davon überzeugte, daß du – gerade du imstande sein würdest, dich über die Vorurteile wegzusetzen, in denen selbst der gute Vater noch befangen ist. Ja, soll ich es dir gestehen? Dein Verhältnis zu – zu Signor Giraldi, wieviel du auch darunter gelitten haben und noch leiden magst – mir war es doch nach dieser Seite tröstlich und ermutigend: mochtest du meine Liebe billigen oder nicht – du würdest sie jedenfalls begreifen; würdest mir nachfühlen können, was du doch selbst einmal empfunden haben mußt: daß man einen Mann lieben kann um seiner selbst willen, weil wir in ihm das Bild dessen sehen, was uns einzig liebenswert erscheint. Nun hat der Zufall, wenn es nicht Frevel ist, hier von Zufall zu sprechen, mir mein Geheimnis entlockt. Fasse Mut, habe Vertrauen: enthülle mir deines! Du sagst: es sei der rechte Augenblick; und gewiß ist er es. Er darf nicht vorübergehen. Und jetzt, liebe Tante, steh' auf, und wenn ich wirklich, wie du in der ersten Stunde, da wir uns sahen, gesagt und jetzt wieder sagst, dein guter Engel bin: laß es mich beweisen! laß mich beweisen, daß ich in dem Glück meiner Liebe zu dem besten, edelsten Manne die Kraft habe, dich zu lösen, dir die Ruhe wiederzugeben, den Frieden, nach dem deine Seele lechzt.

Else richtete mit sanfter Gewalt die Tante, die den Kopf in ihren Schoß gedrückt hatte, empor, trocknete die Tränen von dem schönen, bleichen Angesicht, das jetzt doch ein wenig beruhigter, gefaßter zu ihr aufschaute, schlang den Arm um ihren Leib und bettete sie auf dem Sofa, selbst wieder auf dem Sessel neben ihr Platz nehmend, nachdem sie die Lampe auf die Spiegelkonsole weit von ihrem Platz fortgestellt. – Ich kann nur in dem Lichte deiner holden Augen beichten, sagte Valerie, vor jedem andern kriecht mein Geheimnis scheu zum Herzen zurück.

Draußen tobte der Gewittersturm und donnerte gegen das alte Herrenhaus in langen, ungleichmäßigen Stößen und pfiff und heulte an den Wänden, zwischen den Giebeln hin, wie rasend vor Wut, daß er auf einen Widerstand traf, daß dieser Widerstand seiner Allmacht zu trotzen versuchte.

So wird er rasen, sagte Valerie schaudernd, wenn er morgen kommt und sein Opfer fordert und es nicht folgen will, nicht folgen wird, und wenn er sein Ärgstes täte und wenn er es vernichtete. Ja, Else, er kommt morgen; ich fand den Brief vor, als wir zurückkamen. Sein teuflischer Plan ist reif, der Ottomar, dich, euch alle zugrunde richten soll. Ich selbst kenne diesen Plan nur zum Teil. Felsenhart, wie sein Herz ist – er hat es doch empfunden, daß meine Seele sich von ihm gewandt hat; wie sehr, wie ganz, – das weiß er, das ahnt er freilich nicht, sonst lebte sie sicher nicht mehr, die er doch einst, so weit er lieben kann, geliebt, und die ihn so grenzenlos geliebt hat! Ja, meine süße Else, ich muß mit diesem schrecklichen Bekenntnis anfangen, sonst würdest du das Schrecklichere nicht verstehen, das mir zu sagen bleibt. Du würdest die Verworfenste unseres Geschlechts in mir sehen müssen; selbst deine Engelsseele würde mich nicht freisprechen können – wenn sie es kann!

Ich habe ihn grenzenlos geliebt mit einer dämonischen Liebe – ihn, den Dämon, der noch bis zur Stunde alle berückt, die in seine verderbliche Nähe kommen, und den du gekannt haben müßtest in seiner Jugend Schönheit und Glanz, um zu begreifen, wie selbst reine Frauen dem Zauber nur schwer zu widerstehen vermochten. Ich war nicht geradezu schlecht, aber ich war auch nicht rein, – in meinem Herzen nicht, das nach einer höchsten Lust begehrlich verlangte, in meiner Phantasie nicht, die die Welt und ihre Herrlichkeit allzu verführerisch lockten. Mag die Natur mich so unglückselig geschaffen, mag die frivole Üppigkeit des Hofes, an den ich so jung gekommen, mein junges Herz verdorben haben, – ich weiß es nicht; aber es war so: ich war in Herz und Phantasie ohne Zucht und Scham; ich muß es gewesen sein, wie hätte es sonst geschehen können, daß die Verlobte, deren Hochzeit in wenigen Wochen sein sollte, nur einen Moment brauchte, um in rasender Leidenschaft für einen Mann zu entbrennen, den sie zum ersten Male sah, vor dem überdies selbst ihr stumpfes Gewissen sie warnte! daß sie diese Leidenschaft, trotz alledem und trotz der gänzlichen Hoffnungslosigkeit nicht aus ihrem Herzen reißen konnte, und – Scham und Gram! – diese Leidenschaft für den fremden Mann im Herzen, mit ihrem Verlobten an den Altar trat, im Angesicht Gottes, ihm eine Treue zu versprechen, die sie bereits im Herzen gebrochen hatte, die in Wirklichkeit nicht zu halten, sie bereits mehr als halb entschlossen war! Schaudert dich, Ärmste? – Ach, ich sage dir, sie hatte Freundinnen, die nicht geschaudert haben würden, hätten sie es gewußt: ja, die es wußten, ohne zu schaudern, die lachend auf eine wiesen, die es ja gerade so gemacht und vor der doch deswegen kein Bürger den Hut weniger demütig zog, der Adel des Landes sich nicht minder tief bückte, die Gelehrten und Künstler nicht minder ehrfurchtsvoll huldigten. Weshalb sollte uns nicht billig sein, was jener recht? waren wir weniger schön, weniger anmutig und geistreich? Sie borgte von uns den Glanz, der sie umgab; der Ruf des Medicäerhofes, von wem ging er aus, wenn nicht von uns und unseresgleichen? so mochten wir auch an den Freiheiten teilhaben, die jene sich unter dem Deckmantel nehmen durfte, den sie von uns sich borgte.

Und nun geschah, was ich keinen Augenblick für möglich gehalten, ja, ich glaube, nicht ein einziges Mal bedacht hatte: mein Gatte legte seinen Gesandtschaftsposten nieder, quittierte gänzlich den Staatsdienst, wollte hier, auf seinen Gütern, mit mir – wollte mir leben.

Wenn das letztere auch nicht ganz Phrase war, so wollte es doch auch nicht soviel bedeuten, wenigstens in meinen Augen nicht. In der Tat hatte er, methodisch, wie er war, sein ganzes Leben in ein Programm gebracht, und in diesem Programm stand, daß er sich, nachdem er eine gewisse Reihe von Jahren dem Staate gedient, verheiraten und auf seine Güter zurückziehen werde. Er würde nun mir leben, wie seinem Staate: mit peinlich genauer Erfüllung seiner Pflichten, ohne Begeisterung, ohne Freudigkeit – die Ehe würde ihm ein Pensum sein, das abgetan sein mußte, wie ein anderes auch.

Er hatte alles beschlossen, geordnet, bevor er mir die Mitteilung machte. Ich war entsetzt, empört, außer mir, rasend, und – durfte mit keinem Wort, keinem Blick meine Empfindungen verraten. Es gab nur einen schwachen Trost für mich, daß die Mission, die Giraldi an unserm Hofe – unsere Herzogin war katholisch, wie du weißt – zu erfüllen gehabt, beendigt war; er, sowieso, nach Rom zurück gemußt hätte. Wir schieden voneinander mit dem Versprechen ewiger Liebe, – auch wenn wir uns nie wieder sehen sollten, schluchzte ich. – Wir sehen uns wieder, sagte Giraldi mit dem souveränen Lächeln, das du kennst.

Ich glaubte nicht daran: ich war verzweifelt. Verzweiflung im Herzen, kam ich hierher.

War es diese Verzweiflung an dem erträumten Glück? war es der besänftigende Einfluß, den die feierliche Nähe des Meeres, die melancholische Einsamkeit des Strandes auch auf das leidenschaftlichste Gemüt üben? war es, daß wirklich mein besseres Ich endlich einmal zur Herrschaft kommen wollte – ich darf es sagen, die ich so wenig für mich sagen kann: ich gab mir ernstlich Mühe, mich in die Pflichten der Herrin, der reichen Edeldame auf dem Lande, einzuleben; ich versuchte sogar, meinen Gatten zu lieben, ja, es gab Momente, wo ich ihn zu lieben glaubte. Aber freilich, auch Momente nur. Ich mußte anerkennen, daß er alles in allem ein wohlhabender Mann war, der seinen Lieblingsspruch: Jedem das Seine, so weit er es verstand, zur Wahrheit zu machen sich bestrebte und an dessen Seite eine andere Frau vielleicht sehr glücklich gewesen wäre – ich war es nicht, ich konnte es nicht sein. Der tiefe Zwiespalt unserer Naturen ließ sich nicht verdecken, ja, tat sich immer deutlicher auf, je mehr ich daran arbeitete, ihn zu beseitigen. Er war vielseitig unterrichtet, mit einem Anfluge von Gelehrsamkeit sogar; aber von einer Dürftigkeit des Empfindungslebens, die mich beleidigte, von einer Sterilität der Phantasie, die mich in Verzweiflung brachte. Für ihn nichts Großes, nichts Erhabenes! für ihn kein Heldentum, keine Götter! Ich versuchte, mich in seine prosaische Weltanschauung, in seine engherzige Beurteilung der Dinge und Menschen hineinzudenken; ich mußte auch wohl einmal zugeben, daß er recht hatte, daß die egostischen Triebfedern, die er überall entdeckte, wirklich in diesem, in jenem Falle mitgespielt, das Resultat herbeigeführt – was wollte diese gelegentliche traurige Genugtuung des Verstandes heißen im Vergleich zu all den edlen Geisteskräften, die dabei brach gelegt wurden und elend zugrunde gingen! Ja, ich fühlte, daß ich zugrunde ging; daß, wie helle Blüten mein Geist auch trieb, sie verwelkten, sobald sie in die trockne Atmosphäre kamen, in der er heimisch war, in der sich sein Tun, Reden, Denken immerdar bewegte; ich fühlte, daß die Wurzeln meiner Seele in dem dürren Sande dieser hartnäckigen Alltäglichkeit eine nach der andern abstarben; daß ich anfing, das Leben, das für mich kein Leben war, zu hassen, ich, die ich es so geliebt! – daß ich anfing, meinen Gatten zu hassen, der mir dieses qualvolle Dasein für ein Leben anrechnen wollte.

Es konnte so nicht bleiben. Ich war zu einem Schatten meiner selbst geworden: die Ärzte schüttelten den Kopf. Ach, wäre ich damals gestorben! Aber ich war noch so jung; ich wollte leben. Ich schwöre dir, Else: ich wollte weiter nichts. In vier solcher Leidensjahre glaubt man gelernt zu haben, auf vieles zu verzichten, selbst auf den letzten Hoffnungsschimmer des Glückes. Seltsame Täuschung! als ob man leben könnte, ohne glücklich zu sein! als ob ich, wie ich nun einmal war, mit dem heißen, unersättlichen Herzen, es gekonnt hätte! nicht eben damals den Beweis lieferte, daß ich es nicht konnte!

Aber freilich: man sieht das wohl, wenn man hinter sich schaut; wenn man vorwärts blickt, sieht man es nicht.

Mein Gatte hielt es natürlich für seine Pflicht, dem Rate der Ärzte zu folgen und mit seiner jungen Frau auf Reisen zu gehen. Laß mich schweigen von dem glänzenden Elend dieser Reisen! Sie brachten Abwechselung, Zerstreuung – Zufriedenheit, Glück brachten sie nicht; wenn es hoch kam: momentane Betäubung des Jammers, der im Innersten des Herzens unablässig fortwühlte, wie sehr auch der jungen, wieder aufblühenden Frau an den Höfen, die wir besuchten, überall in der Gesellschaft, maßlos gehuldigt wurde. Ich darf mich rühmen, daß ich siegreich allen Lockungen widerstand, mit denen man mich zu umstricken suchte, und ich darf es auch wieder nicht. Denn, wenn ich es tat, wenn mich die Schwärmerei kalt ließ, die ich in heißen Herzen entzündete, die Liebe selbst nicht rührte, die ich Männern einflößte, deren hohen Wert ich wohl erkannte – es war nicht Überzeugung von der Heiligkeit der Ehe, was mich schützte; es war nicht einmal Stolz; es war, ohne daß ich es wußte, ein tiefer, bittrer Groll gegen das Schicksal, das mir mein Glück versagt, das Glück, wie ich es mir erträumt; es war mit einem Worte die Erinnerung jener großen Leidenschaft, die in den Träumen der Nacht durch meine Seele zog, daß ich das wache Leben des Tages nur durch ihren magischen Schleier sah; die Liebe, die, mir selbst unbewußt, mein Herz noch immer erfüllte, wie der Duft des Rosenöles, das längst entschwunden ist, die Kristallphiole, die es einst gefüllt.

Ich erfuhr es, als es zu spät war: als ich ihn wiedergesehen.

Es war nicht meine Schuld: ich hatte aus scheinbar zweifellos sicherer Quelle erfahren, daß ihn eine umfangreiche Mission schon seit Jahren in Südamerika festhielt, daß er augenblicklich im fernen Westen an den Ufern des stillen Ozeans weilte. Ein Befehl des Papstes, oder, wie er sagte: sein Stern, hatte ihn zurückgeführt. Du glaubst mir, Else, daß ich die Wahrheit spreche, daß die Verabredung, die zwischen uns getroffen gewesen sein soll, ein Märchen ist. Sie sagen auch weiter, daß ich – sei es nun Verabredung oder Zufall gewesen – das klug vorbereitete oder unverhoffte Glück mit raschen Händen ergriffen, in gierigen Zügen genossen habe.

Und ich?

Ich ging noch an demselben Abend, an dem wir Giraldi auf einem Fest des französischen Gesandten getroffen, zu meinem Gatten und sagte ihm, daß ich am nächsten Morgen abzureisen wünsche – nach Hause. Er hatte keine Gründe angegeben, als er damals seine Stelle niederlegte und mich hierher in die Einsamkeit führte; so glaubte auch ich jetzt verschweigen zu dürfen, was mich aus Rom, aus der Welt in die Einsamkeit trieb. Er fragte auch nicht; er hatte ihn ja gesehen, hatte, wie alle Welt, den unsäglichen Zauber verspürt, der den unter der Tropensonne zum herrlichsten Manne Gereiften mächtiger noch als den verführerischen Jüngling von damals umstrahlte; er mochte sich erinnern an das, was ihm damals vermutlich schon gute Freunde zugetragen und woran er in seiner Selbstgerechtigkeit und seinem Selbstgefühl sicher nicht geglaubt hatte. Jetzt war dies Selbstgefühl nicht gebrochen, aber erschüttert. In seltsam unheimlichem Licht mochten die verflossenen Jahre, die öden, freudelosen, plötzlich vor seinen erschrockenen Blicken stehen; es mochte ihm zum Bewußtsein kommen, was ich alles entbehrt und gelitten.

Aber noch war es ja nicht zu spät – in seinen Augen. Ich wollte ja augenscheinlich meine Pflicht tun, indem ich vor der Versuchung floh. Er akzeptierte schweigend, was sich nach seinem Dafürhalten ja von selbst verstand. Wir brachen am nächsten Morgen auf und reisten nach Hause.

Und nun beginnt ein unheimlich-dunkles Spiel, an das ich mit Schaudern zurückdenke, selbst jetzt, wo die verschlungenen Fäden klar vor meinen Blicken liegen. Wir hatten die Rollen auf das seltsamste vertauscht. Während ich, stolz auf den Sieg, den ich über mich errungen, mein Haupt erhob und in der Resignation, zu der ich mich verurteilt, melancholisch schwelgte, bemächtigte sich seiner die Unruhe, die mich bis dahin umgetrieben; wurde er von der Sehnsucht nach einem Glücke gefoltert, auf das ich verzichtet. Er hatte mich geheiratet, weil ich jung und schön und glänzend war, hatte vielleicht auch damals schon in seiner Weise mich zu lieben geglaubt; jetzt – liebte er mich – zum ersten Male – mit aller Leidenschaft, deren er fähig war und die ihm um so verderblicher sein mußte, als er, dem ruhig-kühle Haltung stets das Ideal des vornehmen Mannes gewesen, sich einmal seiner Leidenschaft schämte und ganz gewiß keinen Ausdruck dafür fand, und – was das Schlimmste war – sehen mußte, oder zu sehen glaubte, daß er den Weg zu spät betreten, der zu meinem Herzen führte, vielleicht selbst jetzt noch geführt hätte. Eine Frau verschließt ihr Herz so schwer gegen den Reiz, mit dem das Bewußtsein, geliebt zu werden, sie umschmeichelt. Ich sah, wie er litt; ich litt fürchterlich darunter, denn ich hielt es für unmöglich, daß ich sein Gefühl jemals würde erwidern können, aber ich litt doch auch mit ihm; und Mitleid ist der Liebe so nahe verwandt! Wenn uns Kinder umspielt hätten – vielleicht wäre von vornherein alles anders gekommen, und ich glaube gewiß, ihr holder Einfluß würde in diesem Stadium unseres Verhältnisses eine glückliche Wendung herbeigeführt haben. So aber stand nicht die Mutter dem Vater gegenüber – es hatte immer nur das Weib mit dem Manne abzurechnen; und kinderlose Ehen sind ein nur zu fruchtbarer Boden für traurige Herzensgeschichten.

Und doch – es wäre noch alles, wenn nicht gut, doch wohl besser geworden mit der Zeit, die ja so viele himmelhohe Gluten allmählich unter ihrer Aschendecke begräbt, hätte sich meines Gatten nicht ein unglückseliger Gedanke bemächtigt, der bald zur fixen Idee bei ihm wurde. Was ihm, so lange er mich nicht geliebt hatte, als ein Akt der Klugheit, der diplomatischen Reserve erschienen war: unsere Abreise von Rom, erschien ihm jetzt in dem Lichte einer schmählichen Flucht, einer elenden Feigheit, die er sich nie vergeben könne, die ich ihm nie vergeben würde und die er, verblendet, wie er war, nun für das hauptsächliche, ja einzige Motiv hielt, weshalb ich kühl blieb, während er sich verzehrte.

In seiner gewohnten Weise fand er für so verworrene Herzenszustände keine aufklärenden, beruhigenden Worte; ich wäre noch heut im Dunkeln über diesen Teil meiner Leidensgeschichte, hätte ich nicht aus Briefen deines Vaters, die von meinem Gatten bei seiner zweiten Abreise von Rom in seinem Sekretär liegen gelassen und von Giraldi aufgefunden und mir später mitgeteilt wurden, den wahren Verhalt erfahren. Es ging aus jenen Briefen hervor, daß mein Gatte sich dem Freunde entdeckt, ihn um seinen Rat gebeten hatte, vor allem hinsichtlich des verderblichen Planes, mit dem er sich trug. Dein Vater hatte auf das Entschiedenste abgeraten, nicht, weil er daran zweifle, daß ich aus dem Kampfe, in den ich gestürzt werden sollte, siegreich hervorgehen werde – eine Werben werde immer und unter allen Umständen ihre Pflicht tun! – sondern weil er das Ganze für ein romantisches Spiel halte, das er in einer französischen Komödie ganz an seiner Stelle finden würde, das in die Wirklichkeit des deutschen Lebens aber nicht passe und zumal einem deutschen Edelmanne und einer deutschen Edeldame durchaus unziemlich sei. Wenn wir in unsrer Ehe nicht das Glück gefunden, das wir erhofft, so bedaure er das gewiß von ganzem Herzen; aber er kenne kein Mittel der Abhilfe, als den festen Willen, nicht von dem Rechten und Guten zu lassen; und sollte selbst dies Mittel sich nicht bewähren, so müsse der Mensch eben das Schicksal, das er sich doch schließlich selbst bereitet, in Demut auf sich nehmen und als etwas Unvermeidliches mit Würde tragen. Wir seien nicht auf Erden, um glücklich zu sein, sondern, unsere Pflicht zu tun.

O, Else, mit welchen Empfindungen habe ich damals diese Briefe gelesen, die ich für den vollendeten Ausdruck einer Denkungsart hielt, die in dem Formelwesen des Dienstes jede menschliche Regung verlernt hatte und die mich um so mehr empörte, als ich an ihm, der so schreiben konnte, mit wahrhaft schwesterlicher Liebe gehangen und mich von ihm wieder brüderlich geliebt glaubte. Welcher jammervollen Erfahrungen hat es bedurft, bis ich begriff, eine wie hohe, wenn auch herbe Weisheit, ach! und auch wieviel treue Liebe aus diesen Worten sprach!

Eine zweite Reise nach Rom wurde mir angekündigt, wie noch alle diese Entschließungen: in der höflichsten Form, aber in der stillschweigenden Voraussetzung meiner Zustimmung. Es war nicht meine Schuld, daß auch ich inzwischen verlernt hatte, meine Empfindungen zu äußern. In der Gesellschaft des Schweigsamen verstummt der Mitteilsame zuletzt, aber dafür auch gänzlich. Ich sah voraus, was kommen würde; ja, ich war entschlossen, daß es kommen solle. Ich habe dir den frivolen Leichtsinn nicht bemäntelt, mit dem ich an den Altar getreten. Der Frevelmut meines jungen, halb verderbten Herzens hatte sich nicht erfüllt; ich war besser geblieben, als ich mich selbst geschätzt; ja, ich darf sagen: ich war mit der Zeit eine Bessere geworden. Jetzt, da ich mein ehrliches Mühen vergeblich, da ich es verkannt, mißachtet wußte, das Schicksal frech herausgefordert sah von ihm, der mir hätte dankbar sein sollen, daß ich ihn und mich mit so schweren Herzensopfern davor bewahrt – jetzt wurde ich schlechter, als ich je gewesen, – jetzt wurde ich wahrhaft schlecht. Ich spottete in meinem Innern des Unsinnigen, der Trauben pflücken wollte von dem Dornstrauch; ich verlachte heimlich den eitlen Toren, der auch nur einen Augenblick wähnen konnte, in dem Kampf mit dem herrlichsten der Männer obzusiegen; ich triumphierte im voraus über seine Niederlage.

Es ist furchtbar, daß ich dir das alles sagen muß; um so furchtbarer, als dies ja kein wüstes Spiel einer zerrütteten Phantasie blieb, als es ja alles, alles in gräßlichste Erfüllung ging.

Valerie, die in dem Sofa zusammengekauert saß, drückte ihr Gesicht schaudernd in die Hände. Ein Fieberfrost durchschüttelte die zarte Gestalt; Else hätte sie gern gebeten, für heute abzubrechen; aber sie fühlte, daß sie von den Lippen der Unglücklichen den bittern Kelch nicht nehmen dürfe, auf dessen Grunde doch ein Tropfen Labsal war: der Trost, daß endlich einmal ein fühlendes Menschenauge in die Tiefe ihres Elends blickte.

So tröstete sie denn mit milden Worten, reichte der ganz Erschöpften ein Glas Wasser, von dem diese mit heißen Lippen hastig trank, um dann Elses Hand, die sie bis dahin immer festgehalten, wieder zu ergreifen und in ihrer traurigen Beichte fortzufahren, während draußen der Sturm heulte, wie eine Dämonenschar, der das Opfer noch vor den Pforten der Hölle entfliehen will.

O, daß ich nicht weiter erzählen kann, ohne selbst dein keusches Ohr zu verletzen, wie ich deine keusche Seele schon zerrissen habe! Es muß ja eben sein: man kann das Unreine nicht in reine Worte kleiden. Und von dem Augenblicke, als ich Roms ehrwürdigen Boden wieder berührte, wird auf lange, unendliche Jahre alles, alles in meinem Leben beschmutzt und besudelt, bis ich zuletzt mit Neid fast auf die Ärmsten blickte, die beim Scheine der Straßenlaternen einen Käufer für ihre Reize suchen. War ich doch in den Händen eines, der, Leib und Seele zu verderben, dem Abgrund selbst entstiegen scheint! Und doch hat es Jahre, Jahre gedauert, bis diese Erkenntnis in mir zu dämmern begann; Jahre, bis dieser Abscheu zur heimlichen Empörung wurde; und wenn diese Empörung zur Tat sich aufrafft, wie ich zu Gott bete und hoffe, ich verdanke es dir – einzig dir! Der Erquickung, die ich aus deinem holden Anblick getrunken, dem Mut, den mir deine edle, starke Liebe eingeflößt, die, ohne auch nur eine Pflicht zu verletzen, so sicher-treu durch alle Hindernisse hindurch dem einen hohen Stern zustrebt; verdanke es der Sehnsucht, mir deine Liebe zu gewinnen, mich ihrer wert zu machen, so weit es noch in meinen Kräften steht; so weit tiefste Reue schwerste Schuld entsühnen mag.

Ich könnte sagen: es war ein Rausch, der mich in die Arme des Entsetzlichen, das heißt in mein Verderben stürzte; und es kam ja so vieles zusammen, was mir Verstand und Gefühl umnebeln mußte: die jahrelange Qual, die ich ertragen, und umsonst ertragen; die Gewaltsamkeit, mit der man mich aus der so schwer erkämpften Resignation herausgerissen; die Raserei einer Leidenschaft, die, nachdem sie so lange künstlich zurückgedämmt, jetzt alle Schranken überflutete; der dämonische Reiz, mit dem nicht reine Seelen das Verbrechen lockt. Wie viele sind unterlegen, bei denen die Verführung nicht so mächtig war! Aber daß dieser Rausch so lange anhielt, daß ich wußte: ich war berauscht, daß ich berauscht sein wollte! Es erscheint mir jetzt alles wie ein wüster Traum, trotzdem die goldene Sonne Italiens ihn durchleuchtet, Orangendüfte ihn umwehen, die sanften Fluten des blauen Meeres ihn umschaukeln. Mein Gatte hatte nach wenigen Monaten den törichten Kampf aufgegeben; er war abgereist – geschlagen, gebrochen, ohne auch nur noch die Kraft zu haben, eine Entscheidung herbeizuführen, mir schriftlich nur überlassend, solange fern zu bleiben, wie es mir beliebe. Ob er gehofft hat, diese scheinbare Großmut werde mich rühren, der Entfernte stärker zu meinem Herzen sprechen, als der Anwesende, die Trennung mich lehren, was ich an ihm verlieren würde, bereits verloren habe – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich für seine jämmerliche Flucht, wie ich es nannte, nur Spott und Hohn hatte, ohne einen Schatten des Mitleids an ihn dachte, wenn ich überhaupt an ihn, oder an irgend etwas anderes, als meine Freiheit in gierigen Zügen zu genießen. Und hätte ich ihm folgen wollen, wie ich es nicht wollte, ich hätte es nicht mehr gekonnt: ich war, noch bevor er floh, an ihn, vor dem er floh, gefesselt mit den stärksten Banden, die das Weib an den Mann ihrer Wahl fesseln können. Aber was sonst im Leben des Weibes so oft eine Wandlung hervorbringt, selbst die Leichtfertigste zum Nachdenken zwingt, die edleren Gefühle in ihr wach ruft – mir brachte es keine Reue, ja – entsetzlich zu sagen! – keine Freude; ich bedurfte eines Unterpfandes seiner Liebe nicht, und es brachte ihm, dem ich den Pfad mit Rosen bestreuen wollte, nur Verlegenheit und Sorge.

Er hatte keine Mühe gehabt, mich zu überzeugen, daß mein Zustand tiefstes Geheimnis für alle Welt bleiben müsse. Unsere Hoffnung war, daß mein Gatte selbst auf Scheidung dringen werde und, da wir – Dank der teuflischen Gewandtheit des Fürchterlichen – die Sitte scheinbar nie verletzt hatten, mein Gatte freiwillig gegangen war, ich nicht ihn, sondern er mich verlassen, konnte die Scheidung nicht anders, als zu meinen, das heißt zu unsern Gunsten ausfallen – waren doch unsere Geschicke von jetzt an unauflöslich verbunden!

Und nun kam ein Umstand, der – o Else, Else! habe Erbarmen mit mir! wie soll ich es sagen! wir rechneten, wir hofften auf meines Gatten Tod. Von Giraldis Spähern – er hat sie ja über die ganze Erde verbreitet – war uns berichtet, daß mein Gatte krank sei; dann, daß seine Krankheit eine bedenkliche Wendung nehme; endlich: daß die Ärzte keine Hoffnung gäben, wenn auch die Auflösung so bald nicht erfolgen werde. Wir zitterten vor der Botschaft, die mich an sein Krankenlager rufen würde; wir sannen über Vorwände, die mich entschuldigen sollten, wenn ich dem Rufe nicht Folge leistete: die Botschaft kam nicht. Aber auch nicht die, die wir jetzt mit um so größerer Spannung erwarteten, als meine Stunde immer näher rückte. So leicht freilich sollte man uns nicht finden. Wir hatten uns zwischen Amalfi und Salerno tief im Gebirge den einsamsten Ort gewählt; meine alte Feldner war unsere einzige Begleitung. Das schönste Knäblein wurde geboren und, sobald ich dem Schrecklichen folgen konnte, dort in den Händen der Treuen zurückgelassen. Ich mußte mich ja wieder in der Welt zeigen! in den Salons Neapels von Sizilien erzählen, das wir im Fluge durcheilt, und wo ich die letzten Monate zugebracht haben wollte! Und keine Gewissensbisse! nicht einmal das Verlangen, das unschuldige Kind da oben im Gebirge zu sehen, von ihm zu hören! Sage, daß ich wahnsinnig war; es ist vielleicht das rechte Wort!

Aber noch immer lebte mein Gatte, und von der Feldner kam die Nachricht, daß Reisende – Bekannte von uns – durch ihr Bergnest gekommen waren; daß sie durch einen Zufall nur der Entdeckung entgangen sei. Die treue Seele bat, sie und das Kind aus ihrer Vereinsamung zu erlösen; sie fragte, ob ich das holde Geschöpf denn nicht einmal sehen wolle! eine Königin würde stolz auf ein solches Kind sein!

Berauscht, wie ich war, von dem Gifttrank sündenvoller Leidenschaft, den niemand so fein wie er zu mischen verstand – der Notschrei der Guten drang doch zu meinem verstockten Herzen. Ich wollte mein Kind sehen, ich wollte es um mich haben; es gehöre zu meinem vollen Glück; nichts als ein volles, ja übervolles Glück könne mir jetzt noch genügen. – Er mußte seine ganze Überredungskunst aufbieten, mich von einem Schritte abzuhalten, der, wie er mir bewies, unser ganzes, so sorgsam geplantes Spiel über den Haufen werfen mußte. – Und wenn du nicht an dich denken willst, rief er, die das öffentliche Eingeständnis deines Verhältnisses zur Bettlerin machen wird, so denke an unsern Sohn, der mit dir zum Bettler werden würde! Von unserer Mäßigung, unserer Vorsicht, unserer Klugheit hängt seine Zukunft ab; die Klugheit aber gebietet, bis alles entschieden ist, ihn in der Verborgenheit zu lassen, ja, da sein jetziger Aufenthaltsort, wie es sich gezeigt hat, keine genügende Sicherheit gewährt, ihn in noch tiefere Verborgenheit zu entrücken. Es handelt sich ja nur um eine so kurze Spanne Zeit: um wenige Wochen, vielleicht Tage. Vertraue mir hier, wie du mir doch sonst in allen Dingen vertraust! Laß mich gewähren! Ich habe schon alles überlegt, alles vorbereitet!

Er teilte mir seinen Plan mit. Wir hatten im Frühjahr Paestum besucht. Der junge, hübsche Kustos, der uns in den Ruinen herumgeführt, war mir in angenehmer Erinnerung geblieben, ebenso wie die rundliche, kleine Frau, die er unlängst erst heimgeführt. Ich hatte die beiden armen Menschen um ihr freies Glück beneidet. – Das seien die rechten Leute, sagte Giraldi, ihnen unsern Cesare anzuvertrauen; die junge Frau werde den Zuwachs ihrer Sorgen leicht genug tragen, der kräftige Gatte dem Kinde ein trefflicher Beschützer sein; überdies sei durch die in Paestum selbst stationierte Militärwache die Sicherheit auf das ausreichendste verbürgt.

Er beschwichtigte meine Besorgnis, widerlegte jeden Einwand und ging, den Plan auszuführen – allein; ich dürfe in diesem Augenblicke, wo der Verdacht mit hundert Augen über uns wache, wo wir sicherlich von unsichtbaren Spionen umgeben seien, die Stadt um keinen Preis verlassen.

Schon am Abend des folgenden Tages war er wieder zurück. Alles war vortrefflich vonstatten gegangen, das Kind wohlauf, die guten Panari – dies war der Name des Kustos – voller Freude über den anvertrauten Schatz, der den Armen selbstverständlich ein wirklicher Schatz geworden sei.

Ganz anders freilich lautete der Bericht der Feldner, die ihn auf der Expedition begleitet. Sie schilderte voller Entsetzen die Wüstenei, die sie durchmessen und über deren verbrannte Fläche die Malaria ihren Giftodem hauche, die bleichen Fiebergesichter der armen Bewohner in den verfallenen, schmutzigen Hütten. Auch seien die Panari wohl bereit gewesen, das Kind zu übernehmen, aber der Mann nicht ohne große Bedenken, die er ihr heimlich mitgeteilt. Die Briganten regten sich gerade jetzt wieder ungewöhnlich stark in den Bergen, schon seien trotz des Militärpostens an Ort und Stelle und trotz der militärischen Eskorten, die die Reisenden von Salerno oder Battipaglia nach Paestum begleiteten, Raubanfälle in unmittelbarster Nähe der Ruinen vorgekommen. Er könne eine wirkliche Verantwortung für die Sicherheit des Kindes um so weniger übernehmen, als sie selbst keinen Augenblick ihres Eigentums, vielleicht ihres Lebens sicher seien.

Leider kam die Feldner aus Furcht vor dem Fürchterlichen mit diesen Warnungen nur sehr vorsichtig und sehr allmählich heraus. Ich selbst, die nur im Frühjahr in Paestum gewesen und die weite Ebene prangend in frischem Grün und überglänzt von der mildesten Sonne gesehen, mußte die Besorgnisse der Guten nach einer Seite für übertrieben halten, und Giraldi spottete den andern Einwurf hinweg. – Im schlimmsten Falle, rief er: ein Versuch der Panari, einen noch höheren Lohn zu erzielen, den ich ihnen übrigens gern gewähren will; und deiner Duenna kauf' ein seidenes Kleid und einen Korallenschmuck auf der Strada di Chiaja – weiter will ja auch sie nichts. Nur noch wenige Tage Geduld!

Und als wäre das Schicksal selbst, ihm zu dienen, verpflichtet: an einem der nächsten Tage schon kam die Nachricht: der Ärmste hier in Warnow hatte ausgeatmet! – mit der Todesanzeige zugleich eine Abschrift des Testaments.

Ich war außer mir; ich hätte eine Welt in Trümmer schlagen mögen, da meine Welt, all das Glück, das ich erhofft, in dem ich schon im voraus geschwelgt – in Trümmern lag. Ich schwöre es dir – es ist ja das einzige versöhnende Licht in der Höllennacht meiner armen Seele: ich dachte bei alledem nicht an mich. Ich lebte ja nur für ihn, log, trog für ihn, erstickte die Stimme der Natur für ihn. Ich hätte in einer Hütte mit ihm leben wollen, im Schweiße meines Angesichts das tägliche Brot mir erarbeitend für uns beide; ich hätte – laß mich schweigen von dem, was ich für ihn getan haben würde, – es ist ja schon so zu viel der Schande.

Er lächelte sein sarkastisches Lächeln; er glaubte nicht an die Liebe in einer Mietwohnung. Bei meinem Gatten hatte mich der Unglaube an alle selbstlose Begeisterung empört; hier sah ich nur die Berechtigung der Ansprüche, die eine so fein organisierte Natur an das Leben machen durfte, ja machen mußte, wenn sie von dem Zauber, der sie umgab, nichts einbüßen sollte.

Aber, wenn mir das Testament bei Strafe der Enterbung verbot, den Mann, den ich liebte, vor der Welt meinen Gatten zu nennen; es hatte keine Strafe auf eine Schande, an die es nicht gedacht; es verbot mir nicht, mein Kind anzuerkennen. Ich wollte mein Kind, sofort! hatte ich doch so viel nachzuholen!

Jetzt, rief ich, da sie uns die Wohltat eines legitimen Verhältnisses nicht gönnen, da sie uns zurückweisen an die Quellen, aus denen wir, ohne sie zu fragen, in so vollen Zügen geschöpft: an die Natur und an die Liebe, soll auch keines der Bande fehlen, welche Natur und Liebe zu flechten vermögen; jetzt fühle ich, wie erst das Pfand unserer Liebe unsern Bund vollständig und unzerreißbar macht. Laß uns keinen Augenblick verlieren!

Eine fieberhafte Ungeduld hatte sich meiner bemächtigt, die er – ach! und wie dankbar war ich ihm dafür! – vollständig zu teilen schien. Ich sehe ihn noch blaß, verstört durch die Zimmer eilen, stehen bleiben, die Feldner, die uns begleiten sollte und in der Hast die Kindersachen nicht zusammenfinden konnte, mich selbst zur größten Eile anzuspornen. – Wir wollten keinen Augenblick verlieren, rief er; und wir verlieren Stunden, die vielleicht unersetzlich sind!

Wir waren im Begriff, den Wagen zu besteigen, der – es gab damals noch keine Eisenbahn – uns über Battipaglia nach Paestum bringen sollte, da kam eine alte Frau, die auf den Trittstufen des Hotels gekauert hatte, herangehinkt, ihn, der bereits den Fuß auf dem Wagenschlag hatte, in der unverschämten Weise neapolitanischer Bettler am Rockschoß zurückzerrend. Unwillig wandte er sich, und – ich habe mir tausendmal vergeblich die Einzelheiten der Szene zurückzurufen gesucht – die Feldner und ich mußten eben im Wagen gekramt haben – ich weiß nur, daß, als ich mich nach ihm umsah, die Alte eben um die Ecke des Hotels schnelleren Schrittes, als ich ihr zugetraut, verschwand, während er, uns den Rücken zuwendend, in der Tiefe des Hotelflures stand und einen Zettel zu lesen schien. Dann kam er wieder heraus. Ich hatte noch eine Bestellung an den Portier, sagte er, indem er sich zu uns setzte und mir mit einem Lächeln die Hand drückte: Coraggio, anima mia, coraggio!

Coraggio! antwortete ich, den Druck zärtlich erwidernd. Sein Gesicht war so bleich, seine Augen blickten so düster: er schien mir der Ermutigung bedürftiger als ich.

Es wurde Abend, bis wir nach Battipaglia kamen. Der kleine Ort, von dem aus die Reisenden für die Fahrt über die einsame Ebene militärische Begleitung zu nehmen pflegten, war in größter Aufregung. Eben sei eine Kompagnie Bersaglieri in Eilmarsch durchgekommen; eine zweite sei von Salerno aus auf Paestum in Bewegung; ein dritte solle den Räubern im Gebirge den Weg verlegen. Es habe aber auch wirklich Not getan; bis vor die Tore von Salerno wären sie geschwärmt; aus Battipaglia habe sich schon seit Tagen keiner mehr ins Freie gewagt. Von Paestum sei schon ebenso lange keine Nachricht mehr gekommen; man müsse für die Ärmsten dort das Schlimmste befürchten.

Eine namenlose Angst überfiel mich: das unglückliche Kind inmitten dieser allgemeinen Not, an dem Herde des Schreckens selbst! Vergebens jetzt, daß Giraldi mich zu beruhigen suchte, indem er mir beweisen wollte, wie gerade die Anwesenheit der Truppen die Sicherheit verbürge. Ich wollte, ich konnte nichts hören, nichts bitten als: fort! nur fort!

Wir würden nicht weit kommen, meinten die Leute.

In der Tat hatten wir kaum eine Viertelmeile zurückgelegt, als wir auf einen größeren Posten stießen, dessen junger Offizier uns höflich, aber entschieden umzukehren gebot; der Wagen habe gegen den bestimmten Befehl des Obersten die Linie passiert; wir könnten auch gar nicht weiter, die Banditen hätten die Brücke über den Sele für Wagen und Pferde unpassierbar gemacht; wahrscheinlich schlüge man sich in diesem Augenblicke schon bei Paestum in offenem Felde. Am nächsten Morgen bereits werde die Straße sicherer sein, als je zuvor; wir müßten uns so lange gedulden.

Kein Bitten, kein Flehen half; zurück nach Battipaglia! Die Unmöglichkeit, zu dem Kinde zu gelangen; die Furcht, es zu verlieren, es vielleicht bereits verloren zu haben, machten mich fast rasend. Zum ersten Male hatte der Schreckliche seine Herrschaft über mich verloren; er überließ mich, draußen umherirrend, drinnen in der elenden Herberge meiner Verzweiflung; es war eine entsetzliche Nacht!

Am nächsten Morgen war, wie der Offizier versprochen, die Straße frei. Er selbst hielt es für seine Schuldigkeit, uns die Nachricht zu bringen, riet uns aber zu gleicher Zeit dringend, auf unseren romantischen Ausflug – wir hatten gestern Paestum im Mondschein sehen wollen! großer Gott! – zu verzichten! es sehe traurig in Paestum aus: die kleine Osterie ein Schutthaufen, das Haus des Kustos Panari zertrümmert, er selbst lebensgefährlich verwundet in der Verteidigung eines fremden Kindes, das man ihm anvertraut und das die Banditen in die Berge geschleppt. Das sei leider vorgestern Nacht bereits geschehen, so daß die Räuber Zeit genug gehabt, ihre Beute, an der ihnen übrigens sehr viel gelegen sein müsse, da sie zu ihrer Erlangung so ungeheure Anstrengungen gemacht und sich so augenscheinlicher Gefahr ausgesetzt, in Sicherheit zu bringen. Doch sei noch immer Hoffnung, ihnen den Raub wieder abzujagen. Die Verfolgung gehe scharf, die Vorsichtsmaßregeln seien auf das beste getroffen. Signora möge vor der Hand ihr mitleidiges Herz beruhigen; und übrigens, wenn das Kind ja auch gewiß zu beklagen, – die unnatürlichen Eltern, die ihr Kind in eine solche Gefahr gebracht, verdienten kein Mitleid. Wer könne wissen, ob sie den Raub nicht selbst arrangiert hätten, das lebendige Zeugnis ihrer Schande noch tiefer zu verstecken? und die Razzia auf die Helfershelfer ihnen mehr als ungelegen komme? Dergleichen sei alles schon dagewesen.

Else, Else! ich wagte bei diesen Worten, die der junge Mann ahnungslos hinsprach, die Augen vor Scham und Gram nicht aufzuschlagen. Ich hatte das Schicksal herausgefordert; ich »verdiente kein Mitleid!« Und doch, und doch!

Aber es war ja noch eine Möglichkeit, aus dieser Hölle zu entschlüpfen. Fast täglich wurden Banditen eingeliefert: Männer, Weiber, Kinder! – Es ist nicht unser Cesare, sagte die Feldner; ich – großer Gott! – ich hätte ja nicht einmal mit Sicherheit anzugeben gewußt, ob es mein Kind sei! Die Feldner weinte still vor sich hin – Nächte hindurch: daß man ihr ihr Herzblut geraubt, ihren süßen Cesare! ich – ich verbot ihr zu weinen: ich drohte sie wegzuschicken: ich wollte nicht dulden, daß er, der schon so furchtbar unter dem Schlage zu leiden schien, durch ihr Jammern noch mehr bedrückt würde. Er hatte die Hoffnung keineswegs aufgegeben: Gefangene hatten ausgesagt, daß ein gewisser Lazzaro Cecutti, einer ihrer Hauptanführer, der den eigentlichen Raub des Kindes aus Gründen, die ihnen unbekannt geblieben, mit zwei anderen, die im Kampf gefallen, ausgeführt, und seine Mutter, mit der er das Kind voraus in die Berge geschickt, auch einzig und allein über dessen Verbleib Auskunft geben könnten. – Weshalb sollten Lazzaro oder die alte Barbara nicht gefangen werden, wie so viele andere?

Aber sie wurden nicht gefangen.

Sie sind zu schlau, sagte Giraldi; – sie werden sich nie fangen lassen, aber sie werden, wenn die Verfolgung zu Ende, und das wird bald genug der Fall sein, – der Eifer unserer Behörden erlahmt schnell – an einem entfernten Orte wieder auftauchen und sich das Lösegeld einfordern, um das es ihnen natürlich nur zu tun ist. Und eben deshalb dürfen wir auch über unser Kind unbesorgt sein: sie werden es hüten wie ihren Augapfel. Für sie dreht sich alles um das Kind.

Aber wie werden sie uns finden, fragte ich, – uns, die wir uns auf dein Geheiß nie öffentlich zu dem Kinde bekannt, nie eine Belohnung auf sein Wiederbringen ausgesetzt haben?

Maßregeln, erwiderte Giraldi, die eben nur die Aufmerksamkeit des Publikums und der Behörden auf uns gelenkt, das heißt, den Räubern die Möglichkeit, unbemerkt an uns zu kommen, erschwert hätten! Du kennst die Schwatzhaftigkeit, und du kennst die Schlauheit meiner Landsleute nicht. Die Panari hatten sicher keinen reinen Mund gehalten, und der Lazzaro kannte, bevor er den Raub ausführte, unsere Adresse besser als irgend ein Polizei-Präfekt; und wenn italienische Banditen ein Lösegeld einzufordern haben, wissen sie ihre Leute zu finden, wo immer sie sind. Und sie werden uns finden, glaub' mir!

Die Verfolgung kam zu Ende – sehr schnell sogar – auffallend schnell, sagten sie in den Zeitungen. Sie war zu Ende; aber Lazzaro und seine Mutter tauchten nicht hier, nicht dort auf. Kein Mensch sprach mehr von der Sache, tiefe Stille deckte sich darüber – die Stille des Todes! Der Lazzaro war tot, mußte tot sein – er und seine Mutter und – mein Kind; sie, zu Tode gehetzt, verwundet, in tiefer einsamer Bergschlucht den letzten Atem aushauchend; das Kind, das sie sicher bis zum Ende bei sich gehabt: verdurstet, verhungert, elend verkommen:

Giraldi selbst mußte es endlich zugeben: der Himmel, tröstete er, werde Ersatz schenken. Der Himmel, der unser erstes Kind eine Beute der Füchse und Geier hatte werden sehen, wollte den unnatürlichen Eltern kein zweites anvertrauen. Das so ruchlos hingeopferte blieb das einzige.

Und hier greife ich in meiner Erzählung um Jahre vor, wenn ich sage: ich danke Gott, daß es das einzige geblieben, ja mehr! ich schaudre vor dem Gedanken, jenes Kind der Sünde und Schande könne wirklich noch leben, es könne eines Tages wieder auftauchen aus dem Dunkel, das es so lange Jahre verschlungen; vor mich hintreten und sprechen: hier bin ich, Cesare, dein Sohn! – O Else, Else! es ist ja alles in mir zerrüttet und zerwühlt! wie könnte ich einfach und gesund empfinden, wie andere Menschen! Aber wie könnte ich auch anders als schaudern vor der Möglichkeit, ihn wieder zu finden, wenn ich mir sage, wie ich ihn wiederfinden müßte, der unter Räubern und Mördern groß geworden! an dem ich keinen Teil habe, als daß ich ihn geboren, an dessen Seele ich keinen Teil habe! Der Sohn, der nur käme, um dem Vater die zerriebenen Ketten wieder neu schmieden zu helfen in dem Augenblick, wo ich im Begriff bin, die letzte zu zerbrechen!

Das ahnt er, das weiß er. Und deshalb ist es kein Zufall, daß er gerade jetzt wieder und wieder das Schreckbild heraufbeschwört: – ach! Keiner versteht die teuflische Kunst wie er! – Cesare sei nicht gestorben; Cesare lebe, wandle auf Erden in Knechtsgestalt, um in kürzester Frist die Bettlerhülle abzuwerfen und vor uns dazustehen in leuchtender Schönheit.

Ich soll ihm das glauben, ich! die ich mit der guten Feldner längst überzeugt bin, daß, was jener Offizier in seiner soldatischen Raschheit so als Vermutung und Möglichkeit hingeplaudert, fürchterliche Wahrheit gewesen: er hat das unglückliche Kind in die Wüstenei von Paestum an den Fuß der Berge, von deren kahlen Hängen die Raubdörfer hinablugen auf die öde Ebene, gebracht, damit es zu jeder Zeit entführt werden könne, das heißt: sobald ich ernstliche Miene machen würde, es vor der Zeit der Gesellschaft zu zeigen. Er – er selbst hat den Unmenschen ihre Beute vorgeworfen; er hat durch jenes Weib, das an den Wagenschlag trat, bereits gewußt, daß das Bubenstück gelungen in einem Augenblick, wo er alles darum gegeben, hätte er's nicht angezettelt. Dann hat er das Unglück gehabt, daß in demselben Augenblick die Razzia auf die Räuber von der Regierung ins Werk gesetzt wurde. Nun! so war doch auch das Verbrechen unentdeckt geblieben! er durfte nach wie vor die frechen Augen zu mir aufschlagen.

Es ist ja grauenhaft, daß ich dies sagen muß und daß, wenn es auch Jahre und Jahre gedauert, bis meine Verblendung so weit gewichen und ich endlich die Tiefe meines Elends ermessen konnte, ich es auch nur so lange getragen; aber, mag die Gemeinschaft der Bösen noch so wenig dauerhaft sein – der Bund eines ganz Bösen und eines andern Wesens, das die edleren Regungen nicht völlig besiegen kann, ist fast unzerreißbar, besonders, wenn dieses Wesen ein Weib ist. Hat es die sündige Lust gebüßt, wendet es sich mit Ekel und Grauen von dem Verderber, so bannt es die Furcht; und verlernt es in dem Übermaß des Jammers selbst die Furcht, fesselt es wieder und zuletzt die Scham, eingestehen zu sollen, eingestehen zu müssen, daß sie so lange die Genossin des Verworfenen gewesen ist.

Ach, Else, ich habe sie alle durchgemacht, diese gräßlichen Stadien! dem Himmel und dir, die mir der Himmel geschenkt hat, sei Dank, daß ich endlich in dem letzten bin!

Als wir im Herbst hierher kamen, war meine Seele von Furcht erfüllt, wie eines Verbrechers, der auf leisen Sohlen aus seinem Kerker schleicht und den das Wispern eines Blattes erschreckt. Wußte ich doch, daß die Entscheidung von allen Seiten herannahte, daß ein Wort, ein Blick mich verraten konnte, um so leichter, als er entschieden Verdacht geschöpft hatte. Ein sicheres Zeichen: er traute seinen Helfershelfern nicht mehr. Alle unsere Diener waren es von jeher. Selbst meine alte Feldner steht längst in seinem Solde – scheinbar. Sie nimmt den Sündenlohn, mit dem er die der Herrin gebrochene Treue bezahlt, und wir geben ihn den Armen. Sie sagt ihm nichts, als worüber wir uns vorher verständigt haben. Aber, seitdem wir hier sind, hat er keine Aufträge mehr für sie. Auch gegen François, einen verschmitzten, schlechten Menschen, der ihm anfangs als ein besonders brauchbares Werkzeug erschienen sein mag, muß er Verdacht geschöpft haben. Und mit Recht. Ob er den Menschen beleidigt hat, ob die kluge Feldner ihn gewonnen – er ist zu uns übergegangen. Aber auch er weiß nichts mehr zu berichten. Es scheint sogar, daß sein letzter Auftrag, mich hierher zu begleiten und zu beobachten, nur ein Vorwand gewesen ist, ihn aus Berlin zu entfernen, während er selbst an den letzten Maschen seines Netzes spinnt. Mag er! ich fürchte ihn und seine Höllenkünste jetzt nicht mehr, jetzt, da ein Engel seine reinen Flügel über mich breitet.

Längst belügt er mich, wie alle Welt. Das letzte Mal, daß er mir, glaube ich, seine Pläne, und auch da wohl nur zum Teil, enthüllte, war an dem Morgen nach meiner Ankunft in Berlin, wenige Minuten bevor ich dein liebes Antlitz zum ersten Male sah. Ich darf und will dich nicht mit den widerwärtigen Einzelheiten behelligen; es sei dir genug, zu wissen, daß ich mit dem Mut, ihm zu trotzen, auch die Macht habe, seine Pläne zu vereiteln.

Das Netz, in dem er euch zu Fall zu bringen wähnte, wird sich über seinem schuldbeladenen Haupte zusammenschnüren! Wenn er mir morgen hohnlächelnd mit der Kunde entgegentritt, die ihm mitzuteilen der Graf und Carla sich beeifern werden: daß Else von Werben ihr Erbe verscherzt hat – er soll die Antwort hören! und wenn er triumphierend meldet, daß Ottomar zu seiner verratenen Liebe zurückgekehrt ist und ebenfalls sein Erbe verscherzt hat – ich will ihm die Antwort nicht schuldig bleiben. Und wenn er mit wutbebenden Lippen fragt, wie ich, sein Geschöpf, seine Sklavin, es wagen dürfe, mich gegen ihn, meinen Herrn und Meister, zu empören, dann will ich dich bei der Hand fassen und sprechen: weiche von mir, Versucher! zurück in die Nacht deiner Hölle, Satan, vor diesem Engel des Lichts!

Valerie war bei den letzten Worten von dem Sofa zu Elses Füßen geglitten, das weinende Gesicht in ihrem Schoß verbergend, ihr die Hände, das Gewand küssend in einem Übermaß von Erregung, das nur zu deutlich verriet, welche furchtbare Qual ihr die grausige Beichte bereitet hatte, von welcher Wonne ihr armes, nach Trost lechzendes Herz jetzt durchflutet war. Es dauerte lange, bis Else sie einigermaßen beruhigen konnte, zuletzt durch die Erwägung, daß sie für die Zusammenkunft morgen mit dem Entsetzlichen alle ihre Kräfte zusammenhalten müsse, daß ein paar Stunden des Schlafes nach einem solchen Tage unbedingt nötig seien. Sie werde bei ihr bleiben; sie müsse ihrem guten Engel verstatten, auch über ihren Schlaf zu wachen.

Sie hatte die ganz Erschöpfte, Gebrochene zu Bett gebracht. Es dauerte lange, bis ruhigere Atemzüge andeuteten, daß die Natur ihr Recht einfordern wollte. Endlich war sie wirklich eingeschlafen.

Else saß an ihrem Bett und blickte voll inniger Teilnahme in das noch immer so schöne, edle, wachsbleiche Gesicht.

Und dann dachte sie seiner, dessen Bild während der Erzählung der Tante immerfort vor ihrer Seele gestanden, so ganz, als ob an ihn, nicht an sie, die Beichtende sich wende; als ob er, nicht sie, hier zu entscheiden und zu richten und freizusprechen habe; und als jetzt wieder einmal ein furchtbarer Stoß das alte Herrenhaus erbeben machte und die Schlafende bang aufstöhnte, faltete sie die Hände, aber nicht in Furcht, sondern in dankbarer Rührung, daß, während der Geliebte sein teures Leben daran setzte, anderer Leben zu retten, auch sie begnadigt sei, eine Menschenseele aus dem Sturm der Leidenschaften und der Sünde zu bergen in dem Hafen der Liebe, und daß ihm und ihr das Rettungswerk gelingen werde um ihrer Liebe willen.


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