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Eine Stunde, hatte Frau Pölitz gesagt, sei es bis auf den Wissower Haken; aber Elsen war es, als wolle der vielfach sich windende Weg kein Ende nehmen. Und doch schritt sie so schnell dahin, daß sie den kleinen, leeren Leiterwagen, der anfangs weit vor ihr gefahren war, jetzt ebensoweit hinter sich hatte. Das armselige Fuhrwerk war das einzige Zeichen menschlichen Treibens; sonst lag die braune Ebene, so weit ihr Auge reichte, wie eine Wüste öde da: kein größerer Baum, hier und da nur ein paar verkrüppelte Weiden und wüstes Gesträuch an den Gräben, die sich hinüber und herüber zogen, und an dem breiteren, träge fließenden Bach, den sie jetzt auf einer baufälligen, hölzernen, geländerlosen Brücke passierte. Der Bach mußte von der Hügelkette rechter Hand kommen, an deren Fuße in großen Abständen Else die Gebäude der beiden anderen Warnowschen Güter, Gristow und Damerow, liegen sah. In ungeheurem Bogen sich herumschwingend, stieg sie allmählich zu dem Wissower Haken, der immer gerade vor ihr blieb, empor, während die Ebene nach links ohne die mindeste Erhebung sich hinstreckte bis zu den niedrigen Dünen, die nur hier und da weißlich über den Rand der Heide ragten. Nur einmal zeigte sich auf ein paar Minuten in einer Lücke, durch die der Bach seinen Ausgang nehmen mochte, ein bleigrauer Streifen, der das Meer sein mußte, obgleich es Else kaum von dem Himmel unterscheiden konnte.
Denn bleigrau war auch der Himmel über ihr, nur daß er nach Osten über dem Meere noch etwas dunkler schien, als nach Westen über den Hügeln, und an dem bleigrauen Gewölbe hier und da einzelne weißliche Flecke schwebten, wie Pulverdampf, der in regungsloser Luft an derselben Stelle stehen bleibt. Kein leisestes Lüftchen regte sich, und doch schauerte von Zeit zu Zeit ein seltsames Raunen durch die Öde, als ob die braune Heide sich aus ihrem starren Schlaf losringen möchte; und durch die schwere, trübe Luft zog es wie ein leiser, langgezogener Klageton, und dann wieder grenzenlose Stille, daß Else das Klopfen ihres Herzens zu hören vermeinte.
Aber schrecklicher fast als das Schweigen der Öde war das Gekreisch einer großen Schar von Möven, die sie aus einer der häufigen Senkungen der Heide aufgescheucht hatte, und die nun, in der grauen Luft hin und her schwankend, die spitzen Schnäbel abwärts geneigt, sie lange Zeit verfolgten, wie in wütendem Zorn über den Eindringling in ihr Gebiet.
Dennoch schritt sie weiter und weiter, schneller und schneller, einem Drange folgend, der keinen Widerspruch der verständigen Überlegung aufkommen ließ, der selbst stärker war, als das Grauen, das aus Himmel und Erde sie mit Gespensteratem anhauchte, mit dämonischen Stimmen drohte und warnte. – Und dann kam noch eine andere, schrecklichere Furcht. Schon aus weiter Ferne hatte sie – am Fuße des Vorgebirges, das sich immer mächtiger heraushob, – dunkle, sich bewegende Punkte bemerkt, wie sie, jetzt näher kommend, sich überzeugte: Arbeiter – mehrere Hundert, die an einem scheinbar endlosen Damme, der bereits zu einiger Höhe aufgestiegen war, karrten und schütteten. Sie konnte nicht anders, als den Damm überschreiten; ja, wenn sie nicht einen großen Umweg machen wollte, mußte sie die langgezogene Linie der Karrenschieber durchschneiden. Sie tat es mit einem freundlichen Gruß an die, die ihr zunächst waren. Die Leute, die schon verdrossen genug schafften, ließen die Karren stehen und glotzten sie an, ohne ihren Gruß zu erwidern. Als sie eine kurze Strecke weiter gegangen, schallten Rufe und rohes Gelächter hinter ihr her. Unwillkürlich sich wendend, sah sie, daß ein paar von dem Haufen ihr gefolgt waren und erst still standen, als sie sich wandte, vielleicht auch nur durch den Lärm, den die andern erhoben, zurückgehalten. Sie setzte ihren Weg, beinahe laufend, fort. Es war jetzt nur ein schmaler Pfad über den kurzen, verdorrten Rasen und durch die breiten Sandstreifen, mit denen die aufsteigende Lehne des Vorgebirges abwechselnd bedeckt war. Else sagte sich, daß sie den Leuten unten noch lange, bis sie die Höhe erreicht, sichtbar bleiben werde, noch jederzeit von ihnen verfolgt werden könne; oder wenn sie zurückkehrte, während die Dämmerung tiefer herabgesunken war, die Leute vielleicht schon Feierabend gemacht hatten, kein Aufseher ihre Rohheit in Schranken hielt, die wüsten Menschen, um sie zu beschimpfen, zu schrecken, zu ängstigen, die ganze unendliche Ebene bis Warnow vor sich hatten – sollte sie gleich jetzt umkehren, wo es noch Zeit war? einen der Aufseher um seine Begleitung bitten? vielleicht den Leiterwagen sich zu verschaffen suchen, den sie vorhin überholt hatte und den sie jetzt bereits in der Nähe von den Arbeitern sah, oder einen zweiten Wagen, den sie, freilich in weiter Ferne, jetzt von ihrem höheren Standpunkte aus entdeckte und der auch hinter ihr her gekommen sein mußte – es gab ja nur den einen Weg über die Heide.
Während Else so bei sich überlegte, eilte sie, als wenn ein Zauber sie zöge, mit klopfendem Herzen die Lehne hinauf, deren oberster Rand sich in gleichmäßiger, nach dem Meere zu hebender Linie scharf von dem grauen Gewölbe des Himmels absetzte. Mit jedem ihrer Schritte dehnten sich links das Meer und die Dünenkette breiter und weiter; bald schweifte der Blick hinaus, wo der dunstige Himmel mit dem dunstigen Meere zusammenfloß, und über den schön geschwungenen Bogen der Küste bis zu dem bewaldeten Golmberg, der in schwärzlicher Bläue herüberdrohte. Über die zu ununterscheidbarer Masse zusammengedrängten Wipfel ragte der Turm des Schlosses. Zwischen dem Golmberg drüben und der Höhe, auf der sie stand, – unwirtlich wie das Meer selbst, von dem sie nur durch den gelblichen Saum der Dünen geschieden war, – die braune Ebene, die sie durchwandert; – als einzige Stätte der Menschen das Fischerdorf Ahlbeck, das jetzt, hart an dem Fuße des Vorgebirges, fast unmittelbar zu ihren Füßen lag. Auch dort, zwischen den Häusern und der See auf dem breiten Strande, zogen sich lange bewegliche Linien von Arbeitern bis auf die beiden Molen, die, sich mit den Spitzen zusammenneigend, weit in das Meer hineinliefen. An den Molen ein paar größere Fahrzeuge, die ausgeladen zu werden schienen, während eine Flottille von Fischerbooten, alle in derselben Richtung, dem Ufer zustrebte. Sie hatten die Segel ausgespannt, wurden aber Wohl nur von den Rudern getrieben. Seltsam stach die gleichmäßige Stellung der braunen Segel und die einförmige Bewegung der Ruder an den Fischerbooten von dem wirren Durcheinander der weißen Möven ab, die, wie vorhin über ihr, jetzt in halber Höhe zwischen ihr und dem Ufer unaufhörlich kreisten.
Sie sah das aber alles mit ihren falkenscharfen Augen, wie ein Reisender auf der Eisenbahn die Einzelheiten der Landschaft, die der Zug durchbraust, mechanisch beobachtet, während seine Seele längst zu Hause ist, die Wonnen durchkostend, die er beim langentbehrten Anblick der Lieben empfinden wird. Ach, und sie durfte ja nicht hoffen, in die geliebten Augen zu schauen, die lieben Hände in den ihren zu halten, den Klang seiner kräftigen und doch so milden, freundlichen Stimme zu hören! Sie wollte ja nichts, als die Stätte sehen, wo er weilte!
Und selbst der kleine Trost schien ihr nicht gewährt werden zu sollen. Sie war bereits in derselben Querrichtung eine ziemliche Strecke auf dem Rücken des Hügels hingewandert, ohne den Blick nach der andern Seite, wo Wissow liegen mußte, zu gewinnen; nur der Himmel sah bleiern über den Rand des Plateaus herüber. Vielleicht, wenn sie den breiteren Weg verfolgte, zu dem sie jetzt gelangte und der, von rechts kommend, aufwärts in der Längenrichtung zu einem Haufen mächtiger Blöcke führte, zwischen denen eine Signalstange aufragte, und der auf der höchsten Höhe, vermutlich auch auf dem äußersten Rand des Vorgebirges aufgeschichtet sein mochte.
Und in der Tat, wie sie jetzt höher und höher stieg, trat rechts hinüber erst ein blasser Streifen hervor – die Küste des Festlandes – dann wieder die bleigraue Fläche des Meeres, auf der sich hier und da ein Segel zeigte; endlich diesseits, unmittelbar unter ihr, eine weiße Dünenspitze, die sich allmählich nach dem Vorgebirge zu keilförmig verbreiterte, bis es eine kleine flache Halbinsel wurde, in deren Mitte ein paar Dutzend größerer und kleinerer Häuser zwischen den weißen Dünen auf der braunen Heide lagen – das war Wissow! das mußte Wissow sein!
Und nun, da sie auf dem Punkte stand, den sie erstrebt mit dem Aufgebot all ihrer physischen und geistigen Kräfte, und, wie verlangend sie auch die Arme ausbreitete, das Ziel ihrer Sehnsucht noch so weit, so unerreichbar weit vor ihr lag – nun erst glaubte sie die stumme, schauerliche Sprache der Öde, der Einsamkeit um sie her zu verstehen: das Wispern und Raunen auf der Heide, die klagenden Geisterstimmen in der Luft: allein, allein!
Unendliches Wehe stieg in ihrem Herzen auf; ihre Knie wankten, sie sank in der Nähe der Blöcke auf einen Stein, drückte das Gesicht in die Hände und brach in lautes Weinen aus, wie ein hilflos verlassenes Kind.
Sie sah nicht, wie ein Mann, der hinter den Blöcken, an die Signalstange gelehnt, das Meer beobachtend, gestanden hatte, von den seltsamen Lauten in seiner Nähe aufgeschreckt, hervortrat; sie hörte nicht, wie er mit eiligen Schritten über den kurzen Rasen auf sie zukam:
Sie fuhr mit einem dumpfen Schrei empor.
Else!
Und abermals schrie sie auf – ein wilder Freudenschrei, der seltsam durch die lautlose Stille hallte – und sie lag an seiner Brust, klammerte sich an ihn, wie ein Ertrinkender:
Reinhold! mein Reinhold!
Sie weinte, sie lachte, sie jauchzte immer wieder: Reinhold! mein Reinhold!
Sprachlos vor Glück und Staunen über das holde Wunder, zog er sie zu sich nieder auf den Stein, auf dem sie gesessen; sie drückte ihren Kopf an seine Brust:
Ich habe mich so nach dir gesehnt!
Else! geliebte Else!
Ich mußte kommen, ich konnte nicht anders; es hat mich hergezogen, wie mit Geisterhänden! Und nun hab ich dich! dich! o verlasse mich nicht wieder! nimm mich mit dir dort hinab in dein Haus! Da ist meine Heimat, bei dir, bei dir! stoße mich nicht wieder in die öde, liebeleere, falsche Welt da hinter mir! nur bei dir ist Glück, ist Ruhe, Frieden, Wahrheit, Treue! ach! dein liebes, treues Herz, wie es pocht! ich fühl' es ja! es liebt mich, wie ich dich! es hat sich nach mir gesehnt, wie mein armes, zerrissenes Herz nach dir, nach dir!
Ja, meine Else, es hat sich nach dir gesehnt, unsäglich, grenzenlos. Ich bin hinaufgestiegen, weil es mir keine Ruhe ließ; ich wollte nur einen Blick dahin haben, wo ich dich wußte; – einen letzten Blick, bevor –
Bevor? um Gottes willen!
Er hatte sie die wenigen Schritte bis zu den Blöcken geführt und stand jetzt, seinen Arm um ihren Leib schlingend, hart an dem Rande des Vorgebirges, dessen trotzige Stirn so jäh abstürzte, daß sie da oben unmittelbar über dem grauen Meere in der grauen Luft zu schweben schienen.
Sieh, Else! das ist der Sturm! ich höre ihn, ich sehe ihn, als ob er schon entfesselt wäre! Es können noch Stunden vergehen, aber kommen wird er, kommen muß er – wie alle Zeichen verkünden: mit furchtbarer Gewalt. Die metallne Fläche da unter uns wird, in wilde Wogen zerwühlt, ihren Gischt hinaufspritzen bis auf diese Höhe! Wehe den Schiffen, die nicht jetzt schon in den Hafen geflüchtet und vielleicht selbst dort nicht vor der wilden Wut gesichert sind! wehe den Niederungen da unter uns! Ich wollte es dir heute morgen schreiben, denn ich sah es schon seit gestern; und daß ihr besser tätet, von Warnow fortzugehen; aber du wärst ja doch nicht gegangen.
Nimmermehr! ich bin so stolz, daß du mir vertraust, daß du mir dies gesagt hast! Und wenn der Sturm losbricht und ich weiß, daß dein liebes Leben jeder Gefahr ausgesetzt ist – ich will nicht zittern und, wenn ich zittre, ganz gewiß nicht zagen. Ich will mir immer sagen: er könnte ja seine Pflicht nicht tun, er könnte ja der mutig-treue Mann nicht sein, den ich liebe, wenn er wüßte, daß ich jammere und die Hände ringe, während er kommandieren und steuern muß, wie an jenem Abend? weißt du, Geliebter? und weißt du, daß ich dich schon damals liebte? und weißt du, daß du mir sagtest: ich habe Augen wie ein Schiffer? O, wie ich mich jedes Wortes erinnere! jedes Blickes! und wie ich glücklich war, daß ich dir den Kompaß nicht gleich zurückzugeben brauchte; ich wollte ihn ja nicht behalten, du solltest ihn ja wieder haben –
Da warst du ehrlicher, als ich, Geliebte! ich war entschlossen, dir den Handschuh nicht wiederzugeben. Du hattest ihn abgestreift, als du durch mein Teleskop sahst; er lag auf dem Verdeck, ich hob ihn auf; er hat mich seitdem so treu begleitet; sieh! Das ist mein Talisman gewesen: wir Seeleute sind abergläubisch; ich habe geschworen, ihn nicht von mir zu legen, bis ich statt des Handschuhs deine liebe Hand für immer in der meinen halte.
Er küßte den kleinen blaugrauen Handschuh, bevor er ihn wieder in die Brusttasche steckte.
Sie hatten sich wieder auf den Stein gesetzt, – kosend, liebeflüsternd, scherzend, in holdem Geplauder, Herz an Herz und Lippe auf Lippe drückend, in der Paradiesesseligkeit ihrer jungen Liebe der Öde vergessend, die sie umgab, des Dunkels, das immer tiefer herabsank, des Sturmes, der über dem bleiernen Meere in der bleiernen Luft brütete, wie der Engel des Verderbens über einer Welt, die er endlich für immer zu vernichten, in das uranfängliche Chaos zurückzuschleudern hofft.
Ein dumpfer, rollender, in der Ferne verzitternder Ton machte sie aufhorchen, gleich darauf fuhr ein Sausen durch die Luft, ohne daß sie, selbst in dieser Höhe, eine Bewegung spürten, und dem alsbald wieder die regungslose Stille folgte. Reinhold sprang empor.
Es kommt schneller, als ich gedacht; wir haben keinen Augenblick zu verlieren.
Dich zurückbringen.
Das darfst du nicht; du mußt auf deinen Posten; du bist heute mittag schon deshalb nicht nach Warnow gekommen; wie solltest du dich jetzt, da die Gefahr um so viel näher ist, so weit entfernen? Nein, nein, Geliebter, sieh mich nicht so besorgt an! Ich muß lernen, ohne Furcht zu leben, und ich will es. Ich bin fest entschlossen. Von diesem Augenblick an kein Zagen mehr – auch nicht vor den Menschen! Ich kann nicht mehr ohne dich, du kannst nicht mehr ohne mich leben. Wenn ich es noch nicht gewußt – jetzt weiß ich es. Und glaub' mir: mein edler Vater ist der erste, der es begreifen wird. Ja, er muß es schon gefühlt haben, als er mir sagte, was er auch dir geschrieben: Ich lege euer Schicksal in eure Hand. Mögen Ottomar und die Tante sich in mein Erbe teilen; mein stolzer Vater würde ja doch von mir nichts nehmen, und du – du nimmst mich, wie ich bin, und führst mich da hinab für immer! Noch einen Blick auf mein Paradies! und noch einen Kuß! Und nun ade! ade!
Sie hatte ihn innig umarmt und wollte sich losmachen; er hielt ihre Hand fest.
Es ist unmöglich, Else; hier oben schon dunkelt es; in einer halben Stunde ist es unten Nacht. Du kannst nicht sicher sein, auf dem Wege zu bleiben, der sich nicht mehr von der Heide unterscheiden wird, und die Heide ist von tiefen Mooren durchsetzt, – es ist wahrlich unmöglich, Else!
Es muß möglich sein! Ich würde mich verachten, wenn ich dich von deiner Pflicht zurückgehalten hätte; und wie könntest du mich noch lieben, deine Liebe nicht als eine Last empfinden, wenn ich es täte! Wie weißt du denn, ob du nicht in kürzester Zeit, vielleicht jetzt schon unten nötig bist? und die Leute ratlos dastehen und nach ihrem Kommandeur ausschauen? Reinhold, bei deiner Liebe: habe ich recht oder nicht?
Wohl hast du recht; aber –
Kein Aber, Geliebter; es muß geschieden sein!
Sie waren, so sprechend, Hand in Hand eiligen Schrittes den Weg, den Else vorhin bis zur Höhe hinaufgestiegen, hinabgegangen und standen jetzt an dem Querpfad, der nach beiden Seiten, auf die Warnower Heide hüben, zu der Wissower Halbinsel drüben hinabführte.
Bis zu dem Fuße bloß, bis ich dich auf dem rechten Wege weiß! sagte Reinhold.
Keinen Schritt mehr! horch! was war das?
Auch er hatte es bereits vernommen – ein Geräusch, wie von Pferdehufen, die in schnellstem Tempo auf den harten Rasen schlugen, hinter der Hügelwelle, die sich vor ihnen erhob und ihnen den weiteren Blick auf den von hier schneller absinkenden Rücken des Vorgebirges unmöglich machte.
Im nächsten Moment wurde auch schon ein Reiter über dem Hügel sichtbar. Jetzt war er oben, hielt das Pferd an, hob sich im Sattel und schien um sich zu spähen.
Es ist der Graf! sagte Else.
Eine tiefe Glut war ihr in das Gesicht geschossen: – Jetzt wirst du mich doch noch eine Strecke begleiten müssen, sagte sie mit einem tiefen Atemzuge. – Komm!
Sie hatte seinen Arm genommen! in dem Augenblicke hatte der Graf, der, über sie weg, nach der Höhe gesehen, den Blick abwärts wendend, die beiden bemerkt. Er gab seinem Pferde die Sporen und war, die Böschung hinabgaloppierend, im Nu bei ihnen.
Ohne Zweifel hatte er bereits vorher Reinhold erkannt, denn, als er jetzt sein Pferd parierte und den Hut zog, zeigte sein Gesicht keine leiseste Spur von Erstaunen oder Verwunderung; er schien vielmehr Reinhold gar nicht zu bemerken, als ob er Else hier allein getroffen hätte.
Das nenne ich Glück haben, gnädiges Fräulein! wie Ihre Frau Tante sich freuen wird! Sie hält da drüben, der Wagen konnte nicht weiter –
Er wies mit dem Stiel der Reitpeitsche über die Hügelwelle.
Bei Gott, gnädiges Fräulein, wenn Sie mich auch noch so verwundert ansehen! Ihre Frau Tante ängstigte sich, daß Sie so lange ausblieben, – Boten in die Nachbarschaft – von Pölitz erfahren, daß hierher – seltsamer Einfall, gnädiges Fräulein, bei Gott! – Ihre Frau Tante wollte durchaus selbst her – eben mit Fräulein von Wallbach zurück – bot mich als Begleiter an – schon ganz verzweifelt – horrendes Glück! bitte um Erlaubnis, Sie bis zum Wagen zu begleiten – nicht zweihundert Schritt.
Er hatte sich aus dem Sattel geschwungen und das Pferd am Zügel gefaßt.
Reinhold blickte Else fest ins Auge; sie verstand und erwiderte den Blick.
Wir sind Ihnen sehr dankbar, Herr Graf, sagte er; aber möchten Ihre Güte nicht einen Augenblick länger als nötig in Anspruch nehmen. Ich werde meine Braut selbst bis zur Frau Baronin begleiten.
Ah! sagte der Graf.
Er hatte sich im voraus an der grenzenlosen Verwirrung geweidet, die nach seiner Meinung die beiden Ertappten in seiner Gegenwart empfinden mußten, und an dem Schrecken, der die Baronin durchzucken würde, wenn er ihr sagen konnte, in wessen Gesellschaft er ihr Fräulein Nichte zu treffen das Glück gehabt. Denn daß der Mensch, nachdem er nun dazugekommen, mit einer gestammelten Verlegenheitsphrase sich hinab nach Wissow trollen würde, nahm er als selbstverständlich an. Und jetzt! er glaubte sich verhört zu haben; er glaubte kaum seinen Augen trauen zu dürfen, als Else und der Mensch, als ob er gar nicht mehr da wäre, ihm den Rücken wendend, Arm in Arm weiterschritten. Er war mit einem Satz wieder in den Bügeln.
So erlauben Sie wenigstens, daß ich das freudige Ereignis der Frau Baronin melde, rief er, im Vorübersprengen ironisch tief den Hut ziehend und vor ihnen her den Hügel hinaufjagend, hinter dem er dann alsbald verschwunden war.
Der Elende! sagte Else; – ich danke dir, Reinhold, daß du mich verstanden, daß du mich für immer von ihm, von allen frei gemacht hast! Du kannst nicht ahnen, wie dankbar und warum ich dir so dankbar bin! Ich will dein liebes Herz nicht noch mit dem Häßlichen belasten, was ich erfahren habe; ich sage es dir ein anderes Mal. Mag auch geschehen, was will – ich bin dein, du bist mein! Das Glück ist so groß – alles andere ist dagegen klein und nichtig.
In geringer Entfernung von ihnen hielt der offene Wagen, neben ihm ein Reiter. Sie meinten, es sei der Graf; aber, näher kommend, sahen sie, daß es ein Diener war. Der Graf war verschwunden; er hatte, nachdem er der Baronin die große Entdeckung, höhnisch lachend, mitgeteilt und keine andere Antwort empfangen, als: Ich danke Ihnen, Herr Graf, für Ihre Begleitung bis hierher! – wobei die beiden letzten Worte noch mit einem besonderen Nachdruck gesprochen waren, – abermals seinen Hut gezogen und war, vom Wege ab, über die Hügel im Galopp davongeritten.
Die Baronin hatte den Wagen verlassen und kam auf die Liebenden zu. Else ließ Reinholds Arm los und eilte der Tante entgegen. Sie hatte, indem sie sie stürmisch umarmte, bereits alles nötige mitgeteilt. Als Reinhold jetzt herantrat, reichte ihm die Baronin die Hand und sagte mit bewegter Stimme: Sie bringen mir das liebe Kind und – sich selbst; so haben Sie doppelt Dank!
Reinhold küßte die zitternde Hand. – Es ist keine Zeit, viele Worte zu machen, gnädige Frau, sagte er, und was ich empfinde, weiß Ihr gütiges Herz. Gottes Segen über Sie!
Und über dich, mein Reinhold! rief Else, ihn umschlingend; Gottes Segen! und Glück und Heil!
Er hatte den Damen in den Wagen geholfen; noch einen Druck der geliebten Hand, und das Gefährt setzte sich in Bewegung, während der Diener vorausritt. Man konnte trotz des hüglichen Terrains, da der Weg gut geführt und der Boden fest war, hinreichend schnell, selbst hier noch auf der Höhe, fahren, und Reinhold hatte zu möglichster Eile angetrieben. So waren nur wenige Minuten vergangen, als der Wagen ihm hinter den Hügeln verschwand; bis er, unten in der Ebene angelangt, wieder sichtbar werden würde, mochte noch eine halbe Stunde vergehen. Er hatte nicht Zeit, darauf zu warten; er durfte jetzt keine Minute mehr verlieren. Unten in Wissow waren die Leuchtbaken schon entzündet; in diesem Augenblick blinkte auch auf dem Meere ein Licht auf – das Signal nach einem Lotsen. Man würde es pünktlich befolgen – er wußte es; aber es konnte jeden Moment eine neue Disposition nötig werden, die seine Gegenwart erforderte; und er brauchte beim schnellsten Lauf eine Viertelstunde, um hinabzukommen.
Er sprang in mächtigen Sätzen hügelab, als dicht vor ihm aus einer Falte des Terrains, die nach rechts, tief einschneidend, in der Längenrichtung des Vorgebirges lief, ein Reiter auftauchte und auf dem Pfade halten blieb. Es war so plötzlich geschehen, daß Reinhold fast gegen das Pferd gerannt wäre.
Sie haben es jetzt sehr eilig, scheint es, sagte der Graf.
Ich habe es sehr eilig, erwiderte Reinhold, atemlos von seinem raschen Lauf, und wollte an dem Kopf des Pferdes vorüber; der Graf warf es herum, so daß er jetzt die Front gegen Reinhold hatte.
Geben Sie Raum! rief Reinhold.
Ich bin auf meinem Gebiet, erwiderte der Graf.
Der Weg ist frei.
Und Sie sind für Freiheiten aller Art.
Noch einmal: geben Sie Raum!
Wenn es mir beliebt.
Reinhold griff dem Pferde in die Zügel, das von einem scharfen Sporenhiebe in beide Flanken hoch aufbäumte; Reinhold prallte zurück.
Im nächsten Moment hatte er das lange Einschlagemesser gezogen, das er, nach Seemannsweise, stets bei sich führte.
Es sollte mir leid tun um das Tier, rief er; aber wenn Sie nicht anders wollen –
Ich wollte Ihnen nur guten Abend sagen, Herr Kommandeur – ich hatte es vorhin vergessen: guten Abend!
Der Graf zog mit höhnischem Gelächter den Hut, warf das Pferd abermals herum und jagte, seitwärts ab, in die Senkung zurück, aus der er hervorgekommen war.
Die Sorte will nichts lernen, murmelte Reinhold, sein Messer wieder zuschlagend.
Es war ein Wort, das er oft von Onkel Ernst gehört. So, wie er jetzt, mochte Onkel Ernst empfunden haben in dem schrecklichen Augenblick, als der Degen auf ihn niedersauste, ihres Vaters Degen!
Großer Gott! ist es denn wahr, daß die Sünden der Väter heimgesucht werden sollen an den Kindern? daß dieser Kampf, forterbend von Geschlecht zu Geschlecht, ewig währen soll? wir selbst, die wir schuldlos sind, ihn aufnehmen müssen gegen unser Wollen und unsere Überzeugung?
Ein Donner, noch immer aus weiter Ferne, aber doch schon näher, lauter, drohender, als der vorhin, rollte durch die schwere Luft; und wieder folgte ihm ein Windstoß – diesmal nicht mehr in den oberen Schichten, sondern schon über die Höhe und an den Hängen des Vorgebirges heransausend, und klagend und stöhnend in den Schluchten verhallend. Der nächste Stoß bereits mochte das Meer treffen, den Sturm entfesselnd, der die Flut brachte.
Einen andern Kampf galt es, vor dem Menschentücke wie Kinderspiel, Menschenhaß als eine Versündigung erschien, und nur ein Gefühl siegreich blieb: die Liebe!
Das spürte Reinhold in seinem tiefsten Herzen, als er jetzt, die schnöde verlorenen Minuten einzuholen, abwärts eilte, sein Leben, wenn es sein mußte, trotz alledem und alledem, für andrer Menschen Leben in die Schanze zu schlagen.