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Der Herbst war gekommen und machte seine Herrschaft ungestüm geltend; es waren dunkle, häßliche Tage.
Selbst in Reinholds Augen: die häßlichsten und dunkelsten, die du je erlebt hast, sagte er jeden Morgen bei sich, wenn sich ihm, sobald er das Fenster öffnete, immer wieder dasselbe Schauspiel zeigte: schwarzes, tiefziehendes Gewölk, hinüber und herüber schwankende Bäume, von deren Zweigen rauhe Winde die braunen Blatter fegten und durch die regenschwere, raucherfüllte Luft seitwärts über die Dächer der Fabrikgebäude wirbelten, die so verregnet und traurig aussahen, als könnten aus ihnen nur noch Grabsteine hervorgehen.
Und doch habe ich dunklere und häßlichere Tage durchgemacht, ohne den Mut zu verlieren, philosophierte Reinhold weiter; – das Wetter draußen ist es nicht; es ist, daß du hier, wohin du blickst, Menschen in Not und Jammer siehst, wie auf dem Deck eines Schiffes, das in kürzester Zeit sinken wird, und nichts tun kannst, sie zu retten, sondern die Hände in den Schoß legen und all dem Jammer müßig zusehen mußt.
Reinhold konnte nichts tun; er hatte sich nur zu bald davon überzeugt; schon an jenem schrecklichen Morgen, als der General zu ihm aufs Zimmer gekommen war und in tiefster Erregung, die der eiserne Mann kaum zu beherrschen vermochte, ihm die Unterredung mitteilte, die er soeben mit Herrn Schmidt gehabt, und das trostlose Resultat, zu dem diese Unterredung geführt. – Ich bin Ihrem Herrn Onkel entgegengekommen, sagte der General, soweit ich es als Mann von Ehre konnte; ich habe ihm und Ihrer Familie die Sühne angeboten, die, wenigstens vor den Augen der Welt, alles wieder ins gleiche bringt und den jungen Leuten die Möglichkeit des Glückes gewährt, dem sie mit Überspringung aller anderen Rücksichten nachgejagt sind. Ob sie es auf diesem Wege finden? Gott mag es wissen; aber das ist ihre Sache, das muß ihre Sache sein. Wie ich dabei empfinde, welche Hoffnungen ich dabei zu Grabe trage, welches Opfer meiner individuellen Überzeugung ich bringe – das muß ich eben mit mir selbst und meinem Gott ausmachen. Möge Gott das Herz Ihres Onkels lenken, daß er sich ihm vertraue, wie ich es tue in der innigen Überzeugung, daß wir mit unserer Weisheit zu Ende sind. – Ich bin zu Ihnen gekommen, lieber Schmidt, Ihnen dies alles zu sagen, nicht, als ob ich wünschte, daß Sie etwa auf Ihren Herrn Onkel wirken sollten – wie ich Ihren Herrn Onkel beurteile, scheint mir das vergebliche Mühe – sondern, weil ich den Gedanken nicht ertragen könnte, von einem Manne, den ich, den wir alle hochschätzen und der mir überdies als Kamerad nahe steht, wenn auch nur auf kurze Zeit, falsch beurteilt zu werden.
Reinhold hatte, dem Drange seines Herzens folgend, das Unmögliche dennoch versucht: er war – zum ersten Male, seitdem sie nun beisammen waren – vom Onkel schroff zurückgewiesen worden; hatte sich sagen müssen, daß er in der Tat, so wenig wie irgend ein anderer, vermögen werde, den Leidenschaftlichen zur Rücknahme eines Beschlusses zu bestimmen, den er gefaßt, »weil er mußte«. Als aber Tante Rikchen eine Stunde später Ferdinanden in ihrem Atelier ohnmächtig auf dem Fußboden ausgestreckt fand; die Unglückliche in hitzigem Fieber raste, der alte Hausarzt kam und mit besorgter Miene ging, um bald darauf in Begleitung eines Kollegen wieder zu kommen, und am Abend sich zu den beiden Herren ein dritter gesellte, der vor dem seltsamen Fall nicht minder ratlos stand – da, als Reinholds erstes Wort: es wird ihr Tod sein! in so schrecklich baldige Erfüllung zu gehen schien – gedachte er der frommen Bitte des Generals, Gott möge das Herz des Onkels lenken, und ging zu dem Onkel, der sein Zimmer seit dem Morgen nicht wieder verlassen hatte, und fragte ihn, ob er sein Kind wirklich sterben lassen wolle, wenn es in seiner Macht stünde, sie zu retten? – Ich bin überzeugt, du kannst sie retten, rief er, ein Wort von deinen Lippen das durch allen Graus der Fieberphantasien in ihre gestörte Seele dringt und sie zu neuem Leben erwecken.
Und welches wäre dieses Wort? fragte Onkel Ernst.
Wenn dein Herz dir es nicht sagt, würdest du es auch nicht verstehen, wenn ich es dir sagte.
Mein Herz sagt mir nur, daß es eine Lüge wäre, erwiderte Onkel Ernst, und, wie ich das Leben verstehe, kann man von der Lüge nicht leben. Oder welches Leben wäre es denn, zu dem ich sie erweckte? Das Leben an der Seite eines Mannes, dessen Mut gerade so weit reicht, wie das Dunkel, in dem er seine Buhlerwege geschlichen; der aus diesem Dunkel nur heraustritt, wenn ihm ein Schurke die Maske abreißt und er den Blick des Vaters in sein Armensündergesicht nicht auszuhalten vermag; der, was er heute in der Zerknirschung seines bösen Gewissens und, getrieben von der Angst vor der Meinung der Welt tut, morgen bereits schon in derselben Angst bereuen wird, um es ihr auf tausend- und tausendfache Weise wieder und immer wieder erst ins Ohr zu raunen und zuletzt ins Gesicht zu sagen – das wäre ein Los, wie es ein Vater seinem Kinde bereiten soll? Nun und nimmermehr! tausendmal besser der Tod, wenn's denn schon gestorben sein soll. Es hat ja jeder seine Art, das Leben anzusehen, und dies ist nun einmal die meinige; und kein General mit ich weiß nicht welchen konfusen Begriffen von Ehre und Pflicht, und kein mir noch so lieber Verwandter, der in seiner Gutmütigkeit gern vermitteln möchte, wo es nichts zu vermitteln gibt, wird mich darüber eines anderen belehren. Und wenn ein Gott käme, mir zu sagen, du tust unrecht, ich würde erwidern! Mir tue ich recht, und mehr kann kein Gott von einem Menschen verlangen.
Aber du durftest Ferdinande nicht durch deine Autorität zu einer Entscheidung drängen, die ihr unmöglich aus dem Herzen gekommen sein kann.
Versuchst du denn nicht etwas Ähnliches in diesem Augenblick?
Ich habe keine Autorität über dich, und deine Seele ist nicht, wie Ferdinandes in jener unseligen Stunde gewesen sein muß, von sich widerstreitenden Empfindungen zerrissen.
Und das ist gut, so weiß doch einer von uns, was er will und was er muß.
Das war Onkel Ernsts letztes Wort gewesen; er hatte es mit einer Ruhe gesagt, die für Reinhold fürchterlicher war, als es der wildeste Ausbruch der Leidenschaft gewesen sein würde.
Und doch noch immer nicht so fürchterlich, wie das Lächeln, mit dem der störrische Mann wenige Tage später die Kunde, daß Ferdinande, nach dem Urteil der Ärzte, außer Gefahr sei, entgegennahm.
Reinhold konnte dies Lächeln nicht vergessen; es verfolgte ihn selbst in seine Träume. Er hatte desgleichen nie bei einem Menschen gesehen; er konnte es auch Justus, mit dem er wiederholt darüber gesprochen, nicht beschreiben, bis er eines Tages in einem versteckten Winkel des Ateliers vor einem Gesichte, das ihn von der Wand anstarrte, mit einem Schrei stehen blieb: Um Gottes willen, Anders, was ist dies? – Die Maske der Rhondoninischen Meduse, sagte Justus, von seiner Arbeit aufblickend. – Das ist das Lächeln von Onkel Ernst! – Wird wohl etwas der Art gewesen sein, sagte Justus, mit dem Modellierholz in der Hand herantretend, obgleich ich mir die Meduse mit Onkel Ernsts Bart nicht gut zusammenbringen kann; aber es gibt solche verteufelte Ähnlichkeiten.
Justus' Freundschaft war für Reinhold in diesen schlimmen Tagen unschätzbar; er richtete sich an dem ewig heitern Gleichmut des Künstlers wieder auf, wenn er fast verzagen wollte. – Ich begreife Sie nicht, sagte Justus; – ich habe gewiß alle Hochachtung vor Onkel Ernsts famösen Eigenschaften und nehme doch wahrlich aufrichtigen Anteil an Ferdinande – von Tante Rikchen, der armen Seele, die sich nächstens die Augen ausgeweint haben wird, ganz zu schweigen – aber die Sympathie und das Mitleid und dergleichen muß doch, wie alles auf der Welt, seine Grenzen haben, und wo mir so etwas ans eigne Leben geht und mich unfähig macht, rechtschaffen zu arbeiten, – sehen Sie, lieber Reinhold, da sage ich mit dem Grafen Egmont: das ist ein fremder Tropfen in meinem Blut! und – weg damit! Haben Sie an den Präsidenten geschrieben?
Bereits vor drei Tagen.
Das ist recht. – Weiß es Gott, wie ungern ich Sie verliere; aber Sie sind schon viel zu lange hier gewesen. Sie müssen wieder Schiffsbalken unter den Füßen haben und sich den Nordost um die Ohren pfeifen lassen, das wird Ihnen die Melancholie und Hypochondrie bald genug aus den Gliedern wehen und Hirn und Herz frei machen – glauben Sie mir!
Wenn nur etwas daraus wird, sagte Reinhold; – ich fürchte fast, da die Antwort so lange ausbleibt, daß meine Abhandlung, wie der General prophezeite, auch in dem andern Ministerium böses Blut gemacht hat.
So müssen wir auf etwas anderes denken, erwiderte Justus; ein so schmuckes Fahrzeug darf nicht in dem faulen Wasser eines Hafens verrotten. Vor der Hand können Sie mir einmal zu meinen Reliefs Modell sitzen; ich brauche Sie eigentlich noch nicht; aber man muß die Rose pflücken, eh' sie verblüht. Ich werde Ihren Kopf deshalb, um Sie für alle Fälle sicher zu haben, gleich in Lebensgröße machen.
Justus hatte alle anderen Arbeiten zurückgestellt und schaffte vom frühen Morgen bis in den Abend, der dem Fleißigen jetzt nur zu früh herabsank, an den Skizzen zu seinen Reliefs. Zwei: der »Auszug« und der »Kampf« waren bereits fertig; auch die »Hilfsbereitschaft« hatte schon große Fortschritte gemacht; aber wie es mit dem »Einzuge« werden sollte? das möge der liebe Gott wissen. – Und doch war die Idee so famös! rief Justus: Sie waren mittlerweile zum Offizier avanciert und stehen stramm auf dem rechten Flügel, Augen links nach der entzückenden Bürgermeistertochter, die, den Kranz in den Händen, dito Augen links, nach dem schmucken Leutnant blickt, während die beiden Alten sich hinüber und herüber die schönsten Dinge sagen von Eintracht, Frieden, Brüderlichkeit und dergleichen. Daß sich Gott erbarm'! sie haben sich schöne Dinge gesagt! Die verfluchte Politik! denn die ist doch schließlich an dem ganzen Jammer schuld. Warum mußte der alte Berserker sich achtundvierzig auf den Barrikaden herumtreiben! und das will nun ein Liberaler sein, der seinen Groll vierundzwanzig Jahre lang konserviert und mir meine famösen Ideen verdirbt!, denn mir hat sich einmal die Idee in den beiden verkörpert – der Teufel mag von körperlosen Ideen Reliefs machen! Ich für mein Teil danke für das Vergnügen; ich verzichte gern auf die zweifelhafte Ehre, ein Erfinder zu sein; mein Wahlspruch ist: suchet, so werdet ihr finden! An dem habe ich gehalten, und der hat zu mir gehalten; ich habe noch stets gefunden, was mir für den Augenblick gerade not tat; es ist mir ordentlich in den Weg gelaufen; ich hätte blind sein müssen, wenn ich es nicht hätte sehen sollen; und gar diesmal war's doch gerade, als ob sich mir Abdallahs Wunderhöhle aufgetan: »Demanten, Smaragden, Rubinen, dazwischen nur schmal der Gang;« – »geladen die Kamele schier über ihre Kraft« – und nun – bitte, drehen Sie sich ein wenig nach rechts, lieber Reinhold! – »das eine nur, das letzte, dem Derwisch übrig bleibt« – sans comparaison, lieber Reinhold, aber außer Ihnen sind mir alle meine famösen Modelle in die Brüche gegangen: Onkel Ernst, der General, – Ferdinande – positiv unmöglich! Tante Rikchen erklärt, daß sie in einer solchen Zeit des Jammers keine Allotria – so hieße es ja Wohl? – treiben könne, – das sei gottlos! – ist das nicht gottvoll? – das Gesicht vom alten Grollmann kann ich vor melancholischen Falten positiv nicht mehr sehen; – der gute Kreisel ist, seitdem er den Sozialismus an den Nagel gehängt und sich aufs Spekulieren gelegt, bereits zur Zikade zusammengeschrumpft; die liebe Cilli hat auch nur noch je zuweilen ihr süßes Lächeln, mit dem sie, ihre Gabe in der Hand, sich an den Tisch des Bezirksvorstehers tasten sollte; und selbst unter den neuen Arbeitern habe ich kein einziges anständiges Modell entdecken können: lauter dumme, brutale, mißvergnügte Gesichter – und das alles von der Politik, der verfluchten Politik!
So jammerte Justus und lachte zwischendurch über seine eigenen »famösen« Einfälle, während er dabei unablässig mit den fleißigen Händen, deren Geschicklichkeit Reinhold wie ein Wunder erschien, in seinem nassen Ton knetete und formte, und ein paar Schritte zurücktrat, den halbkahlen Kopf hinüber und herüber neigend und bedenklich schüttelnd, wenn es ihm nicht gelungen schien, oder behaglich leise pfeifend, wenn er zufrieden war – und er durfte es meistens sein, – auf jeden Fall aber die Arbeit, die er innerlich nicht eine Sekunde abgebrochen hatte, auch äußerlich wieder aufnehmend.
Ich weiß nie, worüber ich mehr staunen soll, sagte Reinhold: über Ihre Kunst oder über Ihren Fleiß.
Das ist dasselbe, erwiderte Justus; – ein fauler Künstler ist eine contradictio in adjecto, ist im besten Falle ein geistreicher Dilettant. Denn was unterscheitet den Künstler vom Dilettanten? daß der Dilettant will und nicht kann, oder etwas will, was er nicht kann; und der Künstler kann, was er will, und nichts will, als was er kann. Dazu aber – zu der relativ vollständigen Herrschaft über die Technik und zum Bewußtsein der Grenzen seiner Kraft – gelangt er eben nur durch unablässigen Fleiß, der für ihn keine besondere Tugend, sondern vielmehr eben er selbst, seine Kunst selber ist. Oder, es anders zu sagen: seine Kunst ist ihm nicht nur das Höchste, sie ist ihm Alles; er steht mit seinem Werke auf, wie er mit ihm zu Bett gegangen ist und, wo möglich, noch in der Nacht davon geträumt hat. Die Welt geht ihm in seinem Werke unter, und eben deshalb schafft er in seinem Werke eine Welt. Das macht ihn freilich einseitig, borniert ihn nach tausend andern Richtungen – ich bin ja, wie Sie längst herausgefunden haben werden – zum Anbrennen dumm und unwissend; aber fragen Sie bei der Ameise an, die ihre Straße, weil es der kürzeste Weg ist, quer über den betretenen Fußpfad zieht, oder bei der Biene, die im Herbst so lustig mordet, um im Frühjahr wieder idyllisch schwärmen zu können, oder bei dem übrigen Kunst-Getier – die ganze Sippschaft ist dumm und borniert und grausam, aber sie bringt es zu was. Sehen Sie meinen Antonio an: er wird es nie zu etwas anderem bringen, als: nach einem fertigen Modell eine Figur in Marmor zu punktieren und auszuhauen bis auf den letzten Schliff, den wieder der Künstler nur geben kann, das heißt: zu einem höheren Handwerker. Warum? weil er tausend Faxen im Kopf hat, in erster Linie sein liebes eitles Ich. Und dann das gefühlvolle Herz! Goethe, ein echter, rechter Künstler, wenn er auch böse Sachen gezeichnet und getuscht hat, wußte, was davon zu halten! Ist doch der Mensch – ich meine nicht Goethe, sondern Antonio – in den ersten Tagen von Ferdinandes Krankheit ganz unzurechnungsfähig gewesen, daß ich ihn faktisch von der Arbeit nehmen mußte! Was geht ihn Ferdinande an? oder was geht sie ihn mehr an, als mich, der ich trotz alledem in den Tagen ganz famös habe arbeiten können? Und Ferdinande selbst! ist es nicht ein Jammer? Das steht nun faktisch auf der Schwelle zum Allerheiligsten, und wird doch nie hineinkommen, weil sie das strenge Wort über der Tür nicht zu fassen vermögen: Du sollst keine andern Götter haben neben mir. Seit gestern hat sie nun freilich wieder zu arbeiten angefangen – aber der Trotz und die Verzweiflung und die Resignation und dergleichen – das mag alles ganz famös sein; aber die Muse ist es nicht. Auch die Liebe ist keine Muse – mag man sagen, was man will. All dieses Neigen von Herzen zu Herzen – ja wohl! arbeite mal einer mit dem neigenden Herzen, und er wird sehen, wie bald es mit seiner Kunst auf die Neige geht! Kühl bis ans Herz hinan muß der Künstler sein. So hab' ich's bisher gehalten, und denke es fürder so zu halten, und wenn Sie jemals den Namen Justus Anders in einem Ehestandsregister lesen, suchen Sie ihn nicht mehr in dem goldenen Buche der Kunst – Sie würden einen dicken Strich an der Stelle finden, wo er nach dem Alphabet einst gestanden haben könnte.
Reinhold wollte das nicht gelten lassen, so wenig, wie Justus' Theorie von der notgedrungenen Einseitigkeit des Künstlers, Er sehe in dem Künstler vielmehr den ganzen, vollen Menschen, dem nichts Menschliches fremd sei; den übervollen Menschen sogar, der eben seine Überfülle, an der er sonst zugrunde gehen würde, in seine Werke ausgieße und so neben der realen Welt, in der die gewöhnlichen Menschen lebten, eine zweite, ideale Welt zu schaffen imstande sei. Und wenn Justus behaupte, daß er nie geliebt habe, so möge das ja wahr sein, obgleich er für sein Teil an der strikten Wahrheit der Behauptung seine bescheidenen Zweifel sich erlaube; aber dann habe der große Finder eben die Rechte noch nicht gefunden, und wie er ja denn sich rühme, daß ihm das Rechte stets zur rechten Zeit käme, so würde ihm auch die Rechte zur rechten Zeit kommen.
Das sind so Laienansichten, lieber Reinhold! rief Justus: unsereiner, der nach Eurer Meinung so etwas wie halber Gott sein soll, weiß es besser, mit welchem Ach und Krach die herrliche Schöpfung zustande kommt, und daß auch im besten Falle, wo es möglichst glatt geht, mit Wasser gekocht wird. – Und was die Liebe anbetrifft, so haben Sie darin gewiß mehr Erfahrung, und Erfahrung, sagte Goethes grauer Freund in Leipzig, sei freilich alles; aber besser sei es manchmal, wenn man die Erfahrung nicht erfahren habe.
Und Justus summte die Melodie von: »Kein Feuer, keine Kohle« – während er, das Modellierholz in beiden Händen, an der Stirn des Tonbildes glättete.
Sprechen Sie solche frevelhafte Gedanken nur heute abend nicht wieder bei Kreisels aus, sagte Reinhold.
Warum nicht? es ist doch die lautere Wahrheit.
Mag sein; aber der guten Cilli macht es Schmerz, dergleichen zu hören – besonders aus Ihrem Munde.
Warum besonders aus meinem Munde?
Weil sie in Ihnen nun einmal ihr Ideal sieht.
Ich denke: in Ihnen.
Reden Sie keinen solchen Nonsens, Justus!
Nein wahrhaftig! sie schwärmt ja förmlich für Sie; sie spricht ja nur noch von Ihnen; erst gestern hat sie mir gesagt: sie hoffe es noch zu erleben, daß Sie so glücklich würden, wie Sie es verdienten, worauf ich mir zu bemerken erlaubte: ich hielte Sie trotz Ihrer vorübergehenden Zurdispositionsstellung für einen der glücklichsten Menschen unter der Sonne. Und da hat sie ihr liebes Köpfchen geschüttelt und gesagt: der besten, ja; aber glücklich? und hat wieder mit dem Köpfchen geschüttelt. Nun bitte ich Sie! Sie nicht glücklich?
Und Justus pfiff die Melodie von: »glücklich allein ist die Seele, die liebt« – und rief: So, nun hätte ich Ihnen die Falten von der Stirn gebracht, und nun wollen wir für heute aufhören; sonst wird es wieder dummes Zeug, wie gestern abend.
Er spritzte seine Figuren an, wickelte Reinholds angefangenen Kopf in nasse Lappen und wusch sich die Hände. – So, ich bin fertig!
Sollen Sie nicht wenigstens Ihr Stehpult zuschließen? sagte Reinhold, auf ein wurmstichiges altes Möbel deutend, auf und in welchem Justus' Korrespondenzen und sonstige Papiere herumzufahren pflegten.
Wozu? sagte Justus; – an den Schmiralien wird sich keiner so leicht vergreifen; – das wird Antonio schon in Ordnung bringen; Antonio ist die Ordnung selbst. – Antonio!
Die übrigen Arbeiter hatten das Atelier bereits verlassen; nur Antonio kramte noch in dem Halbdunkel.
Räumen Sie hier einmal ein bißchen auf, Antonio! – kommen Sie!
Die beiden jungen Leute standen vor dem Atelier.
Überlassen Sie dem Antonio nicht zu viel? fragte Reinhold.
Wieso?
Ich traue dem Italiener nicht, so wenig, daß ich schon wiederholt die Empfindung gehabt habe, der Bursche müsse an dem Verrat Ferdinandes beteiligt gewesen sein.
Justus lachte: Wahrhaftig, lieber Reinhold, ich fange an zu glauben, daß Cilli recht hat und daß Sie ein unglücklicher Mensch sind! Wie kann ein glücklicher Mensch sich mit solchen greulichen Gedanken plagen? Ich will nur eben hinaufspringen und ein bißchen Toilette machen; gehen Sie immer voran; ich komme in fünf Minuten nach.
Justus war im Begriff, davonzueilen, als sich die Tür von Ferdinandes Atelier öffnete und eine ganz in schwarz gekleidete, mit einem dichten, schwarzen Schleier verhüllte Dame heraustrat, die, als sie der beiden ansichtig wurde, einen Moment stutzte und dann schnellen Schrittes und gesenkten Hauptes an ihnen vorüber an dem Gebäude hin nach dem Hofe zu ging. Die Freunde glaubten im ersten Augenblick, daß es Ferdinande selbst sei; aber Ferdinande war größer, es war auch nicht ihre Gestalt und ihr Gang.
Wer aber könnte es sonst sein? fragte Reinhold.
Ich weiß es nicht, sagte Justus; – vielleicht ein Modell – es gibt auch verschämte Modells. Ich wünsche wenigstens, daß es eines sei. Es wäre das beste Zeichen, daß sie wieder arbeiten, das heißt vernünftig sein will.
Justus sprang die Treppe, die zu seinen Wohnräumen führte, hinauf; Reinhold ging weiter. Als er um die Ecke des Gebäudes bog, verschwand die schwarze Gestalt eben in dem Flur des Wohnhauses.
Auch Antonio, der, sobald die Freunde das Atelier verlassen, Justus' Pult aufzuräumen begann, hatte die schwarze Dame, als sie an dem Fenster vorüberhuschte, bemerkt. Er warf sofort die Papiere, die er in der Hand hielt, in den Kasten und wollte davon stürzen, besann sich aber, daß er in seinem Atelieranzuge doch wohl nicht folgen könne, und blieb verdrießlich stehen. Die schwarze Dame war bereits gestern um dieselbe Stunde bei Ferdinanden gewesen; er hatte, da noch alle im Atelier waren, seine Beobachtungen an der Tür nicht anstellen können. – Ein Modell war es nicht – er kannte das besser! Wer aber konnte es sein, wenn nicht eine Abgesandte von dem Verhaßten? Vielleicht kam sie ein drittes Mal zu gelegenerer Stunde. Er wollte es schon herausbringen!
Er machte sich wieder an das Pult. – Pah, sagte er, – da finde einmal einer was – Rechnungen, Kontrakte – die alte Leier! Und was hilft es, ihr Gespräch zu belauschen? immer dasselbe leere Geschwätz. Ich weiß nicht, wozu er wissen will, was der Capitano mit dem Maestro schwätzt.
Er wußte, daß Ferdinande nicht mehr in dem Atelier war; dennoch blieben seine glühenden Augen, wie er jetzt im Halbdunkel, vor sich hinbrütend, dasaß, auf die Tür geheftet.
Ich will alles tun, was er befiehlt. – Er ist sehr klug, sehr mächtig und sehr reich; aber wie kann er hier helfen? Ist sie nicht jetzt noch unglücklicher, als zuvor? und wenn sie je erführe, daß ich es gewesen bin – aber darin hat der Signor recht: eines bleibt mir immer: das Letzte, das Beste – die Rache!