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Ein paar Wochen später – der Herbst zupfte bereits die letzten Blätter von den Bäumen, und die Feuilletons druckten an den letzten Bogen von Justus' Roman – gab das junge Paar seine erste Gesellschaft. Justus hatte schon längst die Freunde bei sich zu sehen gewünscht; aber Isabel schien diesen Wunsch nicht zu teilen, jedenfalls hatte sie die Einladung unter diesem oder jenem Vorwand immer wieder hinausgeschoben. Jetzt war Professor Lükke von München nach Berlin gekommen, um sich für die Neue Pinakothek an der Konkurrenz um die Erwerbung eines großen Bildes zu beteiligen, das Rubens zugeschrieben wurde. Man mußte dem alten Herrn, der in Karlsbad eine so jugendliche Begeisterung für Isabel an den Tag gelegt, eine Aufmerksamkeit erweisen. Wo Professor Lükke war, durfte Professor Richter, den zu besuchen Isabel auf Justus' wiederholte Bitte sich endlich doch entschlossen hatte, nicht fehlen. Die Gesellschaft bestand außerdem aus den beiden Ehepaaren Körner und Eberhard, Sandor und Gräfin Christine.
Christine war bereits eine Stunde vor der bestimmten Zeit gekommen; sie hatte ihrer einzigen Freundin, ihrer angebeteten Isabel, das von Glück erfüllte Herz ausschütten müssen. Die in Schlesien in persönlicher Begegnung zwischen Vater und Sohn begonnenen, dann brieflich fortgesetzten Verhandlungen hatten zu dem so sehnlich von der jungen Frau gewünschten Ziele geführt: Armand hatte sich zu einer Versöhnung bereit erklärt unter der Bedingung, daß er aus seiner schlesischen Verbannung nach Berlin zurückkehren dürfe. Dagegen hatte der Vater protestiert: der Skandal sei zu groß gewesen, als daß sich das Paar ohne allen Übergang in der Gesellschaft sehen lassen könne. Schließlich war man zu einem Kompromiß gelangt. Der Graf besaß in Wannsee eine schöne Villa, die auch für den Winter einen behaglichen Aufenthalt gewährte. Man würde dann gelegentliche Gastrollen in Berlin geben, das Terrain rekognoscieren und sich so allmählich den jetzt unbedingt verschlossenen Zutritt zu der Gesellschaft öffnen. Bereits in acht Tagen sollte die Wiedervereinigung in Wannsee stattfinden.
Die kleine Frau umarmte Isabel einmal über das andere, während sie ihr mit fliegendem Atem und von Glücksthränen wiederholt halberstickter Stimme diese Mitteilungen machte. Isabel gratulierte ihr zu einem Erfolge, an den sie selbst, die Armand so genau kannte, innerlich nicht glaubte. Wie sich denn Sibylle zu der Sache gestellt habe?
Christine war sehr ungehalten auf ihre Schwägerin, die hartnäckig auf Scheidung bestehe.
Aber wissen Sie, Liebste, sagte sie entschuldigend, die Ärmste hat nie geliebt.
Sind Sie dessen so sicher? erwiderte Isabel mit dem leisesten Anflug eines Lächelns.
Und wenn sie lieben könnte, fuhr die andere, ohne die Unterbrechung zu beachten fort, daß sich ein Mann fände, sie wieder zu lieben, das scheint mir unmöglich. Ihr Geist schwebt ja immer in anderen Regionen, und von einem Körper kann bei ihr kaum mehr die Rede sein. Es ist eigentlich nur noch ihr Kopf, der lebt.
Was für manche Männer gerade ausreicht, erwiderte Isabel, jetzt offen lächelnd, aber nur um die Lippen, während die dunklen Augen ernsthaft, fast starr vor sich hinblickten. So ein Engelskopf mit einem Paar Flügel, das hat auch seinen Charme. Siehe Mignon! »Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!« Ja wohl! Es war ein kluges Kind, die kleine Mignon!
Christine blickte die Freundin verwundert an.
Ich verstehe Sie nicht, sagte sie schüchtern.
Das thut auch nichts, erwiderte Isabel, wieder in ihrem gewöhnlichen leichten Ton. Und nun helfen Sie mir die letzten Arrangements treffen!
Es gab nicht mehr viel zu arrangieren. In dem letzten der drei Zimmer war der Tisch für zehn Personen gedeckt. Der Raum hatte eben noch gereicht, freilich ohne zwischen den beiden Stühlen an der oberen Schmalseite und der Wand einen Durchgang zu lassen. Aber der Tisch mit seinem Blumenschmuck nahm sich allerliebst aus, ebenso wie das ganze kleine einfach, aber geschmackvoll dekorierte Gemach. Einen stattlicheren Anblick bot der Empfangssalon, den zwei hochstellige Lampen und eine Ampel von der Decke durch ihre rosa Schleier mit einem milden Licht erfüllten. Wie sich freilich eine größere Gesellschaft zwischen den mancherlei eleganten Möbeln, von denen ein hübscher Stutzflügel so ziemlich ein Drittel des ganzen Raumes in Anspruch nahm, mit einiger Freiheit bewegen sollte, mochte fraglich erscheinen, wenn man auch die mit einem Vorhang versehene tiefe Fensternische, in welcher Isabels allerliebster Schreibtisch mit dem nötigen Sessel und die kleine Kelimbedeckte Chaiselongue standen, hinzurechnete. Justus', an den Salon stoßendes winziges Arbeitskabinett blieb vorderhand verschlossen; er hatte noch ein paar Korrekturbogen seines Romans zu erledigen, dessen Buchdruck bereits im Gange war.
Wir wollen unterdessen unseren Chopin noch einmal durchspielen, damit es hernach ganz glatt geht, sagte Isabel.
Wird das Ihren Mann nicht stören? warf Christine ein.
Er behauptet, daß ihn mein Spielen nicht stört.
Ihr Spielen! aber à quatre mains?
Das hört er nicht; er wird glauben, ich spiele nur etwas stärker als gewöhnlich.
Ach, Liebste, wie glücklich sind Sie!
Weil mein Mann unmusikalisch ist?
Sie wissen recht gut, was ich sagen will.
Ja, ich weiß es; aber ich bin ein wenig abergläubisch.
Wieso? abergläubisch?
Kommen Sie! sonst kommen meine Gäste und wir um unsere Probe.
Die Gäste kamen, Professor Lükke als der erste, mit ihm zugleich Justus aus seinem Zimmer.
Der Professor war in der heitersten Laune. Zwar um des Rubens willen hätte er die lange Reise nicht zu machen brauchen. An dem ganzen großen Schwarten sei auch nicht ein Pinselstrich von des Meisters Hand, die man doch wahrhaftig auf hundert Schritte erkenne. Das Werk eines Schülers von ihm – vielleicht, oder von einem Paar seiner Schüler, die auch, nach diesem ihrem Machwerk zu schließen, Zeit ihres Lebens Schüler geblieben seien. Darauf reinzufallen! Es gehöre die ganze vollendete Blindheit dazu, die das erhabene, unantastbare Prärogativ der Kunstwissenschaft zu sein scheine.
Es war selbstverständlich, daß Professor Richter, der jetzt hereintrat, entgegengesetzter Meinung war. Das sei ja eben das Unglück, daß man von einem Künstler immer wieder dasselbe fordere, und verlange, er solle in perpetuum auf seine eigenen Worte schwören. Es sei fraglos ein Rubens, wenn auch nicht des Rubens des Louvre, oder von Brüssel und Antwerpen, so doch des genialen Mannes, dem es gefallen habe, einmal in einer anderen Manier zu malen. Der Faust und das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern seien auch sehr verschieden, und doch beide von Goethe.
Und ich mache mich anheischig, rief sein Gegner, Ihnen auch im Jahrmarktsfest, obgleich es, alles in allem, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, allerdings ein Schwarten ist, die Klaue des Löwen nachzuweisen. Wo ist die hier? Hier ist nichts vom Löwen. Hier hat nur ein Rudel nichtsnutziger Schakale den Löwen tragieren wollen.
Glücklicherweise kamen nun auch die anderen, und man konnte die streitbaren alten Freunde trennen. Edith hätte in ihrem dunkelrotseidenen, mit schwarzen Spitzen garniertem Kleide und dem Brillantcollier um den weißen Hals sehr schön ausgesehen ohne die dunklen Ränder unter den Augen, die bald teilnahmlos dreinschauten, bald in fast fieberhaftem Glanze aufleuchteten. Doch war sie gesprächig und schalt Sandor, der als der letzte gekommen war, daß er sich jetzt so selten mache und sich immer mehr zum Hypochonder qualifiziere, was doch in Anbetracht seines stellenweise ganz leidlichen Humors schade sei; worauf Sandor erwiderte, er habe schon als Junge auf der Schulbank die Ausnahmen zu der Regel tödlich gehaßt, und der innige Bund der Hypochondrie mit dem Humor sei spätestens seit Aristophanes in der Litteratur unumstößliche Regel. Eve hatte weniger große Toilette gemacht als Edith, wofür dann ihr freundlicher Blick, ihre kluge Rede, ihre bequemen, niemals würdelosen Umgangsformen, die es jedem, der in ihre Nähe kam, behaglich machten, reichlich entschädigten. Sie nahm sich sofort Christinens an, welche in Gegenwart so vieler ihr bis heute unbekannter gelehrter Herren den Mund nicht zu öffnen wagte, und verwickelte sie in ein Gespräch, in welchem sie binnen zehn Minuten alles zu hören bekam, was die kleine Frau auf dem Herzen hatte. Eberhard, der den neuen Rubens bereits gesehen, entzückte Professor Lükke durch Aufzählung der anatomischen Ungeheuerlichkeiten, in denen das Bild luxuriiere; Herr Körner wußte viel Merkwürdiges aus Siebenbürgen mitzuteilen, wo er sich die letzten drei oder vier Wochen aufgehalten. Dann mußte Justus auf ein geflüstertes Wort Isabels die junge Gräfin bitten, sich an den Flügel zu setzen, was diese nur thun zu können erklärte, wenn Isabel mit ihr spielen wolle, worauf denn die vorhin durchprobierte Chopinsche Sonate unter dem wohlverdienten Beifall der Zuhörer ausgeführt wurde. Die letzten Takte waren für Friedrich das Signal gewesen, die Thür zum Speisezimmer in beiden Flügeln zu öffnen.
Das Mahl bestand aus wenigen, schicklich geordneten Gängen; der Koch hatte seine Sache gut gemacht; die von Justus sorgfältig ausgewählten Weine waren vortrefflich; Friedrich und ein Lohndiener, dessen Beihilfe Isabel etwas inkonsequenterweise doch für nötig gehalten, ließen sich keinen Fehler zu schulden kommen; so blieb, was die materielle Seite des kleinen Festes betraf, nichts zu wünschen. Aber in Justus' Augen fehlte bei alledem das beste: die rechte Heiterkeit der Gäste. Mochte es sein, daß bei der Enge des Raumes jeder unwillkürlich nur mit gedämpfter Stimme sprach, und die Gesellschaft für internere Privatunterhaltungen zu klein, für eine Diskussion, die alle hätte interessieren können, zu groß war – die ersteren wollten nicht recht fließen, und die letztere nicht in Gang kommen. Die beiden älteren Herren glichen zwei indianischen Kriegern, die auf eine Weile das Kriegsbeil begraben haben und nun nicht wissen, was sie mit der müßigen Zeit anfangen sollen; Sandor, der sonst eine ganze Tafelrunde in Atem halten konnte, schien für den Abend das Arsenal seines Geistes und Witzes geschlossen zu haben; Ediths Blick wurde immer zerstreuter, und ihr Gatte sah fortwährend ernsthaft drein, als ob er sich am Seciertisch und nicht bei einem freundschaftlichen Mahl befände. So hatte denn Eve, die zwischen ihm und Sandor saß, einen schweren Stand und gab es schließlich auf, vor ihren stummen Zuhörern Monologe zu halten. Aus Christine, die Justus geführt hatte, war schlechterdings nichts als Ja und Nein herauszubringen, und Isabel, der er über die Länge des Tisches einen verzweifelten Blick zuwarf, zuckte als Antwort leicht die Achseln, wie um zu sagen: was kann ich dafür, wenn die Leute es nicht besser wollen? Der Einzige, der andauernd sprach und zuletzt fast allein das Wort hatte, war Herr Körner. Seine Reise nach Siebenbürgen hatte das schier endlose Gebiet seiner Erfahrungen doch noch erweitert. Er erzählte von seinen Erlebnissen in dem interessanten, kaum kultivierten Lande; von den abenteuerlichen Ritten durch unwegsame Gebirge auf den kleinen, unermüdlichen Pferden; dem Treiben der schweifenden Zigeuner, dem Elend der seßhaften Landbewohner in ihren Holz- und Lehmhütten; von den Bergwerken, die jetzt nach beinahe zweitausend Jahren von neuem in Angriff genommen wären. Er kam wieder, wie in der vor Tisch mit Professor Richter über denselben Gegenstand geführten Unterhaltung darauf zu sprechen, wie erstaunlich es sei, daß die Römer ohne unsere mechanischen Hilfsmittel so viel vor sich gebracht, und Stollen von hunderten von Metern Länge durch den lebendigen Fels getrieben hätten.
Freilich, sagte er, es ist auch wieder nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, wie billig die Sklavenarbeit, und daß es den Herren Römern sehr gleichgültig war, wie viele Menschen zu Grunde gingen, wenn sie nur zum Ziele kamen.
Ist es denn heute so wesentlich anders? sagte Professor Richter. Ich gebe zu, daß heute die Menschenarbeit kostbarer geworden ist und man sich deshalb angelegen sein läßt, die Gefahren, die dem Bergmann drohen, so weit als möglich einzuschränken und das Leben und die Gesundheit der Leute zu schonen. Aber mir deucht, es scheint das den Herren nicht weiter möglich, als ihr persönlicher Vorteil verstattet. Wo der aufhört, hört auch ihre humane Sorge auf. Womit ich nicht etwa den Deutschen einen besonderen Vorwurf gemacht haben will. Nach allem, was man hört und liest, steht es in den belgischen, englischen, französischen Gruben nicht besser als in unseren westfälischen und schlesischen. Zolas Germinal –
Verzeihen Sie, Herr Professor, wenn ich Sie unterbreche, sagte Herr Körner. Aber ich glaube, Sie werden mir das Buch – das ich übrigens sehr genau kenne – nicht mehr als Autorität anführen, nachdem ich Ihnen folgende kleine Anekdote erzählt habe, die ich einem Freunde aus dem Reichsversicherungsamt verdanke. Ein Bergmann war verletzt worden und beanspruchte Entschädigung. Der Fall lag zweifelhaft; der Bergmann hatte sich, was sonst nicht üblich, einen Specialverteidiger bestellt. Der Verteidiger erging sich des langen und breiten über die Gefahren, denen das elende Leben des Bergmanns ausgesetzt sei. Als seine Quelle nannte er schließlich, da er allerdings aus eigener Kunde nicht schöpfen könne, Zolas Germinal. Nach ihm erhielt der Sachverständige, ein alter, verdienter Obersteiger, das Wort. Der brave Mann fing seine Rede so an: Ich kann dem Herrn Verteidiger kaum in einer seiner Behauptungen beipflichten. Er sagt, er habe aus Zolas Germinal geschöpft. Ich kenne das Buch nicht und vermute, es ist ein Lehrbuch über den Bergbau; aber ich versichere den Herren, dann ist es ein längst überholtes, gänzlich veraltetes.
Herr Körner hatte das Geschichtchen mit so gutem Humor vorgetragen, das sich der Professor nicht verletzt fühlen konnte. Er zeigte auch keinerlei Empfindlichkeit, sondern erwiderte lächelnd:
Ich bin Ihnen für die allerliebste Anekdote sehr verbunden, Herr Direktor. Sie bestärkt mich in meiner längst gehegten Überzeugung, daß der experimentale Roman und überhaupt die ganze realistische Poesie viel besser thäten, wenn sie ihr Geschäft aufgäben und es der Wissenschaft überließen, die es allein gründlich besorgen kann.
Das wird denn auch wohl das Ende vom Liede sein, sagte Sandor, seit einer halben Stunde zum erstenmal sein Schweigen unterbrechend.
Professor Richter und Professor Lükke blickten zu gleicher Zeit erstaunt auf, der erstere, weil er in dem Kritiker bis jetzt einen radikalen Gegner seiner ästhetischen Theorie, der letztere, weil er in ihm einen ebensolchen Anhänger gesehen hatte.
Wie meinen Sie das? fragte Professor Richter.
Wie verstehen Sie das? Professor Lükke.
Ich meine und verstehe das so; erwiderte Sandor. Poesie und Kunst waren bekanntlich in ihren Anfängen ihrer gemeinschaftlichen Mutter, der Religion, tributär, die von Haus aus ebenfalls Poesie und Kunst ist, das heißt nur mit Hilfe der Phantasie zustande kommt und in ihrer Weise den supranaturalistischen Tendenzen und transcendentalen Gelüsten des Menschenherzens und Menschengeistes gerecht zu werden sucht. So lange es geht. So lange nämlich, bis die homerischen Götter fertig sind: keine Molochs mehr mit glühenden Armen, keine ungestalten indischen Götzen, oder ägyptischen Fratzen mit Fuchs- und Sperberköpfen, sondern Wesen wie wir, bloß viel schöner, mächtiger und ein bißchen unmoralischer als die Durchschnittsmenschen zu sein pflegen. Sie nennen sich vermutlich deshalb auch die ewigen Götter, steht aber doch schief darum. Denn die klugen Menschen kommen allmählich dahinter, daß sie besagte Ewigkeit, wie noch unterschiedliche andere ähnliche ehrwürdige Allongeperrücken eigenhändig auf dero Ehrenscheitel gesetzt haben, der schließlich auch nur mit einem mehr oder minder dichten und langen Schopf bedeckt ist, welcher Schopf sich viel bequemer in einen mehr oder weniger dichten und langen Zopf flechten läßt. Damit wären wir denn, wie den Herrschaften nicht entgangen sein wird, von der idealistischen Allongeperrücken-Poesie bei der realistischen Zopfpoesie angelangt. Deren halkyonische Tage so lange dauern, bis einer kommt, der sagt: Kinder, ist es nicht viel gesünder und sehr viel weniger lächerlich, wenn wir den Zopf abschneiden und uns auch übrigens haarweise auf das Notwendige beschränken? Dieser fanatische Hasser alles Hauptschmuckes und Schwärmer für rattenkahl geschorene Köpfe ist natürlich der Mann der Wissenschaft, und er behält das letzte Wort.
Ich hoffe nicht, sagte Justus, oder hoffe wenigstens, es nicht zu erleben. Wem wäre das Leben lebenswert ohne die Schönheit und die Poesie? Mir nicht, und Ihnen, Sandor, ebensowenig.
Du lieber Himmel, sagte Sandor, wer frägt nach uns? Ob wir das Leben lebenswert finden, oder nicht – es giebt keine Götter und gab nie welche, die danach fragten. Das Leben mit einer ganzen Lunge ist zweifelsohne angenehmer; es lebt sich aber auch mit einer halben, würde sich auch mit einem halben Herzen leben, wenn das anatomisch möglich wäre, was Eberhard in Abrede stellen wird. Und das Schöne! grands dieux! wo ist es? und wie vergänglich ist es, wenn es denn wirklich einmal ausnahmsweise irgendwo ist! Auch der schöne Mensch, sagt Goethe, ist nur in einem Augenblicke schön.
Dann, erwiderte Justus lächelnd, werden Sie, verknöcherter Pessimist, der Sie sind, wenigstens so galant sein, zuzugeben, daß unsere hier anwesenden Damen gerade jetzt diesen schönen Augenblick haben. Aber mag Goethe, der ja sonst recht viel von diesen Dingen verstand, damit nicht eines jener Paradoxen, mit denen er gelegentlich ein wenig kokettiert, sondern seine wirkliche Überzeugung gesagt und ausgesprochen haben wollen, – er, und er zu allererst, würde der Meinung gewesen sein, daß sich eben darum die ephemere Schönheit in das Reich der Poesie und Kunst, wo sie ewig ist, hinüberretten müsse. Das ist in meinen Augen das Kreditiv und der Adelsbrief der Poesie und Kunst – unter der ich deshalb ein für allemal die idealistische verstehe: die Poesie und Kunst der Homer, Sophokles, Shakespeare, Goethe und Schiller – der Phidias, Praxiteles, Michel Angelo und Raphael – – daß sie der aus dem wirklichen Leben fliehenden Schönheit die Arme öffnet und ihr ein Heim bereitet in ihrem ewigen Reich. Und so meine ich, es ist mit der Schönheit und der Poesie, wie mit der Lessingschen Wahrheit, die Gott in der einen Hand hält und in der anderen das Streben nach Wahrheit. Wer möchte nicht zur Wahrheit gelangen, zumal wenn er ein Lessing ist? und doch bittet er um das Streben nach Wahrheit. Und wer, wenn er zwischen der Schönheit und der Poesie die Wahl hätte, würde nicht –
Ganz ergebenst um die Schönheit gebeten haben, unterbrach ihn Sandor.
Ein kurzes, seltsames Lachen, in welchem Justus das silberne, leise Lachen seiner Isabel nicht wiedererkannte, kam von dem anderen Ende des Tisches, und dann sah er, wie sie ihren Kopf rückwärts an die hohe Lehne des Stuhles hatte sinken lassen, und ihr Gesicht totenbleich war. Erschrocken sprang er auf; niemand blieb auf seinem Stuhl. Mit einer gegen die Gesellschaft gemurmelten Bitte um Entschuldigung umfaßte er die fast Ohnmächtige und halb führte, halb trug er sie durch den Salon in sein Arbeitszimmer, wo er sie auf dem niedrigen Divan niederlegte.
Ängstige Dich nicht, sagte Isabel; es wird sofort wieder vorüber fein. Wenn Du etwas thun willst, so bitte Eberhard, daß er auf einen Augenblick zu mir kommt!
Justus fand die ganze Gesellschaft bereits im Salon; er winkte Eberhard mit den Augen und trat mit ihm in sein Arbeitszimmer. Isabel hatte sich bereits wieder aufgerichtet.
Es ist schon vorüber, sagte sie; aber da Sie einmal hier sind – Du gehst indessen wohl wieder zur Gesellschaft, Sonntagskind!
Und dann, als sich die Thür hinter ihm geschlossen, mit einem Lächeln, das ihrem noch immer marmorbleichen Gesicht einen süßschmerzlichen medusenhaften Ausdruck gab:
War das nicht eben ein sonderbarer Kommentar zu unserer ersten Unterredung in Karlsbad? Sterben für jemand, den man liebt, was ist denn das? sagten Sie nicht so? Aber er, den man liebt, muß es doch brauchen, nötig haben; es muß ihm etwas bringen, was er sich sonst auf keine Weise verschaffen könnte! Wenn es ihm aber ein Überflüssiges ist, oder er es doch leicht entbehren kann – ah!
Sie strich sich mit der Hand über die Augen.
Aber das ist nun, wie es ist, und darum habe ich Sie nicht rufen lassen. Nur, um Sie nochmals zu bitten, daß Sie meine damalige Bitte auch wirklich erfüllen. Sie wissen doch, was ich meine?
Ja, erwiderte Eberhard, und der geheimnisvolle Brief liegt auf mir wie eine Centnerlast.
Die ich auch keinen sonst für mich zu tragen bitten würde.
Sie schwiegen ein paar Momente. Isabel hatte den Kopf gesenkt; plötzlich schaute sie wieder auf und sagte leise und schnell:
Ich habe heute Ihre Frau beobachtet und neulich, als wir Sie besuchten. Hätten Sie ihr das nicht ersparen können?
O, mein Gott! murmelte Eberhard.
Ich meine, hätten Sie Ihr Geheimnis nicht besser bewahren können? fuhr Isabel in demselben Tone fort. Für mich ist es schon seit Karlsbad keines mehr gewesen. Ich zürne Ihnen nicht. Wie dürfte ich? Was können Sie dafür? Aber, Eberhard, Sie müssen sich beherrschen lernen! Sie müssen! Sie sind es mir, sich selbst; Sie sind es Ihrer Frau, Sie sind es Justus schuldig. Ich liebe Justus. Damit ist ja für Sie alles entschieden, alles gesagt. Andere Frauen würden Ihnen nun von Freundschaft sprechen. Ich thue es nicht. Man wird um Brot gebeten und reicht einen Stein. Es ist der reine Hohn. Ich kann Ihnen nur die Hand geben und aus innigstem Herzen sagen: ich danke Ihnen, und Gott segne Sie!
Sie hatte ihm die Hand hingehalten, die er ergriff und an seine Lippen drückte. Der starke Mann bebte wie ein Laub im Winde.
Noch eines, sagte Isabel. Es ist ja möglich, daß ich irgendwann einmal einen Arzt brauche. Sie begreifen, daß Sie es nicht sein können. Nicht wahr?
Er nickte stumm.
Und nun lassen Sie uns wieder zu den anderen gehen! Das Leben ist eine schlechte Komödie, aber gute Komödianten können wir doch sein.
Sie nahm noch einmal seine Hand, nur, sich an derselben vom Divan aufzurichten, und schritt ihm voran in den Salon, wo sie die Gesellschaft bereits im Aufbruch fanden. Vergebens, daß Isabel versicherte, sie befände sich wieder vollkommen wohl: ihr blasses Aussehen sprach zu sehr dagegen. Auch Edith erklärte, eine starke Migräne zu haben, und drängte zum Aufbruch: nach wenigen Minuten waren Justus und Isabel allein.
Im ehelichen Schlafgemache war die Lampe bereits seit einer Stunde ausgelöscht, als Justus, der noch allein zu wachen glaubte, von ihrem Kopfkissen ein Geräusch vernahm, das wie leichtes Schluchzen klang. Er richtete sich auf dem Ellbogen in die Höhe und fragte leise:
Ist Dir etwas, Herz?
Keine Antwort kam.
Er hatte sich sicher getäuscht. Weshalb auch sollte sie heimlich weinen, die er noch niemals in seinem Leben hatte weinen sehen?
Wieder auf sein Kissen zurücksinkend, wollte er in den Gedankengang verfallen, den er verfolgt hatte. Aber der bot nichts Neues mehr und er konnte den Schluß ziehen.
Das war kein Erfolg heute abend, sprach er bei sich.