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Justus hatte sich nach den hübschen Anlagen neben dem eigentlichen Kaffeegarten begeben, dort bald unter einem blühenden Fliederbusch eine stille Bank gefunden, auf die er sich niederließ, den Brief der Freundin zu lesen.
»Rodek, Mai 189*
Da Du, geliebter Papa, es längst vorausgesehen hast, kann es Dich nicht überraschen: Karl hat seine Stelle aufgegeben. Er hätte es vielleicht früher thun sollen, aber wer läßt gern eine Sache im Stich, an die er zehn Jahre hindurch so viel Fleiß und Mühe verwandt hat, und die ihm für seine Kraft und Begabung einen Spielraum bot, wie er ihn niemals wieder finden wird! Indessen, es ging nicht länger. Persönliche Kränkungen von seiten des Grafen hat Karl stets ignoriert – bei einem Mann, den er so weit übersieht, hielt das nicht allzuschwer – und wenn ihm jetzt die Geduld gerissen ist, so ist es, weil der Graf durch seine neuesten Dispositionen es ihm unmöglich gemacht hat, die ungeheure Verantwortung, die auf ihm liegt, länger zu tragen. Ich kann Dir das in dem ziemlich verwickelten Detail nicht erklären; Du verlangst das auch nicht. Du weißt, wie ruhig Karl alles zu prüfen und zu wägen gewohnt und niemand vor übereilten Entschlüssen sicherer ist als er. An seine Stelle tritt Herr X. – sapienti sat!
Es ist bei der sauberen Mahlzeit noch ein hors d'oeuvre, über das ich schon eher sprechen kann.
Du kennst jedenfalls besser als ich die eigentümlichen Umstände, unter denen der junge Graf den Dienst quittieren mußte und zu seiner Braut gekommen ist. Armand hatte als Residenz für sich und seine demnächstige junge Gemahlin das »Neue Schloß« erbeten, das ja in der That seit Jahr und Tag leer steht und unter der kostspieligen Mißverwaltung des Haushofmeisters in kläglicher Weise Schaden leidet; der Graf seine Bitte natürlich abgeschlagen und ihm das Herrenhaus in Trowitz angewiesen, einem Gute in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, auch Karl den Auftrag gegeben, das Haus und den Park schicklich einrichten und herstellen zu lassen. Nun mußt Du wissen – ich kenne es aus eigener Anschauung – daß das Haus simplement eine von Schwamm und Ratten zerfressene Ruine, der Park eine von Unkraut überwucherte, versumpfte Wildnis, und die Zumutung, hier wohnen zu sollen, für den verwöhnten Armand und für seine gewiß nicht minder verwöhnte vielfache Millionenbraut der reine Hohn ist. Der Graf hatte zum Zweck der Restauration sechstausend Mark angewiesen. Karl schrieb zurück, mit seinem Willen werde an ein Haus, aus dem sechstausend so wenig wie zwanzigtausend einen menschenwürdigen Aufenthaltsort machen könnten, auch nicht ein Groschen gewandt werden. Wolle der Graf auch hierin nicht auf ihn hören, so möge er dies Geschäft mit den anderen seinem Nachfolger übertragen. Wütender Brief des Grafen, der sich »in seinen wohlgemeinten väterlichen Intentionen gekreuzt sieht«. Zu all der Niedrigkeit noch die Heuchelei! Was nun aus der Sache wird, weiß ich nicht.
Genug von diesen unerquicklichen Dingen.
Wie geht es Dir, babbo mio? Hoffentlich vortrefflich, und daß Du diesmal ja Deine vier Wochen mutig aushältst und nicht nach der dritten, wie gewöhnlich, davonläufst! Sage Justus, daß ich ihn dafür verantwortlich mache, wie Dich dafür, daß er an der mit nach Karlsbad genommenen Arbeit auch nicht einen Strich thut. Der Weg zur Unsterblichkeit ist zwar sehr lang und sehr beschwerlich; aber mit sechsundzwanzig Jahren hat man auch, noch eine tüchtige Strecke vor sich, wenn man mit seinen Kräften haushält und nicht, wie er, nach dem Rezept, das Schiller einmal einer jungen Dame gab, »so lebt, als sei jeder Tag der letzte«. Ich bin mit seiner jüngsten Novelle in »Vom Fels zum Meer« sehr zufrieden, was Du ihm nebenbei nicht zu sagen brauchst, da ich es ihm selber schreiben werde. Dennoch: die Novelle ist nicht sein Genre. Sein Fahrzeug ist zu schwer und trägt zu viel Segel, um auf dem Binnensee der Novelle gute Figur zu machen. Er gehört in das tiefe Wasser des Romans mit weiten Horizonten. Da erst ist er im stande zu zeigen, was er kann.
Übrigens mag in mein abfälliges Urteil auch eine gelinde Eifersucht hineinspielen. Es hat ihm nämlich – nun bereits zum zweiten – wenn ich das Märchen mitrechne: zum drittenmale –, eine gewisse Dame Modell gesessen, die in meiner Nachbarschaft lebt, seit nun fast einem Jahre Witwe ist und demnächst, d. h. zu gleicher Zeit mit uns nach Berlin überzusiedeln gedenkt. Da muß ich denn fürchten, daß er alle freien Stunden, die er sonst der alten Freundin widmen würde, in ihrem Salon verschmachten wird. Du kannst ihm das zur vorläufigen Warnung sagen, und daß ich die Dame kürzlich – in Breslau – gesehen habe. Ihr schwarzes Frühjahrskleid stand ihr vorzüglich, der Hut war vielleicht – in Anbetracht der Trauer – ein ganz klein wenig kokett, aber äußerst chic, und sie sah, alles in allem, ganz entzückend aus. Ich sagte ihr, daß ihr Sänger in Karlsbad weile, und sie hat mir einen Gruß an ihn aufgetragen, da ihr Briefwechsel mit ihm seit ein paar Monaten in Stocken geraten sei. Das wundert mich und thut mir aufrichtig leid. Sie hat während dieser letzten drei Jahre mit ihrem kranken Gatten in der völligen Einsamkeit von Schönau ein überaus tristes Leben mit hoher Standhaftigkeit in exemplarischer Weise geführt und wohl den tröstenden Zuspruch eines Freundes verdient. Ich werde Justus sehr schelten.
Die Kinder sind wohl. Wolfgang und Erna freuen sich unbändig auf Großpapa in Berlin, und Baby freut sich zur Gesellschaft mit. Karl verbindet seine herzlichsten Grüße mit den meinen.
Deine Eve.«
Die Lektüre dieses Briefes hatte Justus so lange in Anspruch genommen, daß, als er endlich zurückkam, der Kaffee, den ihm Marie inzwischen gebracht hatte, beinahe kalt geworden war. Er schien es nicht zu merken, wie er denn auch dem Gespräch der drei alten Herren, das jetzt eine politische Wendung genommen hatte, nur mit zerstreuter Miene zuhörte. Er wußte auch nicht, aus welchem Zusammenhange heraus Professor Hasler ihn bat, doch einmal in der Fremdenliste, die hinter ihm auf einem leer gewordenen Tische lag, nachzusehen, ob er nicht die Wohnung seines Freundes, des Grafen Trachenstein, der vor ein paar Tagen angekommen sei, finden könne. Mechanisch ließ er die letzten Blätter des bereits dicken Heftes durch seine Finger und seine Augen über die Hunderte von gleichgültigen Namen des Kommerzienrat Streber aus Berlin, der Frau Lokomotivführerswitwe Schulze aus Brünn gleiten, als er plötzlich mit einem leisen Ah! zusammenzuckte.
Nun, haben Sie? fragte Professor Hasler.
Nein, sagte Justus.
Geben Sie einmal mir, ich finde so was im Nu, sagte Professor Lükke, ihm das Buch aus der Hand nehmend.
Ist Ihnen nicht wohl, Justus? fragte Professor Richter.
Ich fühle mich in der Thai ein wenig sehr angegriffen, erwiderte Justus, und möchte mein altes Heilmittel eines längeren Spaziergangs versuchen.
Er hatte sich bei diesen Worten erhoben und dann rasch entfernt.
Ich fürchte, er ist krank, sagte Professor Richter, ihm besorgt nachblickend.
Er sah ungewöhnlich blaß aus, sagte Professor Hasler.
Das kommt von dem dummen Arbeiten, sagte Professor Lükke, der noch immer vergeblich nach dem Grafen Trachenstein suchte.