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Isabel hatte, als sie Justus aufforderte, sie zu ihrem Namenstage auf dem Schlosse zu besuchen, ganz gegen ihre Weise den eigentlichen Beweggrund ihrer Bitte ausgeplaudert. Sie hätte das Wort gern zurückgenommen, – sah sie doch sofort, welch schlimmen Eindruck auf Justus hervorbrachte! Aber es war einmal heraus; ein Kuß hatte alles wieder ins Gleiche gebracht, und sie für sich die Lehre daraus gezogen, ein andermal ihre Zunge besser zu hüten.
Die Wahrheit hatte sie freilich gesagt: es durfte, wenn sie auch alle im Schlosse auf Händen trugen, nicht aussehen, als ob sie das stolz mache. Mit scharfem Blick hatte sie herausgefunden, daß hier der Schlüssel zu ihrer Position liege. Nur so konnte sie mit Sicherheit die verstohlene Huldigung des alten Grafen, die weit offenere des jungen, die Galanterien des blonden Barons Schönau entgegennehmen; nur so die herzliche Liebe, mit der Komtesse Sibylle sie schwesterlich umfing, nur so die Freundlichkeiten der beiden Gouvernanten, die pedantische Höflichkeit Doktor Müllers, die Aufmerksamkeit sämtlicher Diener und Dienerinnen. Sie hatte sich deshalb auch einen eigenen Blick ausgedacht, mit halbgesenkten Lidern, die sie nur hob, wenn sie etwas erlangen wollte, oder jemand für irgend etwas danken zu müssen glaubte; und sie hatte die Erfahrung gemacht, daß das einfache Mittel die gehoffte Wirkung selten oder nie verfehlte. Ebenso hatte sie sich einen halblauten Sprechton und ein diskretes Lachen angewöhnt, das eigentlich nur noch ein Lächeln war. Das letztere war ihr besonders schwer gefallen: sie lachte gern hell auf, und hier auf dem Schlosse gab es so unendlich viel Stoff zum Lachen. Im Grunde ihres Herzens lachte sie auch eigentlich über alles, nicht am wenigsten über sich selbst und die Komödie, die sie tagaus, tagein, vom Morgen bis zum Abend zu spielen hatte. Dabei kam es denn doch vor, daß sie gelegentlich aus der Rolle fiel, und das war ihr den Abend vorher begegnet. Über die heftigen Vorwürfe freilich, die ihr Armand auf der Nachhausefahrt gemacht: sie habe mit dem blonden Baron zu arg kokettiert, hatte sie sich nur amüsiert; anders verhielt es sich mit dem, was ihr Komtesse Sibylle, als sie vor dem Zubettgehen noch ein paar Minuten beisammen waren, liebevoll vorgehalten: daß sie zu ihrem Schulkameraden nicht freundlich genug, ja eigentlich recht unfreundlich gewesen sei. – Es ist doch offenbar ein so lieber, guter Junge, mit so treuherzigen, klugen Augen, hatte Sibylle gesagt. Ich würde viel darum geben, wenn der Papa ihm nicht für sein schönes Blasen Geld geboten hätte. Es ist das gar nicht hübsch von Papa gewesen, und ich habe mit dem armen Jungen gelitten, wie er so in seiner hilflosen Verlegenheit dastand und bald blaß und bald rot wurde.
Darüber hatte Isabel vor dem Einschlafen eine Viertelstunde sehr ernstlich nachgedacht und sich vorgenommen, die erste Gelegenheit zu benutzen, um die Dummheit, die sie begangen, wieder gut zu machen. Der nächste Morgen bereits hatte ihr diese Gelegenheit gebracht, vollständiger und günstiger, als sie sich hätte träumen lassen. Sie hatte für den gestern gekränkten Freund eintreten können und durfte sich gestehen, daß sie es klug und mutig gethan. Hinterher fragte sie sich sehr ernsthaft, ob sie, wäre es zum äußersten gekommen und hätte der Graf Justus' Vater weggejagt, ihre Drohung ausgeführt und auf der Stelle das Schloß verlassen haben würde?
Dasselbe Schloß, das sie schon längst als den ihrer einzig würdigen Aufenthaltsort anzusehen gelernt hatte. Die Menschen, die es bewohnten, nahm sie nur so mit in den Kauf; aber das Schloß hatte es ihr angethan. Sie meinte manchmal, es sei eigens für sie so schön mit seinen großen Prunksälen und behaglichen Gemächern, den breiten Terrassen und dem Teich, dem herrlichen Park mit seinen großen Rasenflächen, durch die sich die endlosen Wege schlängelten, auf denen es sich so behaglich fuhr und so herrlich ritt. Denn auch Reiten hatte sie bereits gelernt; vielmehr, sie hatte es kaum zu lernen brauchen, als ob sie zur Schulreiterin geboren sei, wie ihr der gräfliche Stallmeister, der ihr die ersten Lektionen gegeben, bewundernd sagte. Und der Graf hatte es bestätigt, der gar nicht mehr ausreiten wollte, ohne daß sie auf dem zierlichen Araber, den er ihr geschenkt, an seiner Seite galoppierte, und es sehr ungern sah, wenn andere Herren von der Partie waren. Besonders war ihm Armand unbequem, den er auf jede Weise fern zu halten suchte, zum wütenden Ärger Armands und zum größten Ergötzen Isabels, die in der Eifersucht zwischen Vater und Sohn eine hauptsächliche Quelle ihres Amüsements entdeckt hatte.
Seit der wunderlichen Scene im Parkzelte hatte diese Quelle noch eine besonders pikante Beimischung erhalten. Ohne daß die Nebenbuhlerschaft zwischen Vater und Sohn nachgelassen hätte, waren beide jetzt auch noch auf Justus eifersüchtig. Ihr mutiges Eintreten für den Jugendfreund hatte dem Grafen höchlich imponiert; er seinerseits war fest überzeugt, daß, hätte er nicht nachgegeben, es der letzte Tag ihres Aufenthaltes auf dem Schlosse gewesen sein würde. So mußte sie den Jungen also sehr lieb haben. Das war ärgerlich, aber auch insofern ergötzlich, als er damit Armand ärgern konnte, was er denn gründlich that, indem er zugleich mit dem Lobe Isabels auch das des Förstersohnes erschallen ließ, der sich in einer schwierigen Sache ebenso klug und diskret, wie kaltblütig und tapfer benommen habe, und den er jedem jungen Menschen zur Nacheiferung nur empfehlen könne. Ein paar Tage später auf einem Spazierritt durch die Wälder überraschte er Isabel, die allein an seiner Seite war, während ein Groom in diskreter Entfernung folgte, mit der Frage, was sie dazu meine, wenn er einen Gedanken, der ihm bereits an jenem Morgen gekommen sei, zur Ausführung brächte und Justus auf das Schloß nähme? Er hatte es ursprünglich nur gefragt, um zu sehen, welchen Eindruck es auf Isabel machen würde, und war entzückt, als sie ganz gelassen blieb und ruhig antwortete, es sei das eine Sache, die wohl überlegt sein wolle. – Gewiß sei es wohl zu überlegen, erwiderte der Graf; es spreche einiges dagegen, aber noch viel mehr dafür. – Und nun hatte er, als ob er es mit einer alten, erfahrenen Freundin zu thun habe, dem halben Kinde seine Ansichten entwickelt. Es müsse etwas geschehen, um Armand vorwärts zu bringen, der in unverantwortlicher Weise hinter seinen Altersgenossen zurückgeblieben sei. Bereits zweimal sei der Versuch, ihn in Begleitung Doktor Müllers auf ein Gymnasium zu bringen, gescheitert; das eine Mal habe man ihn nach ein paar Monaten, das letzte Mal sogar schon nach ebenso vielen Wochen wieder weggeschickt, um nicht zu sagen weggejagt. Dabei sei Armand keineswegs dumm, aber indolent, arrogant, hochmütig, enfin untraitabel. Seinetwegen möge er in Gottes Namen Offizier werden, wie er es sich in den Kopf gesetzt und es der heiße Wunsch der Gräfin sei, die bekanntlich alles wolle, was Armand wolle. Es sei das freilich eine große Thorheit, ja fast ein Verbrechen in Anbetracht der ungeheueren Verantwortlichkeit Tausenden von Menschen gegenüber, die Armand über kurz oder lang auf sich zu nehmen haben werde. Mit solcher Zukunft vor sich habe man die Pflicht, auf Schule und Universität etwas Ordentliches zu lernen, wie er selbst es sich seiner Zeit habe angelegen sein lassen. Darauf müsse man für Armand nun wohl verzichten. Indessen auch jemand, der Offizier werden wolle, müsse heutzutage einen ganz tüchtigen Schulsack getragen haben, bis er es zu den Epaulettes bringe, und wenn es mit Armand so fortgehe, sei es fraglich, ob er jemals sein Freiwilligen-Examen werde bestehen können. Es müsse durchaus etwas geschehen, und da habe er eben an Justus Arnold gedacht. Ein Jahr in der Gesellschaft und Kameradschaft eines so tüchtigen und intelligenten jungen Menschen werde Armand mehr fördern, als drei Jahre weiteren Privatunterrichts bei Doktor Müller. Doch werde er – der Graf – keinen Schritt in der Sache thun, bevor er versichert sei, daß sie Isabels Zustimmung habe. Sie möchte ihm den Gefallen erweisen und ihm ganz offen ihre Meinung sagen.
Isabel hätte darauf schwören mögen, daß die lange Rede mit dieser Frage schließen würde, und während sie auf dem tiefen Sandwege Schritt durch den Wald ritten, hatte sie Zeit genug gehabt, sich zu überlegen, was sie antworten solle. Schon längst, ehe der Graf zu Ende gesprochen, war sie sich darüber klar, daß die Klugheit gebiete, weder unbedingt zuzustimmen, noch entschieden abzuraten. Es sollte nicht aussehen, als ob sie ohne Justus nicht leben könne; ebensowenig durfte sie aus der Beschützerrolle fallen, die sie in den Augen des Grafen und der ganzen Familie dem alten Spielkameraden gegenüber angenommen. Daß er nicht in das Schloß passe und es, auch wenn er die Einladung annähme, nicht lange würde aushalten, stand bei ihr fest. Aber auf einen Versuch könnte man es ja ankommen lassen. Amüsant würde das Experiment jedenfalls sein. Schließlich: sie hatte Justus, so viel sie ihn auch schon gehänselt und weiter zu hänseln bereit war, entschieden lieb, viel lieber als alle die Menschen hier, und sie hatte ihn seitdem oft herbeigewünscht nicht bloß in Augenblicken, wo sie eine Aufgabe bei Miß Brown oder Mademoiselle Margot in Verlegenheit setzte, die er ihr im Handumdrehen gemacht haben würde.
Die Antwort, die sie nun gab, war das Resultat dieser schnellen und sicheren Überlegungen. Es sei so lieb von dem Herrn Grafen, sie um ihre Meinung zu fragen, als ob ihm ernstlich darum zu thun sein könne. Was solle sie sagen? Justus sei gewiß brav und bescheiden, aber auch ebenso stolz. Wenn sie recht gehört, habe ja der Herr Graf neulich ihm selbst angedeutet, daß er ihn auf dem Schlosse zu haben wünsche, und Justus ihn gebeten, davon abzustehen, allerdings wohl nur mit Rücksicht auf den Vater, der noch viel stolzer sei, als er. Auch sei es ihr fraglich, ob Armand und Justus sich vertragen würden. Überdies habe es Armand jeden Augenblick in der Hand, durch irgend eine ihm zugefügte Beleidigung Justus, wenn ihm derselbe unbequem sei, oder sobald er ihm unbequem werde, zu verjagen. Auch käme es doch wohl darauf an, wie sich die Frau Gräfin und Komtesse Sibylle zu der Sache stellten.
Mir kommt es darauf an, zu wissen, wie Sie sich dazu stellen, Fräulein Isabel, unterbrach sie der Graf, sein Pferd dicht an das ihre herandrängend und mit den grauen Augen, die einen gar sonderbaren Ausdruck annahmen, auf das holde Wunder zu seiner Seite herabblickend.
Ich kann mit ihm machen, was ich will, sagte Isabel bei sich und laut sagte sie:
Wie sollte ich wohl dem guten Justus ein Glück nicht gönnen, wie es mir hier zu teil geworden ist, wo Sie alle so lieb und gut zu mir sind!
Dann ist es abgemacht, rief der Graf und hielt ihr die Hand hin, nur um ihre kleine Hand in der seinen zu fühlen. Er war im Begriff, sich herabzubeugen und die kleine Hand an seine Lippen zu ziehen, als er noch zur rechten Zeit an den Groom dachte, der hinter ihnen ritt. So ließ er sie wieder los und sagte ärgerlich:
Wollen wir ein wenig galoppieren?
Wie Sie befehlen, Herr Graf.
Seit dieser Stunde hatte das seltsame Paar in treuer Bundesgenossenschaft den gemeinschaftlichen Plan weiter verfolgt. Dem Grafen war es nicht eben schwer geworden, die Gräfin von dem großen Vorteil zu überzeugen, den Justus' Gesellschaft für Armand haben werde. Doktor Müller, den man selbstverständlich sofort in das Vertrauen hatte ziehen müssen, war ganz begeistert von der Idee gewesen, deren Ausführung ihm sein schwieriges, kaum noch durchführbares Amt wesentlich erleichtern zu wollen schien. Sibylle und Armand zu gewinnen, hatte Isabel übernommen. Sibylle hatte sie nach den ersten Worten umarmt und gesagt: da sehe sie wieder einmal, daß ihre kluge Isabel auch eine gute Isabel sei, die für ihre Freunde das rechte Herz habe. Mit Armand war die Sache nicht so einfach gewesen. Sie hatte ihm einzureden gesucht, daß, wenn er auf Baron Schönau eifersüchtig sei, sie ihm doch keine bessere Garantie bieten könnte, als die Gegenwart von Justus, vor dem sie einen ungeheuren Respekt habe und unter dessen strengen Augen sie sich gewiß nichts Unrechtes zu schulden kommen lassen würde, was übrigens auch sonst nicht ihre Art sei.
Und sehen Sie, Armand, hatte sie weiter argumentiert, warum Ihr Herr Papa nicht will, daß wir auch nur den kleinsten Spazierritt oder Spaziergang im Park allein machen, weiß ich nicht; aber er will es doch nun einmal nicht, und wir können so kaum jemals, wie in diesem Augenblick, ein vertrauliches Wort miteinander reden. Das wird anders werden, wenn Justus hier ist: gegen eine Partie zu dreien wird Ihr Herr Papa nichts einzuwenden haben. Und wenn es auch ganz kindisch ist, daß Sie auf den Baron eifersüchtig sind, so könnte es doch einen Sinn haben, da er zehn Jahre älter ist als Sie und sein eigener Herr, der thun und lassen kann, was er will, meinetwegen um meine Hand anhalten, sobald ich das erste Mal eine Schleppe trage. Aber aus Justus eifersüchtig zu sein, das hätte keinen Sinn – auf Justus, der ein Jahr jünger als Sie und einen halben Kopf kleiner ist und völlig zufrieden, wenn ich ihm erlaube, Gedichte auf mich zu machen.
Armand war nicht ganz überzeugt. Was sie von dem Baron gesagt, dem die Gegenwart von Justus das Spiel verderben oder doch erschweren würde, hatte ihm eingeleuchtet; aber nicht ebenso, welcher Vorteil ihm selbst aus dieser Gegenwart erwachsen sollte. Er erklärte das ganz offen und mit einer Ironie, die Isabel innerlich imponierte, so daß sie schließlich ihr letztes Argument vorbringen mußte. Sie hob die halb gesenkten Lider, sah ihren Gegner mit einem vollen Blick ihrer braunen, glänzenden Augen an und sagte mit leiser Stimme nur das eine Wort: Armand!
Damit war der Sieg entschieden, jetzt, nach Armands Niederlage, auf der ganzen Linie, und die Aufforderung, in das Schloß überzusiedeln, hätte an Justus ergehen können. Der Graf, der sich die Sache einzig um Isabels willen angelegen sein ließ, als handele es sich um das Wohl und Wehe einer seiner Kohlengruben, war in großer Verlegenheit. Sollte er sich den renitenten Förster, oder Justus, oder beide kommen lassen? sollte er Doktor Müller als Vermittler hinschicken? oder gar selber schreiben? Schließlich war es wieder Isabel, die den Ausschlag gab.
Herr Graf, sagte sie, wenn ich mir einen Rat erlauben darf, unterlassen Sie das alles. Ich bin überzeugt, daß es so nicht geht; Justus ist so scheu wie ein Vogel. Ich meine, er muß erst einmal hier gewesen sein und gesehen haben, wie gütig der Herr Graf ist und die Frau Gräfin und alle. Ich habe ihn neulich, ohne Ihre Erlaubnis abzuwarten, gebeten, mir zu meinem Namenstage zu gratulieren, wie er es bis jetzt immer gethan hat. Komtesse Sibylle wünscht ja, an dem Tage ein kleines Fest zu geben, wenn ich es auch nicht verdiene. Wollten nun der Herr Graf die Güte haben, ihn in Ihrem und der Frau Gräfin Namen einzuladen, so bin ich gewiß, daß er kommt, und dann meine ich, wird sich alles andere von selbst machen.
Sie sind die klügste kleine – Fee, sagte der Graf. Er hatte Hexe sagen wollen, sich aber noch im letzten Moment verbessert.
Isabel lächelte ihr diskretes Lächeln. Justus hatte sie seine Fee genannt, der bescheidene Junge mit den blauen, schwärmerischen Augen; nun nannte sie auch der vornehme Herr Graf so; und als er es sagte, hatten seine grauen Augen wieder den Ausdruck gehabt, der sie belustigte und doch ein wenig bänglich stimmte. Wenn sie keine Fee war, mußte sie doch wohl etwas von einer Fee haben.
So überbrachte denn der Diener an Justus die mündliche Einladung, und gestern hatte sie ihm zur größeren Sicherheit das Briefchen geschrieben, in welchem sie ihn mit ihrer Ungnade bedrohte, wenn er nicht käme.
Aber sie war überzeugt, daß er kommen würde. Man zieht sich nicht leicht die Ungnade von Feen zu, mag man nun ein reicher Graf oder ein armer Försterjunge sein.