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Durch den Wald schlenderte lässig ein schlanker Knabe. Die Sommersonne hatte nur noch zwei Stunden zur Mittagshöhe; aber da, wo der Knabe eben hinstrich, ragten die Tannen so gewaltig, daß nur hier und da ein rötlicher Strahl durch das breite Geäst bis zum Boden kam, in dessen dickem Moosteppich noch die Tropfen vom Nachttau glitzerten. In dem weiten Revier kein Laut als das ununterbrochene Summen der Schlupfwespen und dann und wann ein feierlich dumpfes Rauschen des Windes in den höchsten Wipfeln, oder das Knacken eines trockenen Zweigleins unter den Füßen des Wandernden. Auch die Rehe, die ein paarmal mitten auf dem Wege standen, machten kein Geräusch, wenn sie bei seiner Annäherung mit einem Satze über den Graben an der Seite im Dickicht verschwanden; und der Knabe fuhr ein wenig zusammen, als jetzt dicht neben ihm in dem Unterholz ein schnaufendes Grunzen erschallte und aus dem Gestrüpp der dicke Kopf eines Wildschweins ragte. Aber das Tier war erschrockener als er selber, und er hörte es alsbald eilig durch die Büsche brechen, sah auch noch ein paar von dem Wurf, die eiligst der Mutter nachgaloppierten. Er wunderte sich, wie das Tier hierher kam. Es war offenbar aus dem Saupark ausgebrochen, dessen Entfernung von dieser Stelle doch eine gute Stunde Weges betrug. Er wollte nicht vergessen, es dem Vater zu melden, sobald er nach Hause kam. Wenn ein anderer Förster die Entdeckung machte und es dem Herrn Grafen hinterbrachte, bekam der Vater Schelte. Ja, wer weiß? vielleicht verlor er darüber seine Stelle. Dem Vater würde wenig daran gelegen sein, aber die gute Mutter! Sie war schon jetzt immer so traurig. Und dann? dann würde es kommen wie damals, als sie aus der thüringischen Försterei wegziehen mußten bis hierher in das halb polnische Land, hart an der russischen Grenze.
Früher hatte er ein paar Namen der Orte gewußt, wo sie Halt gemacht auf dem endlosen Wege, oft nur für einige Tage, manchmal nur für eine Nacht. Jetzt hatte er die Namen vergessen. Nur die schrecklichen Wirtshäuser, die hatte er nicht vergessen. Da hatte der Vater unten in dem Qualm und Lärm der Wirtsstube gesessen, und die Mutter und er hatten oben in der Dachkammer, durch deren Wände der Winterwind pfiff, gehockt und gefroren und gewartet, bis der Vater –
Der Knabe stand still, holte ein paarmal tief Atem und strich sich mit der Hand über die Stirn, von der er die Mütze abgenommen.
Aber die Erinnerung an die schlimmste Zeit seines jungen Lebens währte nicht lange; dann hatte ihn wieder der Wald in seinen Zauber eingesponnen. Das war alles so wie in seinen Märchenbüchern, nur viel schöner. Er wunderte sich, wie er früher – es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, aber es mochte kaum ein oder zwei Jahre her sein – die Bilder in den Büchern hatte bewundern können: die dicken, gelben Sonnenstrahlen, das Graf, das so lächerlich grün war, die Bäume, die nirgends im Walde wuchsen, und die Menschen und die Tiere – o! er wußte jetzt besser, wie Menschen und Tiere aussehen. Und die Hexen,– pah! es gab keine, wenn die dummen Leute im Dorf auch noch daran glaubten, und die alte Kubitzka wirklich wie eine richtige Hexe aussah mit den triefenden roten Augen unter dem zottigen, grauen Haar. Freilich, wenn es keine Hexen gab, gab es auch keine Feen. Das war schade. Feen thun so viel Gutes an armen, verlassenen Jungen, die sich im Walde verirrt haben, oder sonst in Not sind. Und dann sind Feen so schön! Sie haben wundervolles Haar, das, wenn sie es aufmachen, wie ein Mantel um ihre Schultern fällt und in der Sonne wie eitel Gold glänzt. Und große braune Augen, in denen man manchmal sein eigen Gesicht ganz klein, aber ganz deutlich wie in einem Spiegel sieht; und so kleine zierliche Füßchen und Händchen, wie – Isabel.
Über des Knaben ernstes Gesicht flog ein Lächeln. Ja, wahrhaftig: wie Isabel! Wenn es jemals Feen gegeben hat, oder geben könnte, so müßten sie wie Isabel aussehen. Wie schade, daß sie heute wieder einmal aufs Schloß gemußt! Konnte denn die Komtesse nicht ohne Isabel sein? Sie hatte doch einen Bruder, und er – er hatte niemand, mit ihm durch den Wald zu laufen, als Isabel. Gerade heute, am Sonntag. Nun würde sie wieder bis zum Abend im Schlosse bleiben und vornehm auf der Chaussee zurückgefahren kommen, während es doch zu Fuß durch den Park und hier durch den Wald ebenso nahe war. Freilich die gestrenge Muhme Anna würde ja auf alle Fälle bei ihr sein, und da war es doch das rechte Vergnügen nicht, das erst anfing, wenn er und sie allein waren im Walde. Oder in der Schulstube! Ihre Arbeiten zu morgen hatte sie gewiß nicht gemacht. Nun, er würde sie ihr machen – wie gewöhnlich. Und morgen war Montag. Da hatte es keine Not: Montags kam der Herr Pfarrer immer ein bißchen spät aus dem Bett – manchmal auch gar nicht. Wie sollte das werden, wenn er zu Michaelis in die Stadtschule müßte? Wer würde da Isabel die Arbeiten machen?
Der Knabe hatte sich so tief in diese Gedanken eingesponnen, daß er verwundert aufblickte, als er plötzlich am Rande des Hochwaldes stand. Ein breiter, mit zerstampften Kohlenresten trocken und glatt gemachter Fahrweg führte hier durch den Wald zu dem Saupark und den Hirschgehegen – nur für den Herrn Grafen und seine Gäste. Jenseits des Weges war ein mächtiges Viereck zwanzigjähriger Tannen, von dem schon über ein Drittel abgeholzt war. Was noch stand, würde bald denselben Weg gehen, da geradeaus in die Cellulosefabrik, deren mächtiger Schornstein trotzig mitten in der breiten Schneise stand, noch immer hoch aufragend, obgleich es ein paar tausend Schritte bis dahin war. Die Stätte sah wüst aus. An einzelnen Stellen hatte man bereits angefangen, die Wurzeln der geschlagenen Bäume auszuroden. Das Erdreich, das ihnen Schutz und Nahrung gewährt, war aufgewühlt und sie streckten nun die entblößten, wirren Fasern kläglich in die heiße, trockene Luft. Wo die Stumpfe noch standen, war es nicht besser. Jeder Stumpf war eine schlanke, kerzengerade Tanne gewesen, wie die da hinten ragten, des Todes harrend. Bis zum Herbst würde der ganze Schlag abgeholzt sein, hatte der Vater gesagt und fürchterlich auf die Fabrik geschimpft. Er schimpfte freilich auf alles; aber mit der Fabrik hatte er recht. Die war schlimmer als die schlimmsten Ogre Von der vierten Auflage (1897) an: »Oger«. - Anm.d.Hrsg in den Märchen, mit ihrem ewigen Gepfauche; immer her! immer her! ich fresse euch alle; ich fresse den ganzen Wald. Immer her! immer her!
Und da war der Knabe, der vorhin so vornehm über die kindischen Bilder in den Märchenbüchern gelacht hatte, im besten Märchendichten. Die Fabrik war das Schloß, in dem der böse alte Zauberer hauste, der vom Morgen bis zum Abend schnaufend und keuchend Tannen fraß zum Ärger des jungen Prinzen, dem der Wald gehörte, und der den Wald so liebte, weil am Tag die Sonne so schön darin schien und des Nachts im Mondenschein auf den Wiesen die Feen tanzten. Von denen aber war die eine – die Prinzessin mit den goldenen Haaren und braunen Augen – seine Braut. Die konnte nur im Walde leben, und wenn der Ogre den Wald auffraß, mußte sie jämmerlich sterben. Und daß dann auch er vor Gram und Herzeleid sterben würde, wußte er nur zu gut. Da blieb ihm keine Wahl. Er mußte sich den Weg in das Schloß bahnen und den Ogre töten. Das war aber ein schweres Stück. Denn –
Und weiter und weiter phantasierte der blasse Knabe sich immer tiefer in seinen Märchentraum spinnend, in dem alles greifbare Gestalt anzunehmen schien: der Ogre und der Prinz und die Fee, besonders die letztere, was freilich kein Wunder war, da er bei ihr nur immer an Isabel dachte. Daß er währenddessen die Halde mit den Baumstumpfen überschritten hatte und längst auf der anderen Seite, wo wieder der Hochwald ragte, am Fuße einer hundertjährigen Riesentanne im dichten Moose lag – er wußte es nicht. Er wußte nur, daß der Prinz im Walde zu der Fee betete, sie möge ihm ausnahmsweise bei Tage erscheinen, denn er könne nicht bis zum Abend und Mondenschein warten. Und er müsse ihr doch sagen, daß, wenn er bei dem Sturm auf die Burg sterben sollte, er für sie gestorben und sie sein letzter Gedanke gewesen sei. Aber, wie sehnend der Prinz auch die Arme breitete, und wie heiß er auch flehte und die Schöne mit den süßesten Schmeichelnamen rief, sie wollte nicht erscheinen, trotzdem er wußte, daß sie jedes seiner Worte hörte, gerade wie er ihr mutwilliges, leises Kichern. Und plötzlich hatten sich zwei weiche Händchen über seine Augen gelegt, und eine süße, wohlbekannte Stimme fragte neckisch: wer bin ich?