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Justus durfte sich nicht wundern, daß Marthe von der Einladung wußte, die bereits vor acht Tagen ein gräflicher Diener offiziell überbracht und an die ihn Isabel durch ihr Briefchen nur noch einmal erinnert hatte. Der Diener hatte, seiner Instruktion gemäß, »dem jungen Herrn« die Einladung persönlich auszurichten, ihn, da er bei dem Pfarrer in der Stunde war, in der Pfarrei aufgesucht; so war denn das ganze Dorf in das Geheimnis gezogen. Nur daß Marthe ihm mit solcher Entschiedenheit geraten, ja befohlen, nicht zu gehen, machte ihn stutzig. Was konnte es ihr sein, ob er ging, oder nicht? Und wie sonderbar sie ihn, als sie sagte: thu's nicht! angeblickt hatte! ordentlich zornig!
Ein Lächeln flog über das Gesicht des Knaben. In seiner blinden Liebe für Isabel hatte er sich niemals sonderlich um die Marthe gekümmert, wenn ihr beiderseitiges Verhältnis auch immer ein freundlich-kameradschaftliches gewesen war. Und nie im Traum war es ihm eingefallen, sich zu fragen, ob sie ihn gern habe? Nicht wie er Isabel gern hatte! Das war ja ausgeschlossen; aber ihn anders ansehe, wie die anderen Knaben? Jetzt kam ihm doch der Gedanke. Welchen Grund hätte sie sonst gehabt, ihm den Besuch zu verbieten? Und plötzlich stand der Entschluß bei ihm fest, den Besuch zu machen. Er mußte der Marthe zeigen, daß er sich nicht vor Isabel fürchte; daß er sich überhaupt nicht fürchte, so wenig wie der Jägerbursch in seinem Märchen. Nur ganz flüchtig erinnerte er sich seines Einfalles, auch Marthe eine Stelle in der Geschichte zuzuteilen: die des guten, braven Mädchens, das auf seiten des Jägerburschen stand. Das war ein dummer Einfall gewesen: sie gehörte nicht in ein Märchen. Wie würde Isabel lachen, wenn er ihr das erzählte! Überhaupt ohne Isabel wollte es mit dem Dichten gar nicht mehr recht von der Stelle. Es war wirklich die höchste Zeit, daß er sie wieder sah. Und in dem neuen Anzuge, den der Vater in der Stadt hatte für ihn machen lassen, würde er hoffentlich nicht so sehr von den jungen adligen Herrchen abstechen, wie neulich abends im Walde in seinem abgeschabten grünen Rock, welchen die Mutter aus einem alten Jagdrock des Vaters zurechtgeschneidert.
Eine heftige Armschwenkung des Aufgeregten wäre beinahe dem Eßtopfe im Korbe verhängnisvoll geworden. Er schritt nun ruhiger, wenn auch nicht weniger eilig weiter und hatte bald den Platz erreicht.
Es war derselbe, an welchem er damals an dem Sonntagmorgen sein Ogremärchen begonnen, aber der Ogre hatte seitdem beinahe den ganzen Bestand aufgefressen: nur in der Ecke des ungeheuren Vierecks ragten noch ein paar hundert der jungen Stämme. Der Platz sah infolgedessen noch viel wüster aus als damals, fast wie ein Kirchhof oder Schlachtfeld: mit den vielen Sandhaufen, die, ausgetrocknet, in der glühenden Mittagssonne weißlich schimmerten, und den aufgewühlten Wurzeln, die ihre verkrüppelten Arme hilflos in die Luft streckten, als wollten sie dem Himmel klagen, wie grausam die Menschen mit ihnen umgegangen. In dem Schatten der Hochtannen, welche an das Viereck grenzten, saßen ein paar Dutzend Arbeiter, die Eßkörbe zwischen den Knien. Es waren Leute aus einem entfernteren Dorf, die sich ihr Mittagbrot mitgebracht hatten. Ein paar waren bereits damit fertig und hatten sich, die Jacke unter dem Kopf, in das Moos gestreckt – ältere, jüngere Männer durcheinander, alle bettelhaft in der Kleidung und verkümmert in dem Ausdruck der müden, sonnverbrannten und doch kraftlosen, unverkennbar polnischen Physiognomien. Ein wenig von diesen Gruppen entfernt stand mit untergeschlagenen Armen ein hochgewachsener Mann, dem nicht sowohl die Last der Jahre, obgleich er wohl fünfzig zählen mochte, als die harte Arbeit die breiten Schultern etwas nach vorn gekrümmt hatte. Sein dichtes kurzes, dunkles Haar, von dem er eben, sich die Stirn zu wischen, die Mütze abgenommen, war stark mit Grau gemischt, ebenso wie der Bart, der, Mund und Kinn freilassend, das Gesicht einrahmte. Das massive Kinn und der Mund mit den festgeschlossenen Lippen gaben dem Gesicht etwas Strenges, ja Hartes, ein Ausdruck, der noch durch den festen Blick der grauen Augen unter den schweren buschigen schwarzen Brauen vermehrt wurde. Es war Christian Anders, Marthes Vater. Auch ein Fremder würde die beiden an der Ähnlichkeit leicht als Vater und Tochter erkannt haben; Justus, wie er den Mann so halb im Sonnenlicht, halb im Schatten sah, fiel es zum erstenmale auf, als hätte er ihn noch nie gesehen. Dennoch bestand zwischen den beiden ein gutes Verhältnis, wie wenig auch sein Vater den alten Pedanten, wie er ihn nannte, leiden mochte, und umgekehrt der alte Pedant den prahlsüchtigen, leichtlebigen Förster.
So erhellte denn auch, als Justus jetzt grüßend herantrat, ein freundliches Lächeln das strenge Gesicht. Justus sagte in kurzen Worten, wie er zu dem Eßkorbe gekommen, und wollte bereits wieder gehen, als Anders, der sich am Fuße der Riesentanne – derselben, unter der Justus an jenem Morgen mit Isabel gesessen – in das Moos niedergelassen und in dem Eßkorb zu kramen begonnen hatte – zu ihm sagte:
Wenn Du's nicht eilig hast, wäre ich Dir dankbar, wolltest Du mir ein wenig Gesellschaft leisten. Du weißt, ich plaudre gern mit Dir, und wir haben einander so lange nicht gesprochen.
Gern, sagte Justus, wir essen erst in einer Stunde.
So setz Dich zu mir!
Justus that es; indessen schien es vorläufig mit dem Plaudern nicht recht aus der Stelle zu wollen. Nur Justus sprach von dem, wovon ihm das Herz voll war: dem Besuche, den er morgen auf dem Schlosse machen wollte, und daß Marthe ihm geraten, er solle nicht gehen. Anders, nur hier und da ein Wort dazwischenwerfend, verzehrte indessen bedächtig die Kartoffelsuppe mit dem Stück Speck, wischte sorgsam den Löffel und das Messer ab, legte alles samt dem Knubben Brot, von dem er nur ein paar Brocken gegessen, in den Korb, lehnte sich an den Stamm des Baumes zurück und sagte:
Marthe trifft sonst immer den Nagel auf den Kopf; diesmal hat sie nicht recht. Bei denen da im Schloß ist es freilich nur so eine Laune, wenn sie Dich kommen lassen: sie wollen sich einmal das fremde Tier ansehen; thun's auch wohl nur Isabel zu Gefallen, die wieder mit ihrem alten Schulkameraden Komödie spielen will. Aber für Dich, der Du ein Studierter werden sollst, ist es ganz recht, daß Du vorläufig einmal einen Blick in die Welt wirfst, mit der Du später auf Tod und Leben wirst kämpfen müssen.
Justus verwunderte sich nicht über diese Rede und die gewählte Sprache. Er wußte, daß Anders jede freie Stunde benutzte, um in demokratischen Schriften und Zeitungen, die er sich – der Himmel mochte wissen wie – verschaffte, zu studieren. Auch war es nicht das erste Mal, daß ihr Gespräch eine solche Wendung genommen; und wie sonderbar ihm auch manchmal die Rede des Mannes schien, er hatte ihm immer gern zugehört und auch meistens recht geben müssen. In seiner augenblicklichen aristokratischen Stimmung fühlte er sich aber zum Widerspruch geneigt und so sagte er:
Warum auf Tod und Leben kämpfen? Die vornehmen Leute sind doch auch unsere Brüder.
O ja, erwiderte Anders, sie könnten, oder sollten es sein; sind es aber leider nicht. Gehe morgen hin und nenne den jungen Herrn Grafen Bruder! Du wirst ja sehen, was er Dir antwortet.
Aber die Komtesse Sibylle nennt Isabel Schwester.
Thut sie das? Nun, sie sagen ja, sie sei ein besonders liebes und gutes Mädchen. Da mag's wohl sein – so lange es dauert. Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und um eines Gerechten willen können Sodom und Gomorrha nicht gerettet werden.
Sind wir denn besser?
Nicht um ein Haar. Nur siehst Du, so arme und elende Menschen, wie die da, die können nicht gut sein. Sie gehen an ihrer Armut und Elendigkeit moralisch und physisch zu Grunde.
Vielleicht gerade wie die Reichen an ihrem Reichtum.
Da sprichst Du ein wahres Wort. Und siehst Du, das ist der Grund, weshalb es auf der Welt nicht eher besser wird, als bis es keine Armen mehr giebt und keine Reichen.
Die wird es immer geben.
Wer sagt das?
Es hat wenigstens immer welche gegeben.
Es hat in diesen Wäldern auch immer Wölfe und Bären gegeben, welche die Rehe und die Schafe fraßen, und doch giebt es jetzt keine mehr. Nein, Justus, weil die Welt immer schlecht gewesen ist und noch ist, braucht sie nicht in alle Ewigkeit schlecht zu bleiben. Und es ist auch schon besser geworden in der Welt und wird immer besser werden, es müssen nur noch viel, viel mehr Bäume da in die Fabrik wandern.
Er wies mit der Hand die Schneise hinab, an deren Ende der hohe Fabrikschornstein eben dicke schwarze Wolken in die Luft sandte. Justus blickte den älteren Freund verwundert an.
Und ich möchte, sagte er, daß jeder Baum hier im Walde bliebe und groß und stark würde, und die Vögel in seinen Zweigen Nester bauten, und Morgen- und Abendsonne die Kronen vergoldeten und purpurn färbten. Das ist doch schöner als die Wüste hier, an der wahrlich nur der alte Ogre seine Freude haben kann.
Was ist es mit dem alten Ogre, Justus?
Ach, das ist so ein Märchen, das ich mir ausgedacht habe.
Willst Du es mir erzählen? ich höre gern Märchen.
Es ist noch nicht ganz fertig, sagte Justus halb bescheiden, halb mit dem prickelnden Verlangen des Poeten, sein Werk an den Mann zu bringen.
So erzähl' es, soweit es fertig ist! Vielleicht findest Du dabei den Schluß.
Und Justus erzählte sein Märchen bis dahin, wo der Falk die Korrespondenz zwischen der gefangenen Fee und ihrem geliebten Jägerburschen vermittelt. Da plötzlich sagte Anders, der so eifrig zugehört hatte, als lauschte er der Rede eines beliebten socialdemokratischen Reisepredigers:
Ich glaube, Justus, zu der Zeit schrieben sich die jungen Leute noch keine Briefe, wenigstens nicht auf Papier, denn es gab dazumal noch keines.
Ich habe schon daran gedacht, sagte Justus, überdies können Feen nicht schreiben, wenn sie auch Papier hätten.
Ja, wie machen wir es aber? sagte Anders, nachdenklich vor sich niederblickend. Und als Justus keine Antwort fand: Nun, das schadet nichts. Du wirst es schon herausbringen. Das Märchen hat mir sehr gefallen – sehr. Und was das Papier betrifft, das erinnert mich an das, was ich vorhin sagen wollte. Siehst Du, Justus, mit dem Papier ist das Märchen zu Ende, und, bis es Papier gab, hat die Welt eigentlich nur von Märchen gelebt. Freilich hat's in der alten Welt Stein und Erz gegeben, auf die man schrieb, und später Leder und Pergament und dergleichen. Aber gegen das Papier kommt alles nicht auf; das ist im Vergleich mit dem anderen was die Dampfkraft im Vergleich zur Menschenkraft. Mit dem Papier fängt die neue Zeit an. Und du weißt doch, Justus, was wir aus den Bäumen machen, die wir hier niederschlagen und zerschneiden und da in die Fabrik fahren, wo sie zermahlen und zerstampft werden, bis sie Brei sind? Zuerst graue Pappe und dann Papier, mein Junge, schönes weißes Papier, das hinausgeht in die Welt in großen Ballen und zurückkommt als kleines Buch, oder Zeitung, in jedes Haus, in jede Hütte, sei sie noch so armselig. Und wenn es aufhören soll, in der Hütte armselig zu sein, und aus der Hütte ein Haus werden, in dem reinliche, fleißige, gute Menschen friedlich nebeneinander leben – die Bäume haben's gemacht, Justus, die Bäume, die zu bedrucktem Papier wurden. So frißt Dein alter greulicher Ogre sich selbst den Tod an dem Walde, aus dem er die Fee vertreiben will. – Und nun, geh nach Haus; unsere Mittagspause ist um. Mit dem Korbe sollst Du Dich nicht weiter schleppen, den nehme ich schon hernach selbst mit. Und ich danke Dir auch recht schön für Deine Freundlichkeit und für Dein Märchen.
Ihres war viel schöner, sagte der Knabe mit strahlenden Augen.
Das war kein Märchen, mein Junge, das war die pure nackte Wahrheit.
Von der Fabrik her erhob das Dampfhorn seine häßliche, durch den Wald dröhnende Stimme. Die Leute unter den Tannen richteten sich verdrossen auf; Anders hatte sich bereits zu ihnen gewandt, nachdem er Justus kräftig die Hand geschüttelt; Justus machte sich auf den kurzen Heimweg. Ein neues ungeahntes Licht war in seine Seele gefallen. Es hatte ihn im ersten Augenblicke ganz geblendet; plötzlich war's, als zöge eine dunkle Wolke über das blendende Licht. Sein Schritt verlangsamte sich. Das war so groß, daß all die Bäume zu Papier wurden, und das Papier zu Büchern und Zeitungen, die in die niedrigsten Hütten kamen, und die armen Leute, die da wohnten, frei und glücklich machten! Aber wenn der Ogre sich selbst vernichtete, indem er den Wald vernichtete, so gab es doch keinen Wald mehr; und was wurde aus der Fee, die nur im Walde leben konnte? Die mußte dann ja sterben. Und ihr treuer Jägerbursch mochte nur gleich mit sterben. Was war ihm das Leben ohne seine Fee?
Und nun überkam ihn ein unbeschreibliches Verlangen nach seiner Fee. Er konnte nicht begreifen, wie er auch nur einen Moment hatte schwanken können, ob er morgen auf das Schloß gehen solle oder nicht. Er wünschte heiß, daß es schon morgen wäre.