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Es war nun doch gekommen, wie Justus es vorausgesehen: die Fee war aus ihrem Walde zu dem Ogre in das Schloß gegangen. Bereits am Montag Nachmittag hatte man sie geholt: die junge Komtesse Sibylle mit der neuen englischen Gouvernante in einem schönen, offenen kleinen Wagen. Für Isabels Köfferchen, das Muhme Anna längst in Bereitschaft gehalten, war kein Platz gewesen; die kleine Komtesse hatte gemeint, es sei auch nicht nötig; die Gräfin Mama habe gesagt, es werde für alles gesorgt werden. Komtesse Sibylle habe Isabel wiederholt geküßt; sie sei so glücklich, daß sie nun eine Schwester habe.
Das alles erfuhr Justus durch seine Mutter, der es wieder Muhme Anna erzählt hatte. Die Abreise war so eilig vor sich gegangen; Isabel selbst konnte am Vormittag noch nichts gewußt haben, denn sie hatte nichts während der Unterrichtsstunden gesagt. Auch Pastor Szonsalla hatte keinerlei Andeutungen gemacht, obgleich er doch sonst nicht leicht etwas auf dem Herzen behielt. Er war freilich sehr still und zerstreut gewesen und hatte ganz rote Augen gehabt; aber das war nichts Seltenes bei ihm, besonders an den Montagen.
Dem mochte nun sein, wie ihm wollte: Isabel kam sicher an einem der nächsten Tage, um das am Abreisetage Versäumte nachzuholen und der Mama und ihm lebewohl zu sagen. Aber es verging ein Tag nach dem anderen; es vergingen eine, zwei Wochen, und keine Isabel kam. Auch keinerlei Nachricht aus dem Schloß. Seltsamerweise hatte Muhme Anna dort während der ganzen Zeit keinen einzigen Besuch abgestattet; Justus und selbst seine Mutter wußten nicht, daß die Frau Gräfin sich diesen Besuch ein für allemal verbeten. Der Pastor war allerdings einmal drüben gewesen; aber er war, seit Isabel ihn verlassen, ganz schwermütig und gegen seine Gewohnheit schweigsam geworden. Dafür trank er mehr als je; und erklärte schließlich, er sei krank. Er war es auch wohl; und Justus, dem er nur noch dann und wann eine Stunde gab, hatte vollauf Zeit, seinem Kummer nachzuhängen.
Es war nicht der erste Kummer seines Lebens; er hatte schon so oft mit der Mutter und noch viel öfter über die Mutter hinter ihrem Rücken heiße Thränen geweint, wenn der Vater wieder einmal besonders häßlich gegen sie gewesen war. Aber dann hatte er doch immer gewußt, warum er weinte. Wenn er jetzt in den Wald gelaufen war und an einer einsamen Stelle zusammensank, wie ein waidwundes Wild, und in Thränen ausbrach, als müsse er sich tot weinen, wußte er es nicht. Isabels mögliche, wahrscheinliche, endlich gewisse Übersiedelung nach dem Schlosse war schon seit einem Vierteljahr stehender Gesprächsstoff zwischen der Mutter und ihm, ja, zwischen ihm und Isabel selbst gewesen. An den Ernst ihrer Weigerung, die Einladung in das Schloß anzunehmen, hatte er nie so recht geglaubt; und daß sie ihm nicht lebewohl gesagt, hatte gewiß an der Eile gelegen, mit der man sie fortgeholt; und wenn sie jetzt nicht kam, so konnte sie gewiß nicht, wie sie wollte. Das war alles so weit völlig in der Ordnung, und er hatte keinen Grund zu weinen und würde auch gewiß nicht geweint haben, wenn er sich ihr Bild deutlich hätte vorstellen können. Früher hatte er nie das Bedürfnis gehabt. Weshalb auch: er sah sie ja jeden Tag, sie waren oft halbe Tage lang beisammen. Jetzt wäre es ihm ein solcher Trost gewesen, hätte er sie im Geist gesehen; aber er mochte die Augen schließen, so lange er wollte: wo ihr süßes Gesicht erscheinen sollte, blieb es dunkel und leer. Dabei war es sonderbar, daß er jeden anderen Menschen ganz deutlich sah, wenn er die Augen schloß: nicht bloß die, mit denen er täglich verkehrte, sondern Leute, die ihn gar nichts angingen, und die er wochenlang nicht gesehen, ja vielleicht vor Monaten einmal und nicht wieder. Nun wollte er sich wenigstens den Klang ihrer Stimme und ihres Lachens zurückrufen; auch das vermochte er nicht. Er wußte es sich nicht zu erklären und hätte gern die Mutter gefragt. Wenn er ihr auch sonst alles sagte, das konnte er ihr nicht sagen. Er wußte wieder nicht warum. Er konnte es eben nicht.
Aber auch nicht die Sehnsucht nach ihr bannen, und die hatte ihn dann zu einem Schritt getrieben, dessen er sich nachträglich schämte, und der auch ganz vergeblich gewesen war. Eines Nachmittages war er durch den Wald bis an den Rand des gräflichen Parks geschlichen. Es war das ein Weg von fast einer Stunde, den er oft und oft mit Isabel gemacht. Die Wahrscheinlichkeit, sie auf diese Weise zu sehen, war freilich sehr gering. Der Park mit seinen großen Grasflächen, die nur hier und da mit neu angelegten Bosketts oder Gruppen alter hochstämmiger Bäume besetzt waren, dehnte sich vom Waldrand noch eine Viertelstunde bis zum Schloß. Das lag aber zwischen Busch und Baum so eingebettet, – man sah nur das oberste Ende eines der stumpfen Ecktürme und des Mittelbaues mit seiner seidenen Fahne. Die Möglichkeit, daß sie mit der jungen Gräfin auf den Parkwegen spazieren ging oder fuhr, war ja doch da, und darauf hin hatte er es gewagt. Was war da zu wagen? Wenn sie hier auf dem Parkwege, der dann zum Waldweg wurde, an ihm vorbeigekommen wären, es hätte ihn kein Auge entdecken können: er brauchte sich nur zu ducken, oder einen Schritt in die Büsche zurückzutreten. Aber es kam niemand; in dem ganzen Revier, das er doch so weit überblicken konnte, blieb es still und leer. Nur als die Sonne tiefer sank, traten ein paar Rehe aus dem nächsten Boskett auf die Wiesenfläche, und ein paar Hasen liefen über die Wege. Dann singen die Kronen der Bäume an im Abendrot zu glühen; oben im Turm funkelte ein Fenster, und über die Wiesenflächen ergossen sich rötliche Lichter. Eine Amsel sang aus dem Walde. Das klang so süß und so traurig, als wollte sie den armen Jungen trösten, der da mit klopfendem Herzen auf seine Fee nun schon zwei Stunden lang vergeblich wartete, bis er die Hoffnung aufgeben mußte und durch den dunkeln Wald traurig nach Hause schlich.
Heute saß er wieder im dunkeln Walde, mit einem Schimmer von Hoffnung diesmal, er werde sie nun doch endlich wieder sehen. Für den Abend war die gräfliche Familie mit ihren Gästen angesagt, um der Fütterung des Schwarzwildes beizuwohnen. Mochte Isabel nun zu der gräflichen Familie oder zu den Gästen gerechnet werden, so oder so mußte sie, konnte sie wenigstens von der Gesellschaft sein. Das hatte ihn denn auch einigermaßen mit der Rolle ausgesöhnt, die er bei der sonderbaren Festivität zu spielen hatte, und die ihm sonst unleidlich erschienen wäre. Er würde ohne sie keine Möglichkeit gehabt haben, auf dem Plane zu erscheinen.
Die Rolle aber bestand darin, daß er im Dickicht, ein paar hundert Schritte von dem Fütterungsplatze entfernt, der Gesellschaft ein paar Stücke auf dem Waldhorn blasen sollte. Es waren nur zwei: »Wer hat dich, du schöner Wald« und »O, Thäler weit, o Höhen«. Zu mehr und weiter hatte er es nicht gebracht, und er hatte viele väterliche Donnerwetter über sein Haupt ergehen lassen und manche Thräne herunterschlucken müssen, bis er es so weit gebracht. Die Mutter hatte ihm in seinem Jammer nicht helfen können, da sie nicht eben musikalisch war im Gegensatz zu dem Vater, der sich mit Recht ein Meister auf dem Waldhorn zu sein rühmte und auf dem alten Klavier im Pastorhause stundenlang über alle möglichen Melodien Variationen spielen und phantasieren konnte, ohne je einen Lehrer gehabt zu haben. Und der Junge hatte den besten Lehrer – ihn selbst, ihn, der der größte Musiker aller Zeiten geworden wäre, nur daß er überall und immer vom Unglück verfolgt war, jetzt noch von dem, eine Frau zu haben, die eine Trompete nicht von einer Klarinette unterscheiden könne, und einen Jungen, mit dem es darin nicht viel besser stand! Er hatte dann auch, zu des Jungen größter Freude, den qualvollen Unterricht aufgegeben; aber Isabel dafür gesorgt, daß die beiden Kabinettsstücke von Zeit zu Zeit wiederholt wurden und Justus im Gedächtnis und in den Fingern blieben. Denn sie hatte sie sich von ihm manchmal im Walde vorblasen lassen und immer darauf gehalten, daß er ganz rein blies, weil ein falscher Ton ihr empfindliches Ohr sehr beleidigte. Und wenn er seine Sache zu ihrer Zufriedenheit gemacht, war er auch wohl mit einem Kusse belohnt worden.
Daran dachte er jetzt, während er nun bereits über eine Stunde im Dickicht saß und des Augenblicks harrte, wo ihm der Vater vom Fütterungsplatze auf das verabredete Hornsignal geben würde. Vom Platze selbst hatte ihn der Vater weggeschickt, als eben der erste Wagen aus dem Walde auf die Lichtung bog. Er hatte nur noch gesehen, daß der Herr Graf und eine fremde Dame in dem Wagen gesessen; wieviel Wagen noch gefolgt waren, und ob sie, nach der sein armes junges Herz so sehnlich verlangte, in einem dieser Wagen Platz gefunden, wußte er nicht. Es mußte aber wohl eine große Gesellschaft sein, denn zwischen den Hornrufen, mit denen die Tiere herangelockt wurden, hörte er das Wiehern der Pferde und lautes Durcheinandersprechen von männlichen Stimmen und ein paarmal das Gekreisch von weiblichen, dem dann großes Gelächter folgte. Ein paarmal waren die zur Fütterung hastenden Tiere dicht an ihm vorübergekommen, zuletzt eine Bache mit einem großen Wurf. Es mochte dieselbe schweifende sein, die er an jenem Sonntag, als er Isabel zum letztenmale gesehen, aus dem Lager aufgestoßen hatte. Inzwischen war die Dämmerung tiefer herabgesunken, auf dem Platze war es stiller geworden; er fürchtete schon, daß der Vater ihn vergessen, oder sich anders besonnen habe, und ihn rufen würde, wenn alles vorbei sei. Da erschallte das Signal.
Er hatte es so lange erharrt und schrak nun doch zusammen, als wäre ein Blitz neben ihm von der großen Eiche herab zu seinen Füßen in den schwarzen Waldboden gefahren. Das Herz hämmerte ihm zum Zerspringen, und die ersten Töne kamen schier kläglich heraus. Dann raffte er seine ganze Kraft zusammen; er that es ja für die anderen nicht – was gingen sie ihn an! – nur für sie: daß sie ihn hörte, daß sie sich seiner erinnerte, ihn, wenn er geendet, herbeiwünschte – wer weiß? durch den Wald zu ihm gelaufen kam, ihm zu danken, zu sagen: das hast du gut gemacht, Sonntagskind! Da war es ihm, als ob nicht er blase, sondern der ganze Wald singe und klinge; und als er seine beiden Stücke beendet und alsbald der Hornruf ertönte, der ihn auf den Platz rief, schritt er so stolz erhobenen Hauptes dahin, als sei er nicht der arme Förstersohn, sondern wirklich der Prinz des Märchens, und der ganze Wald gehöre ihm.