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Fern von der Heimat ist gut vor dem Schuß. O, laßt es euch sagen,
Primadonnen, die so mit den Tenoren vertraut!
Die herzliche Freude des Theaterliebhabers, nach so manchen Fehlschlägen seiner Erwartungen und Hoffnungen endlich wieder einmal das Hervortreten eines großen dramatischen Talentes begrüßen zu können, wird nur noch durch die andere übertroffen, zu beobachten, wie dies Talent, anstatt sich – gleich manchem, scheinbar nicht minder großen – mit dem ersten glücklichen Anlauf erschöpft zu haben, ohne einen Schritt zurückzuweichen, die eingeschlagene Bahn fortsetzt mit einer Kraft, die durch die Übung stetig wächst.
Hermann Sudermanns dramatische Laufbahn steht unter diesem erfreulichen Zeichen. Er – damals ein Neuling auf den weltbedeutenden Brettern – hat sich mit seinem Schauspiel »Ehre« einen Platz in der ersten Reihe der zeitgenössischen dramatischen Dichter erobert; er hat mit seinem zweiten Stück »Sodoms Ende« diesen Platz mindestens behauptet und er ist mit »Heimat«, soweit ich es beurteilen kann, in jener Reihe noch ein paar Stellen höher gerückt.
Man sieht: ich bin nicht der Meinung eines nicht kleinen Teils des Publikums, welcher in »Sodoms Ende« einen Rückschritt – und sogar einen erheblichen – hinter »Ehre« konstatieren zu sollen meinte. Ich glaube, daß dies absprechende Urteil, wollte man es auf seinen Rechtstitel prüfen, 325 sich mehr auf moralische als ästhetische Gründe stützen müßte. Die naive Gemeinheit in dem Hinterhause der »Ehre« mit dem obligaten Mißduft der Kleine-Leute-Wohnung verletzte die zärtlichen Gemüter weit weniger als der Höllenbreughel einer moralisch durch und durch verlotterten sogenannten guten Gesellschaft in »Sodoms Ende«, welche der Patschuligeruch der Verwesung umwitterte, und in Vergleich zu welchem sogar die sittliche Verrohung der Kommerzienratfamilie (mit Ausnahme der Tochter selbstverständlich) als relativ gesund gelten mochte. Aber das war, wie gesagt, nur die Empfindung von Leuten, welche den Wert eines Stückes nach dem Grade bemessen, in welchem sie sich durch die agierenden Personen, die Vorgänge, den Ausgang angeheimelt fühlen, und wenig danach fragen, ob denn da oben alles mit richtigen psychologischen Dingen zugeht, und ob der Dichter, um zu seinem Ziele zu gelangen, sich ausnahmslos legitimer Mittel bedient.
Der Mittel, die – mögen sie noch so oft und so stark gefälscht worden sein und gefälscht werden – doch von Anbeginn des Dramas bis auf den heutigen Tag die einzigen sind, durch welche ein gesundes, lebenskräftiges Theaterstück zu stande kommt; der Mittel, welche in ihrer Reinheit darzustellen unsre dramatischen Theoretiker von heute so eifrig bemüht sind, und deren rigorose Anwendung und Verwirklichung der Ehrgeiz und der Stolz unsrer jungen Dramendichter ist.
Man darf, ohne dem Talent unsres Dichters zu nahe zu treten, wohl behaupten, daß er, als er »Ehre« schrieb, noch nicht ganz fest in diesen theoretisch-praktischen Schuhen stand. Er thut es nur in den Scenen, die in der Intimität der Familie Heinecke spielen. Da ist alles von packender, unübertrefflicher Wahrheit; da thut und spricht keiner 326 auch nur das mindeste, das er seinem Wesen nach bei der gegebenen Veranlassung nicht thun und sprechen müßte. Aber schon der aus der Fremde heimgekehrte Sohn, der – ein Berliner Proletarierkind und erst als Jüngling in die Welt gewandert – sich von seiner Mutter erklären lassen muß, was die stadt- und landläufige Phrase: »sie geht mit ihm« bedeute; der sich in einem Milieu, aus dem er doch hervorgegangen und in dem er so lange gelebt hat, so gar nicht zurechtfinden kann, erschien mir wenigstens immer als ein psychologisch schwer kontrolierbares Wesen. Und die direkte Descendenz des aus einem geschwenkten Gardelieutenant zum indisch-europäischen Kaffeekönig metamorphosierten Grafen von Trast-Saarberg, der mit einem Blick die verwickeltsten Verhältnisse durchschaut; mit der Pünktlichkeit eines deus ex machina immer zur Stelle ist, um eine verzwickteste Situation spielend zu lösen; dessen Checkbuch von so beneidenswerter Dicke und dessen Güte von so anbetungswürdiger Größe ist – ich sage: die direkte Descendenz dieses edelsten Mannes von seinem Ahnherrn, dem Grafen von Monte-Christo sekundanerhaften Angedenkens, hat mir stets ein freundliches Lächeln entlockt.
Nehmen wir zu diesen psychologischen Raritäten noch die Unwahrscheinlichkeit des Emporblühens eines moralisch so völlig gesunden, geistig so hoch entwickelten Mädchens wie Leonore in der entsittlichenden Atmosphäre ihres elterlichen Hauses; dazu den durch einen coup de force erzwungenen Lustspielschluß des einem tragischen Ausgang machtvoll zustrebenden Stückes, so haben wir gewiß genug beisammen, um erhärten zu können, daß der Sudermann der »Ehre« vor der gelegentlichen Anwendung verrosteter Waffen aus der altehrwürdigen, aller Welt zugänglichen Rüstkammer der landläufigen dramatischen Mache nicht zurückschreckte.
327 Er hat es völlig gethan in dem Entwurf und Aufbau der Charaktere von »Sodoms Ende«. So, wie diese Menschen sind, können, oder könnten wir sie doch alle Tage sehen. Und jeder handelt oder leidet in voller Konsequenz seiner wahrhaftigen Natur und der Konflikte, welche sich wiederum aus dem Zusammenstoß dieser seiner Natur mit den anderen, in ihrer Weise nicht minder wahrhaftigen Naturen mit Notwendigkeit ergeben. Die mit ihrer sonstigen Klugheit wenig stimmende und – was die Sache noch schlimmer macht – durch die Umstände keineswegs motivierte Unvorsichtigkeit Adahs, in Gegenwart der Frau Janikow den Einladungsbrief zu schreiben, ändert an der Gesamtheit dieses Urteils nichts. In einem Mussetschen oder Feuilletschen Proverbe, oder auch in Stücken wie Goethes »Götz von Berlichingen«, oder Gerhart Hauptmanns »Weber«, die aus einzelnen, mehr oder minder locker zusammenhängenden Scenen bestehen, mag es ohne die mindeste Unwahrscheinlichkeit in der Führung der Handlung abgehen; aber man zeige mir das den Abend füllende, eine im übrigen streng geschlossene Handlung bietende Stück, in welchem es der Fall ist! Und dabei wird es wohl, solange dergleichen Stücke nicht ein für allemal zum alten Eisen geworfen, oder nicht von unfehlbaren Engeln, sondern von fehlbaren Menschen geschrieben werden, sein Bewenden haben.
Noch in einer anderen Hinsicht möchte ich in »Sodoms Ende« einen Fortschritt über »Ehre« hinaus konstatieren: das Stück entspricht seinem Titel besser als das letztgenannte dem seinigen; oder, um es anders auszudrücken: die ihm zu Grunde liegende Idee ist runder und voller herausgekommen als bei seinem Vorläufer. Es müßte, oder könnte doch wenigstens so heißen, auch wenn Willy Janikow ein ganz anderes Bild gemalt hätte als den Untergang der Schwester 328stadt Gomorrhas. Die Gesellschaft, in die uns der Dichter führt, ist ein Sodom; und die in dem Lasterpfuhl leben, sind dem Untergange geweiht: dem moralischen sicher, wenn nicht auch dem physischen, wie der Held. Die skeptische Frage: was ist mit diesem Stück bewiesen? kann nicht wohl aufgeworfen werden; sie kann es mit Fug bei »Ehre«. Ich glaube nicht, daß das Drama »Ehre« über Begriff und Wesen der Ehre einem denkenden Menschen auch nur den mindesten neuen Aufschluß bringt, wie es doch der Fall sein müßte, wenn die Ehre als solche – man nehme sie nun in dieser oder jener Form – im Mittelpunkte des Dramas stände, wie etwa in Heyses Einakter »Ehrenschulden«. Daß man im Hinterhause andere Ansichten von Ehre zu haben pflegt als im Vorderhause, ist gerade keine verblüffende Entdeckung; ja, recht besehen, sind sie im Hinter- und im Vorderhause gleich ehrlos, und die Ehre im Sinne der anständigen Menschen wird nur durch ein paar Personen repräsentiert, deren moralische Provenienz, wie ich bereits andeutete, sich nur sehr schwer kontrolieren läßt. Da hatte es sich der Verfasser eines Stückes, das ich in meiner Jugend sah, und in welchem ebenfalls – wie in »Ehre« – die drastische Konfrontation zweier auf der gesellschaftlichen Stufenleiter weit getrennter Stände die Hauptsache war, bequemer gemacht. Es hieß: »Oben und unten«, und mußte auch wohl so heißen, denn der Bühnenraum war durch eine horizontal gezogene, feste Decke in zwei Etagen geteilt, die durch Flur und Treppe, welche man sich dahinter denken mußte, miteinander kommunizierten. Oben wohnten die reichen (und schlechten), unten die armen (und guten) Leute, und die Handlung spielte bald oben, bald unten, bald oben und unten zugleich. Das war primitiv und naiv, ganz im Sinne jener anspruchslosen Zeit; aber man wußte wo und 329 wie, und der Autor hatte kein Jota mehr versprochen als er hielt. –
Ich will hier von »Heimat« sprechen; aber Sudermann produziert nicht so schnell und ist in unserer dramatischen Litteratur eine Erscheinung von so eminenter Bedeutung, daß es sich wohl verlohnt, wenn es das Urteil über ein neueres Werk von ihm gilt, die früheren Phasen seines Schaffens zu rekapitulieren.
Eine alte Erfahrung lehrt, daß Dichter ein einmal behandeltes Motiv, weil es ihnen ans Herz gewachsen ist, gern wieder aufnehmen, um es freilich, wenn sie geist- und phantasievoll genug sind, von einer anderen Seite in einem anderen Lichte zu zeigen. In »Ehre« war es ein Sohn, der als junger Mensch sein Elternhaus verlassen hat, um, in fernen Landen durch jahrelange Arbeit und wechselvolle Schicksale zum Manne geschmiedet, heimzukehren – ein Fremder, ohne Verständnis für das, was Herz und Sinn der Seinen bewegt, wie er in seinem Denken und Empfinden von diesen nicht mehr verstanden wird. Er hat werden müssen, was er geworden ist in aufsteigender Linie zu intellektueller und sittlicher Tüchtigkeit; sie haben nicht verhindern können, daß sie in dem geistigen und moralischen Sumpf, der ihr Lebenselement war, tiefer und tiefer gesunken sind. Damit ist der Konflikt gegeben, der bei der Unmöglichkeit auch nur eines Kompromisses, geschweige denn einer Ausgleichung nicht anders als tragisch hätte enden sollen.
Es ist interessant, zu sehen, was der Dichter mit diesem Motiv vornehmen mußte, damit es in »Heimat« als ein wesentlich anderes, ja für ein ungeübtes Auge völlig neues erscheint.
»Heimat« hat, wie die meisten Dramen, ehe die Handlung einsetzt, eine Vorgeschichte, die zu berichten glücklicher 330weise weniger Zeit erfordert, als die so mancher Ibsenschen, welche nur dramatisierte letzte Scenen eines langen Romans sind.
Der Oberstlieutenant a. D. Schwartze hat zwei Kinder erster Ehe, Magda und Marie, von denen die ältere nicht gut hat thun wollen. Wenigstens nicht in den Augen des geistig beschränkten, mit den Scheuklappen starrer Ehrbegriffe durch das Leben gehenden Vaters. Man darf annehmen, daß das reichbegabte, leidenschaftliche, selbstherrliche Mädchen dem wackeren Manne durch ihre Extravaganzen schon manchen Kummer bereitet hatte, bevor er Auguste von Wendlowski, eine bereits etwas altjüngferliche Dame, zu seiner zweiten Frau machte. Wollte er zweifellos mit ihr seinen Kindern eine zweite Mutter geben, so erwies sich diese Absicht vorderhand als verfehlt. Stiefmutter und Stieftöchter konnten sich nicht ineinander finden. Es ging zur Not noch mit der jüngeren; es ging ganz und gar nicht mit der älteren. Tägliche Reibereien und Scenen, die dem Vater den Wunsch nahelegen mochten, den Störenfried aus dem Hause zu haben. Dieser Wunsch schien sich in der für ihn wünschenswertesten Weise realisieren zu wollen, als der junge, in der Stadt hochgeachtete Pfarrer Heffterdingk um die Hand der Siebzehnjährigen anhielt. Magda erklärt, den ungeliebten Mann nicht heiraten zu wollen; der Vater, der dem ewigen Unfrieden so oder so ein Ende machen will: »Du parierst Ordre oder du gehst aus dem Hause«. Magda, die froh ist fortzukommen, läßt sich das nicht zweimal sagen: sie verläßt Haus und Heimat, vorerst, um bei einer alten Dame Gesellschafterin zu werden. Das war schlimm für den Vater, der sein Kind trotz alledem zärtlich liebte. Es sollte noch schlimmer kommen. Anstatt ihren Trotz fahren zu lassen und reuevoll-bußfertig in das Elternhaus zurück 331zukehren, schreibt die emancipierte junge Dame nach einem Jahre, daß sie sich entschlossen habe, zur Bühne zu gehen. In dem Sinne des pedantischen, bigotten Vaters heißt das: verloren sein zeitlich und ewig. Er ist von dem Augenblicke an ein geschlagener Mann, seelisch und physisch: beim Empfange der fürchterlichen Nachricht hat ihn ein schwerer Schlaganfall getroffen. Die Genesung ist nur eine partielle: der rechte Arm bleibt gelähmt. In der Armee kann man invalide Offiziere nicht brauchen: der Major erhält als Oberstlieutenant seinen Abschied. Ein entsetzliches Unglück für den Mann, der Zeit seines Lebens Militär und nur Militär gewesen ist, mit jeder Faser seines Herzens an dem Soldatentum hängt! Der verschmähte Freier Magdas, der Pfarrer Heffterdingk, nimmt sich des Verzweifelten an, heilt den Wunden langsam, macht ihn zum Mitarbeiter an den frommen Anstalten, deren Leitung ihm anvertraut ist; mit einem Worte: söhnt ihn so ungefähr mit dem Leben wieder aus. Nur so ungefähr: das, wie er meint, unverschuldete Leid nagt und nagt an seinem Herzen; und die Quelle dieses Leides ist jenes Kind, das er so abgöttisch geliebt hatte, das er, ohne es zu wissen, noch immer so liebt.
Dies war geschehen, und so liegen die Dinge, als das Drama einsetzt.
In der Stadt, in der wir uns eine Provinzialhauptstadt – sagen wir Königsberg – denken müssen, wird ein großes Musikfest gefeiert. Als »Star« des Festes hat man die berühmte Künstlerin Maddalena dall' Orto, »die da draußen die großen Wagnerrollen singt«, eingeladen und die Primadonna ist der Einladung gefolgt, zur freudigen Überraschung der guten Stadt, die alles aufbietet, einer so glänzenden Auszeichnung die gebührende Ehre zu geben. Markt und Straßen schmücken sich mit Guirlanden; aus den Fenstern 332 hängen die sorgsam gehüteten Teppiche der Salons; von den Dächern flattern die Fahnen in den Farben von Stadt und Land, auch – läßt sich annehmen – in denen Italiens, des schönen Heimatlandes der gefeierten Sängerin. Vor ihrem Hotel sammeln sich dichte Scharen, sie bei ihren Aus- und Einfahrten zu sehen; der Oberpräsident giebt ihr zu Ehren eine Soiree, zu der nur der Adel und die höchsten militärischen und civilen Würdenträger geladen sind.
In dem stillen Hause des Oberstlieutenant Schwartze nimmt man an diesen lärmenden Dingen nur einen sehr geringen Anteil. Eine Fahne hat man allerdings ausgehängt, weil alle Welt es thut; aber Marie, die jüngere der beiden Schwestern – seit zwölf Jahren »das einzige Kind«, – zerbricht sich den Kopf darüber, von wem wohl die beiden kostbaren Bouquets kommen mögen, die gestern und heute in dem Hause abgegeben sind. Sie hat vermutet: von ihrem Vetter und quasi Verlobten: Max v. Wendlowski; aber der Herr Lieutenant belehrt sie, daß seine mäßigen Glücksgüter ihm einen derartigen Luxus nicht gestatten, ebensowenig, wie offiziell um die Hand der Geliebten anzuhalten, solange Tante Franziska den Daumen auf dem Beutel hält und mit der obligaten Kaution nicht herausrücken will. Das tête-à-tête der Liebenden wird unterbrochen durch das Erscheinen des Regierungsrats v. Keller, der durch seinen Freund Max in der Schwartzeschen Familie eingeführt sein möchte. Er hat im Interesse seiner Carriere die Absicht, in die Konsistorialabteilung der Regierung überzugehen, und meint, daß, mit den frommen Kreisen durch den Oberstlieutenant Fühlung zu gewinnen, der Ausführung dieser Absicht nur förderlich sein könne. Bisher hatte er sich dem Schwartzeschen Hause ferngehalten aus einem erklärlichen, übrigens soweit unverfänglichen Grunde: er war 333 der letzte gewesen, welcher der verschollenen Magda in der Welt draußen, d. h. in Berlin, zur Zeit, als sie ihre Künstlerinnenlaufbahn begann, begegnet war. Und in einem Hause von Glas wirft ein Verständiger auch nicht mit einem kleinsten Steine! Der vorsichtige Herr wird von dem Chef der Familie und seiner Gattin freundlich empfangen; unter dem gemeinsamen Zeichen von Gott, König und Vaterland hat man sich sofort gefunden – die einfältigen Seelen und der Heuchler. Der Herr Regierungsrat macht ein paar Hausfreunden Platz, welche die gewohnte Nachmittagspartie mit dem Oberstlieutenant spielen wollen, aber alsbald wieder von Tante Franziska vertrieben werden, die in größter Aufregung mit einer ungeheuren Neuigkeit kommt: sie ist gestern abend auf dem Rout beim Oberpräsidenten gewesen und hat in der gefeierten Sängerin Magda erkannt. Franziska kommt nicht allein: der Pfarrer hat sich ihr angeschlossen – zum Glück oder Unglück, wie man will. Denn jedermann sagt sich, daß es ein sehr problematisches Glück sein wird, wenn Magda die Schwelle ihres Elternhauses wieder überschreitet: wer möchte auf der Lava, die der Berg geschieden, seine Hütte bauen? Aber der Pfarrer denkt anders, muß auf seinem Standpunkte anders denken. Von seinen gewichtigen Mahnungen erschüttert, auf das herzliche Zureden von Frau und Tochter, gerührt durch die Zeichen noch fortbestehender Anhänglichkeit an das Elternhaus, die Magda gegeben hat – die Bouquets sind von ihr und zweimal bereits hat sie in der Dämmerstunde in ihrem Wagen vor dem Hause gehalten und sehnsuchtsvoll zu den Fenstern emporgeblickt – giebt der Vater seine Einwilligung zu einem Wiedersehen mit der verlorenen Tochter. Der Pfarrer geht, sie aus ihrem Hotel zu holen.
Damit schließt der erste Akt; ein Muster klarster, alles 334 zum Verständnis des Vorausgegangenen Nötige berührender, das Kommende diskret andeutender Exposition. Kein Wort zu viel, keins zu wenig. Mit fester Hand umrissene Charaktere. Vorgänge, die, ohne alltäglich zu sein, doch nicht wahrscheinlicher abrollen können. Keinen Augenblick das Gefühl, daß hier Komödie gespielt wird. Nur die gespannte Erwartung, was will das werden? und der Wunsch, daß sich der Vorhang wiederum hebe. –
Ein paar Stunden später beim Hereinbrechen des Abends. – Der Pfarrer ist bereits seit einer Stunde fort; die Musikaufführung muß längst zu Ende sein; Magda wird nicht kommen wollen. Die Familie ist in fieberhafter Aufregung. Da hält der Wagen wieder vor dem Hause. Sie ist es! Vater und Mutter eilen hinab. Sie kommen mit ihr zurück.
Scenen des Wiedersehens, ach! nicht des Wiederfindens! Da ist der Vater, der aus dem stattlich-rüstigen Mann zum Greise und Krüppel, die altjüngferliche Stiefmutter, die zu einer herzlich wohlwollenden, herzlich unbedeutenden Matrone geworden; da ihre Schwester, die sie als halbes Kind verlassen, und die ihr jetzt als erwachsenes, verkümmertes, bleichsüchtiges Mädchen mit der aussichtslosen Liebe zu ihrem pfenniglosen Lieutenant im Herzen entgegenkommt; da sind die alten verwohnten Räume mit den alten verschossenen Gardinen und antiquierten Möbeln; da ist die Heimat, die – nicht mehr ihre Heimat ist. In ihrem reich bewegten – nun schon jahrelang auf den Höhen der Kunst und Gesellschaft sich umtreibenden – Leben ist sie weit, weit über solche ökonomisch quetschende Enge, über die verdumpfte geistige Atmosphäre dieser Alltagsmenschen hinausgewachsen. Und wie sie sich nicht in diesen Menschen zurechtfinden kann, so vermögen es diese noch viel weniger in ihr. Man tauscht 335 Liebkosungen und freundlichste Worte; aber man versteht einander nicht mehr. Bereits zieht eine dunkle Wolke an diesem unheimlichen Familienhimmel herauf, als Magda erklärt, weiter in ihrem Hotel wohnen zu müssen, während der Vater für selbstverständlich hält, daß das Elternhaus einem heimgekehrten Kinde die einzig geziemende Wohnstätte sei. Die Wolke wird zerstreut durch den Pfarrer, der sie vergeblich im Hotel erwartet hat und jetzt erscheint, wohl ahnend, daß seine Gegenwart in diesem Augenblick sehr notwendig ist. Er bittet Magda, ihm eine Unterredung von wenigen Minuten zu schenken. Folgt diese Unterredung, die pièce de résistance des zweiten Aktes. Magda sieht sich einem Manne gegenüber, den sie durchaus mißachten zu dürfen glaubt, und der zu ihrem Staunen mit jedem Worte, das er spricht, geistig wächst und wächst, daß sie, wie gebannt, seiner Rede lauschen muß. Was muß sie hören? Sie ist Anstifterin des Unheils gewesen, das über ihren Vater hereingebrochen, die moralisch Schuldige an seiner Außerdienststellung. Er, der Pfarrer, hat das zertrümmerte Glück der Familie mühselig soweit wieder aufgebaut; sie darf nicht gekommen sein, es noch einmal zu zerstören – schlimmer und gründlicher als vorher. In Magda schreit es: folge ihm nicht! »Wenn Sie wüßten, was hinter mir liegt,« sagt sie zu ihm, »würden Sie mich nicht halten wollen.« Und als sie endlich doch einwilligt, zu bleiben, thut sie es unter der Bedingung, daß man sie nach dem, was sie »da draußen erlebt«, nicht fragen dürfe. Das verspricht ihr der Pfarrer für sich und die andern. Die Familie versammelt sich; man begiebt sich zum Abendbrot in das Speisezimmer. Der Pfarrer hält den Oberstlieutenant einen Moment zurück, ihm die Bedingung Magdas mitzuteilen. »Was? was? Ich – soll – nicht –?« ruft dieser 336 entsetzt. – »Nein, nein –« erwidert jener, »nicht fragen, sonst – – Sie wird es selbst gestehen.« –
Mochte die Bedingung, unter der Magda geblieben, von allen respektiert werden; mochte sie das Halten derselben von allen erzwingen – daß der Vater, wie er nun einmal ist, sie trotz des besten Willens nicht respektieren werde, die Tochter von dem Vater diesen Respekt nicht erzwingen könne, ist klar. In dem Alten bohrt und bohrt ein Verdacht, um so fürchterlicher, als er für ihn keinen Ausdruck zu finden weiß und schließlich doch einen findet: Magda soll ihm sagen, daß sie »rein geblieben sei an Leib und Seele«. Dann möge sie gesegnet ihres Weges ziehen. Noch einmal gelingt es Magda auszuweichen, aber es ist der letzte Winkelzug vor der Katastrophe, die nun mit unabwendbarer Macht hereinbricht in der schauerlichen Scene, welche sie mit dem Manne wieder zusammenführt, der vor zwölf Jahren die Liebe der Unerfahrenen, Unbewachten, Heißblütigen zu gewinnen wußte und feige zu verraten erbärmlich genug war. In dem Tumult des Außersichseins, in welchen das fürchterliche tête-à-tête die beiden gepeitscht hat – des lodernden Zornes, der hohnlachenden Verachtung auf ihrer, der fiebernden Angst vor Entdeckung auf seiner Seite – werden sie von dem Vater überrascht. Magda enteilt; von dem Verführer, der widerwillig genug zum Bleiben gezwungen ist, fordert der Vater ein Ehrenwort, das dieser zu geben sich weigert. Wenn dem alten Manne noch ein letzter Zweifel an der Schuld der Tochter geblieben wäre, so ist er jetzt geschwunden. Die Specialbeichte, zu welcher er jene nicht mehr zu zwingen braucht, kann ihn nichts Neues mehr lehren.
Magda glaubt mit dieser Beichte die verhängnisvolle Unvorsichtigkeit gesühnt, welche sie beging, als sie die alte 337 Heimat nochmals betrat. Sie irrt sich. Ein für sie unerhörtes Ansinnen wird an sie gestellt: sie soll den Menschen heiraten, den sie namenlos verachtet. Der Pfarrer meint, daß sie es muß, will sie nicht ihren alten Vater, der den Verführer zu fordern gegangen ist, sich für sie hinopfern lassen, mit ihm die gute Stiefmutter, die unschuldige Schwester, den Bestand und das Glück ihrer Familie von Grund aus zerstören. In Magda schreit es: nein! nein! und dennoch sagt sie: ja, denn über alles kommt ein Weib hinweg, an dessen mitleidvolles Herz man mit solchen mächtigsten Strängen reißt, solange es nur eine Opferung ihrer selbst gilt; über eines nicht: auch ihr Kind zu opfern, ihr Heiligstes opfern zu sollen: ihre Mutterliebe, ihre Mutterpflicht.
Und gerade das heischt man nachträglich von ihr: der Verführer, der sie nur unter dieser Bedingung heiraten will, der Vater, der ihr sagt, daß sie ihrerseits das Recht verscherzt habe, Bedingungen zu stellen. Hier giebt es für die Unglückliche keinen Ausweg mehr, als sich einer Schuld anzuklagen, die sie möglicher- ja wahrscheinlicherweise nicht auf sich geladen hat, die aber, sobald sie sich derselben zeiht, dem Vater verbietet, auf seiner Forderung zu bestehen.
Das Ende ist da. Der Vater will die Tochter, die sich für eine Dirne erklärt hat, töten; nur seinem paralysierten Arm verdankt er, daß der eintretende Schlaganfall, dem er erliegt, keinen Kindesmörder trifft.
Dies die kondensierte Handlung des Stückes.
Auch dem, welcher es erst aus dieser meiner Relation kennen lernen sollte, werden einige Bedenken gekommen sein, ob es hier überall mit rechten Dingen zugehe. Zuerst: Warum ist Magda bei den tausend Gründen, die sie hatte, ihre Heimat zu meiden, dennoch heimgekehrt? Der Pfarrer richtet die Frage an sie; Magda giebt die Antwort darauf: 338 »ein ganz klein wenig Heimweh, dazu ein Gefühl, halb Neugier, halb Scheu – halb Wehmut, halb Trotz« – Trotz, sich, bleibt sie unerkannt, in Erinnerung der im Vaterhause ausgestandenen Misere, »an sich selbst zu weiden«; wird sie erkannt, den Ihren zu zeigen, daß »man auch abseits von der engen Tugend jener was Echts und Rechts werden kann«. Nicht jeden wird diese Antwort befriedigen; einem und dem andern dürfte sie als jener salto mortale erscheinen, den ein Dichter machen muß, um von der Wirklichkeit der Welt auf die Bretter zu gelangen, welche die Welt bedeuten. Die Naturalisten von der strikten Observanz schlagen selbstverständlich drei Kreuze vor solcher Versündigung, ohne zu bedenken, daß sie damit nur ihrer Ketten spotten.
Sodann: es ist begreiflich, daß Magda (am Schluß des zweiten Aktes) zur Bedingung ihres Bleibens macht, man dürfe sie nicht über ihre Vergangenheit ausforschen. Aber wie kann ein Mann, wie der Pfarrer, der in die Herzen und Nieren der Menschen blickt, sich nicht sofort sagen, daß die Garantie dafür zu übernehmen außer seiner Macht steht? wie kann er weiter – und schlimmer – dem Vater diese Bedingung ohne jede Beschönigung sofort insinuieren? und – was das schlimmste ist – dem Entsetzten die Versicherung geben: »Sie wird es – selbst gestehn?« Da hätte denn doch Magda das Recht, zu beten: Gott schütze mich vor meinen Freunden!
Drittens: Magda und der Regierungsrat werden von dem Vater überrascht. Beide sind in furchtbarer Erregung. Zugegeben. Aber ist es denkbar, daß sie, welche »die großen Wagnerrollen singt«, nichts Besseres in hoc discrimine rerum zu thun weiß, als, das Tuch ins Gesicht drückend, zu fliehen, wie eine ertappte Klosterpensionärin? Denkbar, daß der Mann, der die Unverfrorenheit in Person ist, keine 339 kleinste Lüge vorzubringen, seine Haltung so wenig zu wahren weiß, daß der alte Mann stockblind sein müßte, wollte er nicht sehen, wie die Sache liegt?
Man kann sagen: der Dichter brauchte diese Wendung der Dinge, um zu seinem Ziele zu gelangen. Aber das wäre doch nur eine Erklärung, keine Entschuldigung.
Erklärlich und entschuldbar, vielmehr einwandsfrei, ist ein anderer auffälliger Punkt: der von dem Vater um sein Ehrenwort gedrängte Regierungsrat verweigert es. Nach den in der Gesellschaft acceptierten Gesetzen der Ehre muß ein Mann von Ehre fälschlicherweise sein Ehrenwort geben, wenn er durch die Weigerung desselben den Ruf einer Dame, gegen die er alle und jede Verpflichtung hat, zu Grunde richtet. Daß er sehr wahrscheinlicherweise seine Lüge mit dem Tode wird zu büßen haben, darf ihn nicht anfechten. In dem vorliegenden Fall ist das furchtbare Dilemma nur scheinbar: Herr von Keller ist kein Mann von Ehre.
Aber der Vater ist es und im Grunde seines Herzens ein guter Mann, den sein verlorenes Kind nicht grenzenlos unglücklich gemacht haben könnte, wenn er es nicht grenzenlos geliebt hätte. Und dieser Mann verpfändet sein Ehrenwort dafür, daß Magda ihre Hand einem Menschen giebt, den er aus tiefster Seele verachten muß; und daß sie ihrem Kinde entsagen wird, – demselben Kinde, auf dessen Haupt, als auf ihr Allerheiligstes, sie eben hat schwören sollen, sie wolle »die ehrbare Frau seines Vaters werden«!!
Und hier, angesichts dieser Ungeheuerlichkeit, stehen wir vor der Frage: hat der Dichter sie gewollt? und wenn wir sie, wie wohl selbstverständlich, bejahen müssen, sofort vor der anderen finalen: was hat er dann mit seinem Drama gewollt? Ein Stück Leben darstellen, gesehen durch ein 340 Temperament, sagen die Naturalisten; sub specie einer Idee, die Idealisten. Da mir der Begriff des Temperaments im Sinne der neuen Schule bis heute mystisch geblieben ist, muß ich mich wohl oder übel an die Auffassung der alten halten: von der Kunst im allgemeinen, dem Drama im besonderen, dessen reifste, kostbarste Frucht dann wieder die Tragödie ist. Die – nach jener Auffassung – dadurch zu stande kommt, daß zwei Weltanschauungen, deren jeder ein gewisses Recht innewohnt, aufeinanderstoßen und sich in diesem Zusammenstoß in ihrer einseitigen Überspannung offenbaren, in gloriam der gesunden Sittlichkeit, der über den Parteien schwebenden Gerechtigkeit, des unumstößlichen Lebensprinzips, oder wie man das, was sich die Hellenen als Ate über Götter und Menschen herrschend dachten, sonst bezeichnen mag.
Von diesem Standpunkte aus gesehen, ist Sudermanns »Heimat« eine regelrechte Tragödie. Sollte in der Welt der überspannte Ehrbegriff des Oberstlieutenant Schwartze allmächtig herrschen, so müßte sie, so müßten wenigstens alle Blütenträume zu Grunde gehen, ohne deren Reifen uns Kulturmenschen das Leben nicht mehr lebenswert erscheint. Wollten alle Menschen, wie Magda, nur »ihrer selbst willen« da sein; Heimat, Elternhaus, Geschwister, Freunde – alles in die Schanze schlagen; was sonst als sittlich gilt, für nichts achten, um sich »auszuleben« bis zu der Grenze jeder Kraft, die sich in ihnen regt, so mögen die Weltverbesserer uns erst das Utopien schaffen, in welchem das möglich ist, und doch ein Gemeinwesen, die Spur nur eines Gemeinwesens bleibt.
So, völlig tragisch, liegt die Sache im Stück. Vor den Augen des Zuschauers geht allerdings nur der Vater an seinem unbändigen Trotz zu Grunde. Aber auch Magda 341 wird, wenn sie wieder zu ihrer Welt voll Glanz und Schimmer zurückkehrt, sich in den größten Wagnerrollen das Bewußtsein nicht wegsingen können, daß ihrem alten Vater der Gram um sie das Herz gebrochen hat; und ihre Theorie von der Schuld, die der Mensch auf sich zu nehmen habe, damit er »was Echts und was Rechts« werde, mit der Erfahrung des Harfners in Wilhelm Meister von der Rache, die der Schuld auf den Fersen folgt, komplettieren müssen.
Das freilich liegt hinter dem Vorhang, der sich zum letztenmal senkt, und ich fürchte, es verdunkelt ein wenig des Dichters eigentliche Absicht, daß er das Mitleiden des Zuschauers zu lange und intensiv auf die Seelen- und Körperqualen des Rächers seiner Ehre heftet, uns so vergessen machend, oder doch nicht recht bedenken lassend, daß der Vater nicht minder schuldig ist, als die Tochter, welche vergeblich um den Segen des Sterbenden fleht.
Und er hätte es so bequem gehabt, uns seine ganze Absicht zu verraten! Er hätte nur nicht sehr zur Unzeit das Zünglein auszubrechen brauchen, an dessen Stellung wir während des ganzen bisherigen Verlaufes den Stand der moralischen Wage jederzeit beurteilen konnten. Ich meine: hätte er, wie bei allen früheren Instanzen des Prozesses, so auch in der letzten, die Frage, um die es sich schließlich handelt, dem Urteilsspruch des sittlich unparteiischen Chors: des Pfarrers Heffterdingk, dem nichts Menschliches fremd ist, unterbreitet. Ich weiß nicht, wie sich der hochwürdige Herr entschieden hätte; vermute aber dahin, daß der Vater kein Recht habe, der Tochter einen Gatten aufzuzwingen, der ihre Mutterliebe mit Füßen tritt und den Mut dazu hat, weil sein Herz ein fühlloser Muskel ist, der von Vaterliebe nichts ahnt. Mir ist unbegreiflich, warum der Dichter einer Entscheidung aus dem Wege gehen mochte, 342 die er um so leichter anrufen konnte, weil sie an dem Gang des Stückes nichts geändert hätte, da der Vater trotzdem bei seinem seelenmörderischen Eigensinn verblieben sein würde; und anrufen mußte, wollte er den Zuhörer nicht, wie jetzt der Fall mit dem peinlichen Gefühl eines Non liquet entlassen, für das ihm die Naturalisten freilich Dank wissen werden.
Aber das alles sind Erwägungen und Bedenken, die man anstellen und haben kann, ohne damit den hohen Wert des Stückes irgend herabzusetzen. In meinen Augen besteht sein höchster darin, daß es genau auf dem Wege liegt, der uns, unbehelligt von der Liebedienerei ausländischer sogenannter Muster, zu dem Lessingschen Ideale einer wahrhaft nationalen Bühne führen wird – dem Wege, auf welchem dem Strebenden Minna von Barnhelm und Kabale und Liebe als glänzende Fanale voranleuchten.
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