Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.
Wie die »problematischen Naturen« entstanden.

Problematische Naturen!
Schrieb's vor nunmehr vierzig Jahren.
Damals frischgegleiste Spuren;
Sind jetzunder ausgefahren.

Der Wunsch, von einem Dichter zu erfahren, wie sein erstes Werk entstanden sei, ist ebenso begreiflich, wie das Unternehmen, diesem Wunsche nachzukommen, schwierig. Es gehörte zu seiner Durchführung nicht mehr und nicht weniger als eine vollständige Erklärung der Phantasie, ein Auffinden und Aufdecken all der geheimnisvollen Quellen, aus deren Zusammenfließen sich ihr Strom bildet. Und damit wäre es nicht gethan. Man würde sich bei dieser Erklärung immer in Allgemeinheiten zu bewegen haben, deren ästhetisch-psychologischer Wert höchlichst zu veranschlagen sein mag, ohne daß dem thema probandum viel damit abgewonnen wäre. Denn nicht darum handelt es sich: wie operiert die menschliche Phantasie? sondern: wie operiert die Phantasie dieses Individuums? Und selbst diese Frage muß noch dahin eingeschränkt werden: wie hat sie in diesem besonderen Falle operiert?

Denn auch die individuelle Phantasie ist keineswegs immer dieselbe, vielmehr nicht bloß quantitativ, sondern auch qualitativ einem beständigen Wechsel unterworfen. Wer würde, wüßte er es nicht anderweitig, Tasso und den Bürgergeneral, Iphigenie und den Großkophta einem und demselben Autor zuschreiben? Jedes Werk wird unter einem besonderen Him 192mel geboren, dessen Farbe sich in ihm wiederspiegelt; erwächst aus einem besonderen Boden, dessen Geruch ihm anhaftet. Aber beschränkt man sich nun auch auf die Analyse eines bestimmten Werkes eines bestimmten Autors und bringt glücklich alle Momente zusammen, die möglicherweise bei seiner ersten Konzeption, seinem allmählichen Wachsen und Ausreifen mitgewirkt haben; kann man mit wünschenswerter Bestimmtheit angeben, wie der Stand seiner Bildung war, als er an das Werk ging und während er daran arbeitete, und wie seine Lebenslage im engeren und in dem weiteren Sinne des ihn umgebenden, ihn beeinflussenden Milieu; vermag man die litterarischen Quellen aufzudecken, aus denen er schöpfte, und die Vorbilder zu nennen, nach welchen er sich wissentlich oder unwissentlich richtete; kennt man die Landschaft, die er zum Hintergrund seiner Handlung nahm, vielleicht sogar die Modelle, nach denen er seine Menschen formte – nun, dann hat man besten Falles die Teile sämtlich in der Hand; aber die Hauptsache fehlt: das geistige Band, das, die Teile durchflechtend und umschlingend, sie erst zu einem Ganzen macht.

Es fehlt und wird ewig fehlen, denn niemand kann in die Tiefen dringen, wo die geheimnisvollen Mütter hausen, die aus unsichtbaren, ungreifbaren, unwägbaren Stoffen das magische Gebilde spannen und webten. Niemand und auch der Autor nicht.

Der vielleicht am wenigsten. Mag der Beobachter den Moment bestimmen können, wann der Schlaf dem Eingeschlafenen kam, – der Eingeschlafene kann es nicht; mag unsre Umgebung ein sehr klares Bild von unserer leiblichen Erscheinung haben und wie wir stehen, gehen, uns sonst bewegen; genaue Rechenschaft geben können von dem Wechsel des Ausdrucks unsrer Augen in der Freude, im Schmerz, 193 im Zorn, und welchen Klang unsere Stimme in diesem oder jenem Affekt annimmt – wir selbst sind dem allen gegenüber ein mindestens Halbblinder, Halbtauber; der Hund, der uns auf den Fersen folgt, oder vor uns sitzt und uns ansieht, weiß davon ein mehres und genaueres als wir.

Er hat wohl so sein müssen, wenn wir das Leben, dessen Mittelpunkt doch jeder sich selbst ist, nicht nur erträglich, sondern vielleicht sogar lebenswert finden sollten. Jedenfalls ist es so.

Ich habe dies Bekenntnis wohlbedächtig vorausgeschickt, damit der Leser, dem ich in dem folgenden von dem Wann? Wo? Wie? Warum? meines ersten Werkes, der »Problematischen Naturen« nach bestem Wissen und Gewissen einiges mitzuteilen gedenke, seine Erwartungen nicht zu hoch spanne.

Die »Problematischen Naturen« sind wirklich mein erstes Werk, wenn auch in dem Katalog meiner Schriften einige frühere Nummern verzeichnet stehen. Aber die Novelle »Clara Vere« ist, recht betrachtet, nur eine Schülerarbeit, bei der mir freilich kein Meister über die Achsel gesehen hat; eine Probeschrift zu eigenem Gebrauch, mir selbst darüber klar zu werden, wie weit ich es in der Einsicht des Weltgetriebes und der Darstellung von Menschen ungefähr gebracht; alles in allem ein Produkt, in welchem ich noch nicht eigentlich ich selbst bin.

Diesen ausgeprägten Stempel der Ichheit aber muß meiner Ansicht nach jedes Erstlingswerk, das so genannt zu werden verdient, an der Stirn tragen, wenn der Autor sich auch in den wenigsten Fällen mit seinem Ich hervorwagt, sondern sich etwa hinter einem Jüngling versteckt, den er Werther nennt, oder unter dem Pseudonym Karl Moor in die böhmischen Wälder zieht. Ich traue dem dichterischen Genius der Leute nicht, die, um sich selbst zu finden, in 194 ein fremdes Land, wo möglich in eine ferne Zeit nach einem Erstlingshelden suchen gehen müssen, mit dem sie gerade soviel Ähnlichkeit haben, wie Hamlet zwischen sich und dem Herkules konstatiert. Das mag dann von ihrer Objektivität, ihrer Belesenheit, ihrer klassischen und sonstigen Bildung, ihrem Sinn für die schöne Form (goethesierend natürlich!) und andern schätzenswerten Eigenschaften ein glänzendes Zeugnis geben; sie mögen von pedantischen Schulgelehrten und solchen, die niemals weiter als bis in den Vorhof der Kunst gelangen, als die wahren Musterknaben der Poesie gepriesen und als solche durch die Literaturgeschichten geschleppt werden – ich kann ihnen höchstens den Rang eines vortrefflichen Schriftstellers zubilligen, eines Dichters nicht. Eines wahren Dichters Erstlingswerk wird immer eine Beichte sein. Eine Beichte, auch wenn man sie dem Publikum ablegt, ist zweifellos eine intime Angelegenheit, vorausgesetzt, daß der Beichtende die Sache »nicht nur so mitmacht«, weil »es einmal dazu gehört«, sondern ihm etwas auf dem Herzen drückt, das er herunter haben muß, wenn er wieder frei soll atmen und ruhig schlafen können. Jene Leute aber haben nichts zu beichten, das nicht ein anderer an ihrer Stelle ebensogut vorbringen könnte: kein individuelles Erlebnis, das ihre Seele bis in den tiefsten Grund aufwühlte und ihnen Himmel und Hölle war; kein Leiden, das ihnen aus den öffentlichen Zuständen erwuchs und sich im Laufe der Zeit bis zur Unerträglichkeit steigerte; nicht mit »denen, da droben« zu hadern und keine Anklage »in tyrannos« dieser Erde zu erheben. Nicht heiß und nicht kalt ist, was aus ihrem Munde geht. So kann ihre Rede auch nicht »sturmschritts erobern warme Menschenherzen«, und »in usum delphini« ist das einzige, was sie füglich auf das erste Blatt ihres ersten Werkes setzen dürfen. Das hat 195 dann freilich den Vorteil für den lauen Herrn, daß weder die ganze noch die halbe Welt sich über ihn ärgert; niemand darüber jammert, er habe ihm sein Armesündergesicht im Spiegel gezeigt, oder ihn sonst in seinen heiligsten Gefühlen verletzt; im Gegenteil: alle Welt in das Lob seiner gesellschaftlichen und ästhetischen Korrektheit, moralischen und politischen Ungefährlichkeit einstimmt, und er, wenn Gott will, noch bei Lebzeiten den Triumph hat, auf die Bank der Klassiker gesetzt zu werden.

Habeat sibi! –

Mit meiner Beichte hatte es gute Weile: ich war, bis die erste Abteilung der »Problematischen Naturen« erschien, schier dreißig Jahre alt geworden. Wie das so kam – und, weil's so kam, vermutlich so kommen mußte – in meiner Autobiographie »Finder und Erfinder« (Leipzig 1887. L. Staackmanns Verlag) habe ich es zu erklären versucht und ich muß den Leser, der sich für die Einzelheiten des Falles interessiert, auf diese zweibändige Relation verweisen. An dieser Stelle kann ich nichts, als versuchen, sein Augenmerk auf die Hauptpunkte zu richten, welche in der längeren Erzählung, von Beiwerk überwuchert, vielleicht weniger deutlich hervortreten, und ein und das andere Moment, dessen Bedeutung für den Prozeß mir selbst nachträglich erst aufgegangen ist, schärfer zu accentuieren.

Ich bedaure nachträglich gar nicht, daß ich mir zur Formulierung meiner Beichte so viel Zeit ließ. Möglicherweise ist sogar, um das dreißigste Jahr herum den großen Wurf zu wagen, jedem zu raten, der den Drang in sich spürt, in Zukunft das leve vulgus, Publikum genannt, zum obersten Richter über seine poetischen Thathandlungen zu machen. Nur daß man den Leuten nicht zu raten braucht, was die Natur gemeiniglich in die eigne starke Hand nimmt, 196 und den Arm, der schon längst vor Begierde zittert, ganz einfach zwingt, den Speer zu entsenden. Sehr begreiflich! Sie sagt sich: jetzt, oder nie ist der Mann im stande, zu zeigen, was er kann. Er steht in der Akme seiner durch jahrelange Übung gestählten physischen und geistigen Kraft; noch haben Fehlschläge ihm nicht das Vertrauen zu sich selbst geraubt; noch glaubt er an die Echtheit goldner Zukunftswolken, noch an die Verwirklichung seiner Ideale und die Perfektibilität der Menschen. Einige Jahre früher würde dieses oder jenes Moment fehlen, auf das ich für die beabsichtigte Wirkung rechnen muß; ein paar Jahre später werden wieder andre, die sich inzwischen dazu gesellt, hemmend eingreifen. Also frisch ans Werk!

Ich gebe gern zu: auch hier schickt sich eines nicht für alle. Eine schnelllebige Zeit wird ihre jungen Krieger früher auf den Kampfplatz führen, und zu jeder Zeit gab es Heißsporne, die das feurige Blut nicht schlafen läßt und die aufstehen und ihre Stimme erheben, bevor die jüngsten Hähne krähen. Meine Jugend fiel in eine Periode, in der die Nacht länger war als der Tag; die Nachtwächter sehr auf ihren Dienst paßten und die sanftesten Schlummerlieder zu tuten wußten. Dazu war ich kein Percy, hatte im Gegenteil eine tüchtige Portion jener Temperamentseigenschaft, mit der »Frankreich« Cordelias spröde Zurückhaltung entschuldigen will und sie, höflich, wie er ist, »ein Zaudern der Natur« nennt, »das oft die That unausgesprochen läßt, die es zu thun gedenkt.« Was aber vielleicht in der Sache den Ausschlag gab: ich empfand nichts, oder doch sehr wenig von dem Stachel, den andre fortwährend in ihrem Fleisch fühlen, und der sie rastlos vorwärts treibt: dem Stachel des Ehrgeizes; und es ist wahrlich keine Ruhmredigkeit, sondern eher das Gegenteil, wenn ich mir – wenigstens für jene Zeit, und auffallend habe ich mich in dieser Beziehung bis auf den heutigen Tag nicht verändert – die Gesinnung des etwas stark schrullenhaften, weltfremden, »ausgewanderten« Freiligrathschen Dichters vindizierte und sein vermessenes Wort zu dem meinigen machte: »Fahr hin, o Welt! Im Herzen trag' ich Welten.«

Trotz alledem hatte ich, bis es zur eigentlichen Beichte kam, mein übervolles Herz nicht durchaus wahren können.

Es wird in der Dämmerstunde eines Herbstabends im Jahre 51 gewesen sein, als ich meiner Schwester, die ich sehr liebte und trotz ihrer großen Jugend zur Vertrautin meiner seelischen Freuden und Leiden machen durfte, einen Roman erzählte, der im Grunde nichts anderes war als die »Problematischen Naturen«. Ich sage: im Grunde, denn, hatte auch der erzählte Roman mit dem soviel später geschriebenen, was die Fabel betraf, nur eine entfernte Ähnlichkeit – die Hauptsache, ich meine: die Hauptperson war da: der Held, der, wenn er sich nicht mein Spiegelbild nennen durfte, doch mit dem Erzähler eine ausgeprägte Familienähnlichkeit aufwies. Und nicht er allein erschien mit voller Deutlichkeit auf der Bildfläche. In seinem Gefolge befanden sich verschiedene Gestalten, schon nicht mehr schwankend, vielmehr in klaren, scharfen Umrissen – die Gestalten derjenigen meiner Freunde, welchen ich den stärksten Einfluß auf den Gang meiner Entwickelung zusprechen mußte, und die denn auch, wie sie damals fest vor meines Geistes Aug' standen, in den Roman übergegangen sind.

Was aber wichtiger noch und etwas ganz anderes zu sein scheint, während es dasselbe nur mit andern Worten sagt und mit dem Helden völlig identisch ist: der Gesichtswinkel, unter welchem der junge Poet das Weltfragment sah, das er zu schildern gedachte, war in dem erzählten 198 Roman der nämliche, welcher für den geschriebenen zur Anwendung kam. Der ganze Unterschied bestand darin, daß das betreffende Weltfragment im Laufe der Jahre naturgemäß an Weite und Breite gewann und Raum gewährte für eine Fülle von Personen, deren Bekanntschaft ich noch zu machen hatte, darunter allerdings auch unterschiedliche sind, ohne die sich der Leser den Roman nicht wohl vorstellen könnte. Auch war es nicht bei diesem rhapsodischen Erguß vom Brudermunde zum Schwesterohr geblieben. Ich hatte ein paar Jahre später etwas erlebt, das mir eine Quelle hohen Glückes gewesen war, um mir – und leider nicht mir allein – nachträglich viel heiße Thränen zu kosten, und natürlich, wie alles Bedeutsame, das ich erlebte, als Stoff in den Roman einfließen sollte. Je öfter ich aber in Gedanken – denn noch immer war kein Wort zu Papier gebracht – diesen Stoff überschlug, um so drückender wurde für mich die Empfindung der Masse, welche sich im Laufe der Jahre angehäuft hatte, und daß ich niemals im stande sein würde, sie zu bewältigen. Da brauchte denn bloß die Versucherin Not in Gestalt einer Zeitungsredaktion, die durchaus eine Erzählung von mir haben wollte, an mich heranzutreten, und die Novelle »Auf der Düne« war in wenigen Wochen fertig und gab sich als ein selbständiges kleines Werk aus, trotzdem sie ursprünglich nichts als ein integrierendes Stück des großen Romans gewesen war und als solches monatelang angefangen im Kasten gelegen hatte. So entstand in dem Roman eine Lücke, die niemals richtig wieder ausgefüllt und nur, sozusagen, überkleistert wurde. Sie findet sich da, wo Oswald, der Hauslehrer, in den Ferien an die See geht, um, wie der ursprüngliche Plan war, eben die in der Novelle geschilderten Ereignisse, wie die Sache jetzt steht, schlechterdings nichts zu erleben und, da er doch 199 nicht ewig müßig aufs Meer starren konnte, von einem deus ex machina in Gestalt des jungen Doktor Braun nach Grenwitz zurückgeholt zu werden. Als Fielding einst ein Theaterstück aufführen ließ und Leute im Parterre bei einer Scene, deren Schwäche er selbst sehr wohl kannte, anfingen zu pfeifen, wandte er sich lächelnd zu seinem Begleiter mit den Worten: The sly dogs! they have found it out! Keiner meiner Kritiker hat mir, den mit gröbstem Zwirn zugenähten Riß in dem Gewebe des Romans aufzeigend, Gelegenheit gegeben, meine Kaltblütigkeit einem begründeten Tadel gegenüber an Tag zu legen. Freilich, wer verlangt denn auch von der Fabel eines Romans die Folgerichtigkeit, mit der die eines Dramas aufgebaut sein muß! Nicht die Kritik, und nicht das Publikum! Ach, und wie innig wäre zu wünschen, daß die Fieldingschen Pfeifer im Parterre auch für die Romane existierten! Sie müßten freilich, wenn sie ihres Amtes gewissenhaft walten wollten, einen gar mächtigen Atem haben! Und dann wäre noch darauf zu wetten, daß von neunundneunzig Malen unter hundert die Ausgepfiffenen nicht wüßten, warum gepfiffen wird.

Dann – so um das Jahr 54 – wurde mir des Rumorens in Kopf und Herzen doch zu viel und ich ging ernstlich daran, dem Spuk ein Ende zu machen, die Schemen einzeln bei ihren Namen zu rufen, sie vom Blute – man nimmt da bekanntlich, faute de mieux, sein eigenes – trinken zu lassen und so zur Rede zu zwingen.

Aber der Beschwörungsprozeß ging nur langsam von statten. Es kamen da so manche Zwischenfälle, welche den Zauber, der die völlige Hingabe des Beschwörers an die Sache, die straffste Sammlung seiner Geisteskräfte und nebenbei auch noch die tiefste Stille rings um den geweihten Kreis erfordert, auf die unliebsamste Weise störten. Vielleicht ist 200 es übel eingerichtet, leider aber nicht zu ändern, daß man, um schreiben zu können, auch zu leben haben muß. Zu diesem banausischen Zweck nun war ich genötigt, vieles zu thun, was ja soweit ganz ehrenvoll war und auch den nicht zu entbehrenden bescheidenen Gewinn brachte, aber mir einmal über das andere die wehmütige Frage der Müllerlieder: »Ist das denn meine Straße?« auspreßte. Ach Gott, es war nicht meine Straße, die mich Tag für Tag in das Leipziger Moderne Gesamtgymnasium führte, wo ich widerspenstige Buben in die Geheimnisse der deutschen und englischen Grammatik einzuweihen hatte, oder nebenan in die dem Gymnasium angeschlossene höhere Töchterschule, dort mit willigen Mägdelein J'aime, tu aimes zu konjugieren! Nicht meine Straße, die in die Sackgasse von Verlegern auslief, denen ich für schnöden Lohn fremden Ungeschmack vertieren sollte! Und wenn auch sicher die preußischen sechswöchentlichen Reserveübungen pro patria waren, und ich zweifellos die heilige anno 59 bei der famosen Mobilmachung mehrere Monate hindurch aus allen Kräften retten half – mein Roman, an dem ich oft genug nur nächtlicherweile ein paar Stunden schreiben konnte, und der ein andermal wer weiß wie lange unberührt im Pulte lag, kam nur mit Schneckenlangsamkeit aus der Stelle; wenn das so fortging, konnte ich, bevor ich meine Beichte beendet hatte, das Alter der weißköpfigen Krähe erreichen. Und Don Carlos beklagt sich, daß er mit zweiundzwanzig Jahren noch nichts für die Unsterblichkeit gethan!

So ging es also nicht. Ich faßte einen energischen Entschluß, verbrannte das Schulschiff hinter mir, stopfte mir Wachs in die Ohren gegen das Sirenenlocken übersetzungswütiger Verleger und schloß mit der Zeitung für Norddeutschland in Hannover einen Kontrakt ab, laut welchem 201 ich ihrem Feuilleton, ohne daß eine Unterbrechung im Druck stattfände, einen Roman von vier Bänden zu liefern hatte, von denen höchstens einer fertig war und die drei dazu gehörigen andern im Wettkampf mit der Druckerpresse geschrieben sein wollten.

Nun, ich brauchte schon in jenen verhältnismäßig jungen Jahren wenig Schlaf, hatte auch zu arbeiten gelernt; überdies die Sache machte mir ein Vergnügen, von dem der eifrigste Leser sicher niemals den hundertsten Teil empfunden hat, und – ich ging glatt durch das Ziel, den Gegner in für ihn beschämender Weise weit hinter mir lassend.

Dann wurde ich Redakteur desselben Feuilletons, in welcher die erste Abteilung des Romans – weiter war ich in den vier Bänden nicht gelangt – das Licht der Lesewelt erblickt hatte, und schrieb, als solcher, die zweite – abermals in vier Bänden, so meine große Beichte absolvierend.

Eine achtbändige Beichte, in der zehn Jahre meines Lebens steckten!

Und das ist noch zu wenig gesagt: die Quintessenz meines ganzen bisherigen Lebens!

Allerdings wirklich nur die Quintessenz. Von meinen thatsächlichen Erlebnissen waren nichts als Fragmente in den Roman verarbeitet und auch sie hatten es sich gefallen lassen müssen, in dem Tiegel der Phantasie umgeschmolzen und dann in die Form gegossen zu werden, in welcher sie sich dem übrigen Körper des Romans harmonisch angliederten.

Nichts als Fragmente, und auch ihrer waren, je länger ich mich mit dem Stoff trug, und nun gar, als es an die Ausarbeitung ging, immer weniger geworden. Ursprünglich nämlich hatte die Aufgabe, die ich mir gestellt, ungefähr ausgesehen, wie das bekannte Rezept des Bauers: »Mein Herr Maler, will er wohl mich abkonterfeien« – nach 202 welchem allerdings in erster Linie er auf der Leinwand paradieren soll; dann aber auch sein Weib, seine Söhne, Töchter, Knechte, Mägde, Nachbarn, schließlich das ganze Dorf mit seinen sämtlichen Äckern und Wiesen. Allmählich wurde mir klar, daß dabei bestenfalls eine Selbstbiographie herauskäme, nimmermehr ein Roman. So mußte denn gestrichen werden. Erklärlicherweise trafen die Striche besonders hart die ersten Kapitel meines Lebens: die Knaben- und Jünglingsjahre, von denen, wie die Sache jetzt liegt, nur hier und da noch ein wenig zwischen den Zeilen zu lesen ist; oder, innerhalb der Zeilen, nicht anders als maskiert sich an's Licht wagt; z. B. in der Gestalt Brunos. Dann kommt eine Partie – und mit ihr setzt der Roman ein – in welcher die Anleihen, die ich bei meinen wirklichen Erlebnissen mache, sehr stark sind, ja, wo der Held des Romans, und was ihm begegnet, mit der Person des Autors, und was diesem begegnet war, zu einem korinthischen Erz zusammenschmelzen.

Das gilt, wenn man es nicht zu streng nehmen will und bedenkt, wie in einem solchen Falle Wahrheit und Dichtung stets geschwisterlich Hand in Hand gehen müssen, von der ganzen ersten Abteilung. Von der zweiten gilt es nicht mehr, oder doch nur in sehr viel eingeschränkterem Maße.

Denn hier trennen sich die Wege des Autors und des Helden und gehen bis zum Schluß immer weiter auseinander. Um die Geschichte irgend einer »Natur« schreiben zu können, darf man selber keine ebensolche bis ins Mark sein; nur ein Geistesverwandter mit einer gewissen Familienähnlichkeit: nicht toto genere, aber doch soweit verschieden, wie es Brüder zu sein pflegen, die besser harmonieren würden, wenn nicht einer in dem andern fortwährend Züge entdeckte, 203 welche er bei sich selbst keineswegs zu seiner Freude beobachtet hat. Wie unheimlich groß muß die Ähnlichkeit gewesen sein, die Gulliver zwischen sich selbst und dem Jaahoo konstatierte, wenn er vor dem unglücklichen Geschöpf ein solches Grauen empfinden konnte!

Ich bezeichnete oben als das einem Roman sein besonderes Gepräge gebende und seine Bedeutung bestimmende Moment den Gesichtswinkel, unter dem der Autor sein diesmal zur Beobachtung erwähltes Weltfragment gesehen habe, und versicherte, dieser Gesichtswinkel sei für mich von der ersten Conception der problematischen Naturen bis zum Schluß derselbe geblieben, trotz der Erweiterung, welche der Stoff im Laufe der Jahre erfuhr. Darin liegt nichts eben Auffallendes, noch weniger ein Widerspruch. Ich will nicht behaupten, es gehe in dem angeborenen Temperament eines Menschen – und mit dem Temperament in seinem Charakter und mit dem Charakter in seiner Weise, die Welt zu sehen – überhaupt keine Veränderung vor; aber von dem Augenblicke einer gewissen Reise seines Wesens sind für die Folgezeit diese Veränderungen sicherlich sehr gering, und man kann sagen: idem semper vultus eademque frons. Wenn Wallenstein des Menschen Wollen und Handeln zum voraus bestimmen will, sobald er nur erst sein Inneres erkannt, muß er derselben Ansicht gewesen sein. Wieviel von diesen Wollen und Handeln wirklich wird, hängt freilich für das betreffende Individuum von allerlei Zufälligkeiten ab; für Wallensteins Vetter z. B. davon, ob ihn aus der Lützner Schlacht der Schecke wieder heil ins Lager bringt, oder als Schwerverwundeten, oder auch gar nicht. Analog ist denn auch das fragliche Weltfragment, welches unter den Gesichtswinkel fällt, hinsichtlich seiner Ausdehnung nur von relativer Bedeutung. Es kann so sein, wie das in der Ilias ge 204schilderte, d. h. so groß, daß es beinahe die ganze Welt umfaßt, oder so eingeschränkt, wie in Hermann und Dorothea. Ist das kleine Fragment nur mit demselben klaren, liebevollen Auge geschaut, mit derselben gewissenhaften Plastik dargestellt, wie das große, kann man den Gesichtswinkel des Dichters in dem einen Falle genau so scharf bestimmen, wie in dem andern. Womit nicht gesagt sein soll, daß die Größe und Bedeutsamkeit des Objekts für die Wertschätzung des Kunstwerks, zu welcher Art es auch gehöre, völlig gleichgültig sei. Ein Einakter, wäre die in ihm an Tag gelegte Kunst noch so löblich, wird immer hinter dem Hamlet oder dem Makbeth zurückstehen; der Baumeister einer noch so stilvollen Villa dem des Kölner Doms den Vortritt lassen müssen. Doch das nebenbei.

Wie aber soll ich den Gesichtswinkel bestimmen, unter dem der Autor der problematischen Naturen seine Welt sah? Oder es anders auszudrücken: was war die ruling passion seiner Seele? das besondere Pathos, in dessen Färbung sich vor seinem Blick notgedrungen das Menschentreiben tauchte? und von dessen übermächtigem Druck sich zu befreien, dessen qualvolle Glut auszuströmen, er mit allen Kräften rang?

Wie der Hirsch nach Wasser, hatte meine Seele, ich sollte meinen: von dem ersten Augenblicke, da sie »Ich« denken konnte, nach Freiheit geschrieen. Nach der Freiheit, zu leben nach meinem Gutdünken, wenn man darunter versteht, was uns gut deucht nicht im eudämonistischen, sondern moralischen Sinne; nach der Freiheit, mich auszuleben, jede Kraft, die ich in mir fühlte, spielen und wirken zu lassen bis an ihre Grenze; mich frei zu machen von dem Einfluß der Menschen, die mich auf andere Bahnen lenken wollten, als meine Natur mir vorschrieb; von der Macht der Verhältnisse, welche die Autonomie meines Handelns und Wirkens 205 zu bedrohen schienen; zuletzt, und nicht zum geringsten, von den Hindernissen, die, aus dem eignen Innern aufsteigend, der fröhlichen Entfaltung meines Wesens sich entgegenstemmten in Gestalt von schlimmen Neigungen und Begierden, oder Schwächen jeder Art, auch wenn sie sich selbstgefällig als Stärken aufputzten.

Dies war das eine: mein Leben sollte so groß und mächtig sein, wie ich es irgend machen könnte. Sodann ein anderes Verlangen, nicht minder brünstig als jenes: es sollte schön sein; sollte für mich erraffen, was es an Schönem, in welcher Form immer, zu erraffen vermöchte. Es versteht sich von selbst, daß es kürzere oder längere Zeit währen muß, bis ein junger Mensch, wenn er auch die Regungen solcher Leidenschaften lebhaft in sich spürt, über ihre Natur klar wird, und daß sie ein für allemal die bestimmenden Momente seines Lebens sind; daß er dazu geboren ist, ein Freidenker, Tyrannenhasser, Republikaner zu sein; und keine Einreden von Vettern und Basen und keine Mißgunst der Verhältnisse ihn auf die Dauer davon abhalten werden, sein Heil als Künstler zu versuchen. Ich darf sagen: verhältnismäßig recht frühzeitig bin ich mir in meinem dunklen Drange des rechten Weges – des Weges, den ich, wie ich nun einmal war, allein gehen konnte – bewußt gewesen; und dies Bewußtsein war es auch wohl, was mich vor der Überhast schützte, die so viele längst vor dem erstrebten Ziele zusammenbrechen läßt.

Aber der Kampf mit den unholden Mächten, die dem Schwärmer für Freiheit und Schönheit sich von außen entgegentürmen, oder ihm aus seinem Innern neckend und schreckend erwachsen, war mir nicht erspart geblieben; und nicht das Grausen vor dem Abgrund, an dessen Rand ich wandelte; und nicht die schaudervolle Gewißheit, daß, wer 206 sein Freiheits- und Schönheitspathos zum seelen- und körperzerrüttenden Rausch ausarten läßt, unfehlbar in den Schlund hinabstürzt. Die »Problematischen Naturen« sind die Geschichte eines solchen Unglücklichen.

Armer Halbbruder! Ich konnte mit dir in vollen Zügen den herben Atem des Meeres trinken und die balsamische Luft, die über blühende Gärten weht, und den Würzduft, der aus frischumpflügten Ackerbreiten steigt; mich im Waldesschatten am Rand des schilfumflüsterten Sees mit dir einspinnen in bunte Märchenträume von der blauen Blume, die im stillverborgenen Felsenthale wächst, und schönen Frauen, die den schäumenden Renner zügeln, dir gütig lächelnd die schlanke Hand zu reichen; konnte mit dir sinnen und dichten, grübeln und philosophieren, scherzen und spotten – spotten der Dichterlinge und ihrer Gesellinnen; der augenverdrehenden Pfaffen und ihres Gelichters; der sporenklirrenden Junker und ihrer hochnasigen Weiber. Und mit dir trauern um einen herrlichen Knaben-Jüngling, vom herben Geschick dahingerafft in seiner Maienblüte. Und aus voller Seele mit dir hassen alles, was in Staat und Gesellschaft sich übermütig spreizt und bläht und gierig von dem Schweiß der vielen mästet, deren Nähe es doch, wie die Pest, flieht; und Sonderrechte arrogiert, die ihm die Gnade eines Gottes zugeteilt haben soll, den es sich nach seinem schnöden Ebenbilde machte. Das konnte ich und hab's redlich gethan.

Und es wurde mir nicht leicht und mein Herz hat geblutet, als ich mich von dir trennen mußte, um nicht mit dir einzulenken in das fluchbeladene Land, da in der stechenden Sonne rücksichtsloser Leidenschaft keine holden Blütenträume mehr reifen, und der Acker ihm, der zu arbeiten verlernt hat, keine nährende Frucht länger bringt. Und hab' es dir so von ganzem Herzen gegönnt, daß, wie verfehlt 207 auch sonst dein Leben war und du selbst bankerott an Glauben und Hoffnung und Liebe, du wenigstens sterben durftest mit vielen Hunderten, die braver waren als du, für eine Idee, die, tausendmal blutig gegeißelt und schmählich ans Kreuz geschlagen, immer wieder aus dem Grabe erstehen und endlich die Welt besiegen wird.

—————

208


 << zurück weiter >>