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Hanna, du treibst es gar arg! Du gehst davon mit dem Dritten;
Aber wer steht uns dafür, daß bei dem Dritten es bleibt?
Ich hatte mir vorgenommen, bei diesen dramaturgischen Versuchen die Inhaltsanalysen, wenn irgend möglich, wegzulassen, da ich die Bekanntschaft des Lesers mit dem betreffenden Drama, sei es von der Bühne her, sei es durch Lektüre, wohl voraussetzen darf. Beides nun dürfte bei »Hanna Jagert« nicht zutreffen: jedenfalls ist das Stück nicht eben häufig gegeben. Dennoch ist es so charakteristisch für die Tendenzen und die Manier der jungen Schule, daß es eine ausführliche Besprechung durchaus verlohnt, der ich denn aus dem angegebenen Grunde eine Inhaltsangabe vorausschicken muß.
Hanna Jagert, die Tochter fleißiger und ehrbarer Handwerksleute, hat sich früh in die socialdemokratische Bewegung geworfen und vor allem in den Frauenversammlungen als erfolgreiche Rednerin eine hervorragende Rolle gespielt. In diesen ihren Bestrebungen ist sie unter anderen einem jungen Schriftsetzer Konrad Thieme begegnet, und hat für diesen »Genossen« eine Verehrung empfunden, die er wegen seines »ehrlichen, unerschütterlichen Mannesmutes«, seines »festen Glaubens« an die demokratischen Ideale auch vollauf – in socialdemokratischen Augen wenigstens – verdient. Schließlich ist sie seine Verlobte geworden, ohne daß »leidenschaft 245liche Gefühle«, die sie sich »nun einmal versagt« glaubt, ihr Herz bewegt hätten. Konrad wird zu drei Jahren Gefängnis verurteilt; aber bereits nach zwei Jahren begnadigt. Das Stück beginnt am Abend des Tages seiner Freilassung. Er findet die Braut nicht, wie er sie verlassen hat. Die alten Ideale gelten ihr nichts mehr. Sie hat entdeckt, daß man, bevor man für das Allgemeinwohl arbeitet, erst selbst einmal etwas Tüchtiges aus sich machen müsse. Diese Entdeckung ist ihr durch einen anderen vermittelt. Lassen wir sie selber sprechen: »Vor einem Jahr etwa lernte ich einen Mann kennen. Der hat mich zu einem ganz anderen Menschen gemacht. Er hat mich nach und nach ganz umgestaltet.« Sie fügt hinzu: »Ich habe mich ihm mit Leib und Seele hingeben müssen.« Der biedere Vater, ein rabbiater, herzlich bornierter Socialdemokrat, wütet und schimpft; die brave Mutter ist außer sich; Konrad bricht vor Schmerz in krampfhaftes Weinen aus. Hanna hat für all diesen Jammer nichts als das lakonische: »Ich that, was ich mußte. Ich konnte nicht anders.« Der Vater, der den Erklärungsgrund begreiflicherweise nicht zureichend findet, treibt die renegate Tochter aus dem Hause. Der verlassene Bräutigam erklärt, daß er noch mit ihr abzurechnen habe. – Damit schließt der erste der drei Akte.
Der zweite spielt in Hannas »Kontor«. Mit Hilfe der Subvention jenes Mannes, dem sie ihre intellektuelle und sonstige seelische Metamorphose verdankt, des Dr. Könitz, hat sie sich selbständig machen und ein flottgehendes Damengarderobe-Geschäft einrichten können. Über noch unterschiedliches Andere ihrer häuslich-geschäftlichen Verhältnisse werden wir im Verlauf einer längeren Unterredung unterrichtet, die sie mit ihrem Hauswirt hat, der ihr schließlich den Besuch eines ihm selbst unbekannten Gastes seiner Weinstube an 246kündigt. Der Angekündigte erscheint alsbald in der Person des alten Großonkels eines Freundes ihres Beschützers, der zugleich ihr Freund ist: des jungen Barons Vernier. Der alte Herr kommt von seinem westfälischen Gute, wo ihm die begeisterten Briefe, die sein Neffe ihm über Hanna geschrieben, keine Ruhe gelassen haben. Hanna beschwichtigt den Aufgeregten. Bernhard sei in erster Linie der Freund ihres Freundes; »bis auf den heutigen Tag habe sie ihn niemals unter vier Augen gesprochen, kein einziges Wort sei zwischen ihnen gefallen, mit dem er sich hätte »verplempern« können; schließlich, daß »ihr nichts ferner liege, als der Ehrgeiz, Freifrau von Vernier zu werden.« Der Alte geht seelenvergnügt ab, nachdem er noch die Bekanntschaft des Dr. Könitz gemacht hat, der Hanna zu besuchen gekommen ist. Zwischen den beiden nun findet eine gründliche, allerdings hochnötige Aussprache statt. Zuerst erfahren wir, daß Konrad jener Zeit ein Attentat auf seinen begünstigten Nebenbuhler machte und ihn zeitlebens zum Krüppel schoß, worauf er nach Amerika entflohen ist, von wo aus er diesem eine Art von Entschuldigungsbrief schreibt. Nun der eigentliche Grund seines Kommens. Er hat schon seit einiger Zeit gefühlt, daß Hanna das Verhältnis mit ihm innerlich nicht befriedigt. »Sieh mal,« sagt er, »wir wollen es uns nicht verhehlen: es ist anders mit uns gekommen, als wir es uns gedacht haben. – Woran es gelegen, das ist schwer zu sagen; und im Grunde, jetzt kann es uns gleich sein.« – In diesem unheimlich mysteriösen Ton geht die Unterredung weiter. Nur soviel ist klar: der Doktor hat, um mich eines Ausdrucks aus der Ökonomie zu bedienen, abgewirtschaftet; sein Stolz erträgt dies durchbohrende Gefühl nicht; sein Edelmut baut der Fliehenden eine bequeme Brücke; mit der Entgegennahme der letzten tausend Mark, die sie ihm schuldet, giebt 247 er ihr ihre Freiheit wieder. Er geht, den zu rufen, dem er Platz gemacht hat, und von dem er, wenn sie ihn auch augenblicklich nicht erwartet, weiß, daß er ihr jeden Augenblick willkommen ist: den jungen Baron. Der kommt; erklärt, daß der Großonkel seine Briefe nicht falsch verstanden habe. Die Liebenden sinken sich in die Arme. Diese Schlußscene wurde bei der Ausführung weggelassen aus Gründen, die aus dem folgenden erhellen werden, und doch mit Unrecht, da sie die einzige, wenn auch schwankende Brücke von dem zweiten zu dem dritten Akt bildet.
Der Schauplatz des dritten Aktes ist Hannas »Privatwohnung«. Hanna gilt ihrer Familie als Maitresse des Barons, worüber sie, wenn sie's noch nicht wissen sollte, durch ihre Cousine Lieschen belehrt wird, die ihr auch mitteilt, daß Konrad, über diese neue Wendung der Dinge empört, aus Amerika zurück und nach Berlin gekommen ist, um die bereits im ersten Akte angedrohte, infolge seiner günstigeren Auffassung ihres früheren Verhältnisses hinausgeschobene »Abrechnung« mit ihr endlich vorzunehmen. Bernhard, der seinen abendlichen Besuch macht, ahnt nichts von der Gefahr, welche die Geliebte bedroht; dafür ist der Doktor von allem unterrichtet und stellt sich als getreuer Eckart rechtzeitig ein, den rabbiaten Menschen im betreffenden Augenblick mores zu lehren. Der junge Baron – Hanna hat ihn allein gelassen, sie muß noch einmal in das Geschäft hinunter – ist aus guten Gründen »höchst erstaunt«, den Doktor zu sehen. Der ältere und der jüngere Freund haben Zeit zu einer längeren Unterredung, in der es sich selbstverständlich wesentlich um Hanna handelt. Bernhard beklagt sich, daß Hanna »von ihm gar nichts annehme«; die Behandlung, die er in ihrem Hause zu erdulden habe, »jeder Beschreibung spotte«; ihm ein solches Verhältnis zwischen Mann und Weib »direkt verdreht vorkomme«. Er bekennt, 248 »schrecklich wenig darüber zu wissen, wie sie eigentlich geworden ist«, und deutet an, daß ihm nach dieser Seite einige Auskunft erwünscht wäre, die ihm natürlich keiner besser geben könne, als ihr »Erzieher«. Der Doktor läßt sich zu dieser Auskunft herbei. Sie ist nicht sehr ausführlich, im Grunde nichts weiter als eine Umschreibung von Hannas Phrase im ersten Akt: »Er hat mich zu einem ganz anderen Menschen gemacht.« Ein bemerkenswertes Wort fällt: »Hungrig und durstig war sie zu mir gekommen. Es war ja wie eine neue Welt für sie! Wie eine neue Religion der Schönheit, der Kunst, des Genusses … Und nun das Herz, das Gemüt und die lieben Sinne – es war ein Jammer mit anzusehen. Da hab ich ihr nun alle Thüren weit geöffnet!« – Bernhard fragt, ob er denn nie daran gedacht habe, die Geliebte zu heiraten? Wohl hat er daran gedacht; aber »sie wollte nicht«. Bernhard ist das unverständlich, neu. Auch der Doktor findet, »es gehe wider die Natur«; aber es habe ihn nicht abgeschreckt, »die Fahne der Wissenschaft und der Philosophie des freien Menschentums aufrecht zu erhalten«. Hermann fühlt sich durch diese Mitteilung keineswegs niedergeschlagen. Im Gegenteil! Ein Entschluß, »mit dem er sich schon lange getragen«, ist jetzt in ihm gereift. Er wird Hanna noch heute fragen, »ob sie seine Frau werden will«. Wozu der Doktor die ironische Bemerkung macht: »Warum wollen Sie sich den schönen Abend verderben?« Indessen, Konrad kann jeden Augenblick kommen; der Doktor bereitet Bernhard auf den unliebsamen Besuch vor, und daß Konrad nichts Geringeres im Sinne habe, als Hanna totzuschießen. Er hat sich deshalb für einen eventuellen schlimmsten Fall selbst mit einem Revolver versehen. Doch von den Mordinstrumenten, als Konrad nun wirklich – mit Hanna – erscheint, wird kein Gebrauch 249 gemacht. Hanna erklärt noch einmal ihren socialen Standpunkt, auf dem ihr » jede Form der Vergewaltigung« hassenswert erscheine; und weiter, daß sie – immer von diesem Standpunkte aus – sich von dem Doktor freigemacht habe und von Bernhard nicht freimache, weil sie ihn liebe. Übrigens wolle sie lieber seine (Bernhards) Maitresse heißen, als seine Braut, aus Furcht, auch nur den Verdacht zu erregen, als habe sie »gnädige Frau« werden wollen, in welcher Furcht dann nebenbei auch ihr herrisches Benehmen, über das sich Bernhard vorher gegen den Doktor so bitter beklagt, seinen Grund habe. – Konrad ist mit dieser Erklärung wohl zufrieden. Er bekennt, daß sie, die »ihre Gesetze in sich selbst« habe, ihm so wenig als einem anderen Rechenschaft schuldig sei, und geht, während der Doktor ihm folgt, der ihm noch irgend etwas sagen will. Die Liebenden sind allein. Bernhard bittet sie, sein Weib zu werden, worauf sie »lächelnd, leise« antwortet: »Bin ich das nicht?« Er versteht es anders, versteht darunter eine legitime Heirat. Was ihr mehr gelte: »ihre Prinzipientreue, oder er und sie?« Hanna gesteht, dem letzteren Teil der Alternative den Vorzug zu geben, aber freilich: »Ich für mich allein, ich hätte nie daran gedacht, aber –«, worauf sie dem freudig erschrockenen Geliebten ein süßes, intimes Geständnis macht. Der Doktor, der, zurückkommend, sieht, wie die Sache steht, erklärt sich Hannas Sinnesänderung auf seine Weise. Er sagt: »Sie hat eben Humor.«
Dies, abgesehen von einigen Einzelheiten, deren Mitteilung zum Verständnis des Ganzen nichts wesentliches beigetragen haben würde, ist der, glaube ich, mit gewissenhafter Treue wiedergegebene Inhalt des Stückes.
Ich habe oben gesagt, ich dürfe mir und dem Leser diese Analyse nicht ersparen, um einen Nachweis führen zu 250 können, der mir in mehr als einer Hinsicht von Wichtigkeit scheint.
Den Nachweis nämlich, daß »Hanna Jagert« kein Drama ist, wenigstens nicht in dem Sinne, den man statuieren muß, soll überhaupt noch von dem Drama als einer bestimmten Kunstgattung die Rede sein.
Denn, mag man sich drehen und wenden, wie man will: das Drama ist und bleibt eine durch Darstellung vermittelte Vorführung einer Handlung; und je vollständiger und präciser, je erschöpfender und klarer uns der Dichter diese Handlung in allen ihren Phasen vorzuführen vermag, um so vortrefflicher werden wir sein Werk nennen müssen, einen um so tieferen, reineren und nachhaltigeren Eindruck wird es auf den Zuschauer hervorbringen. Diese Handlung – das ist ihr Begriff – muß eine im strengsten Sinne einheitliche sein, d. h. sie muß an einem ganz bestimmten Punkte einsetzen, zu einem ganz bestimmten Punkte hinstreben, und, um das zu können, einen Träger haben, einen bestimmten Menschen, der, vor unsern Augen, so oder so, in das Weltgetriebe verstrickt, sich kämpfend aus dieser Verstrickung zu lösen sucht, respektive – in der Tragödie – in diesem Kampfe erliegt, welchen Träger der Handlung und Geranten ihrer Einheitlichkeit wir dann den Helden des Dramas nennen. Gerhart Hauptmanns »Weber« haben keinen Helden, und deshalb ist das Werk kein Drama, sondern nur eine Aneinanderreihung dramatischer Scenen, Variationen – meinetwegen in der Wirkung gesteigerte, aber im Grunde beliebige Variationen – des identischen Themas.
Nun wird der Leser sagen: in Hartlebens Stück haben wir doch einen Helden, oder, was auf dasselbe hinauskommt: eine Heldin, nach der es nebenbei sogar benannt ist; und, 251 wenn du durchaus eine Handlung haben willst, ist das uns in verschiedenen Entwickelungsphasen vorgeführte Ringen einer energischen Frauenseele nach dem Recht freier Selbstbestimmung nicht auch als Handlung zu bezeichnen?
Gewiß: die Qualifikation Hanna Jagerts zu dem dramatischen Ehrenposten ist nicht zu leugnen; aber wie steht es mit der Handlung? der einheitlichen, d. h. nicht durch beliebige unterschiedliche, sondern durch alle ihre Phasen klargelegten? Kann von einer solchen in dem Stücke die Rede sein? Der Leser urteile doch selbst! Hat er den Faden in der Entwickelungsgeschichte Hannas nun, da er diese Geschichte, soviel uns davon der Dichter mitzuteilen für gut fand, gründlich kennt, wirklich in der Hand? Oder bemerkt er zu seinem Erstaunen, daß es nur einzelne Fäden sind, von denen der Dichter nur einige zusammenzuknüpfen versucht hat, während andere lose in der Luft flattern? Ich glaube, doch wohl das letztere. Nur bis zum Schluß des ersten Aktes ist der Faden vollkommen straff, und er kann für sich als ein selbständiges kleines Drama gelten: das Sichlosreißen der Haustochter und Verlobten aus einer Verstrickung, von der wir, rekonstruierend, wissen, wie sie in dieselbe geraten, ebenso wie wir durchaus begreifen, daß sie, wie sie nun einmal ist, sich losreißen muß und – kann.
So erzielte denn auch dieser Akt bei der ersten Aufführung einen großen, verdienten Beifall.
Aber bereits mit dem zweiten Akt ist für den Leser oder Zuschauer – zwei Ausdrücke, die ich durchaus promiscue gebrauche, – der Faden zerrissen, dergestalt, daß ich fast versucht bin, anzunehmen, es sei hier ein ganzer Akt ausgefallen und der jetzige zweite in Wirklichkeit der dritte. Stehen wir doch mit diesem Akte – er spielt anderthalb Jahre nach dem ersten – bereits am Ausgang von Hannas 252 Verhältnis mit Dr. Könitz. Zwar verstattet uns der Dichter, wie wir gesehen haben, einige Rückblicke in dies Verhältnis; aber wie vieles bleibt da noch in Dunkel gehüllt! Wie breit sind der Vermutung Thor und Thür geöffnet! Kommt einem freundlichen Gemüte doch sogar der Zweifel, ob Hannas Wort im ersten Akt, daß sie sich dem Manne, durch dessen Einfluß die große Revolution in ihrem Innern herbeigeführt wurde, »mit Leib und Seele habe hingeben müssen« buchstäblich zu nehmen sei, und man nicht vielmehr auf ein, wenn auch recht intimes, so doch rein freundschaftliches Verhältnis schließen solle! Wenn nur nicht gegen die letztere Annahme so viel, so sehr viel spräche! Dann aber wieder, wenn man sie fallen lassen muß, wie war es möglich, daß Hanna einen Mann, dem sie so unendlich viel verdankte, der, wenn sie ihn auch nicht leidenschaftlich lieben konnte, doch eine Fülle geistiger Qualitäten besaß, für die gerade sie ein schärfstes Verständnis haben mußte, – daß, sage ich, sie diesen Mann, trotzdem er sie zur Gattin begehrte, nicht heiraten wollte, selbst dann nicht, als er um ihrethalben zum Krüppel geschossen war, und sie die beste Gelegenheit hatte – die sich ein edles Weib kaum hätte entgehen lassen – ihm die ungeheure, gegen ihn eingegangene Schuld der Erkenntlichkeit, soviel an ihr war, zu vergüten? Weiter! Stimmt es mit der skrupulösen Ehrlichkeit, die ein erster Zug in Hannas Charakter ist, daß sie dem alten Vernier gegenüber ihre Liebe zu Hermann glattweg verleugnet? Auch dem Doktor, der doch wohl das Recht hätte, ein offenes Bekenntnis zu erwarten, anheimstellt, sich ihren Herzenszustand zu deuten, um, nachdem dieser sie kaum verlassen, dem herbeieilenden nunmehrigen Geliebten in die Arme zu fallen? Oder sollte sie wirklich in diesem Augenblicke erst ihr Herz entdeckt haben? Das sehe wieder der Klugen, ihre Gefühle 253 genau wie die Ziffern ihres Hauptbuches Kontrolierenden gar nicht ähnlich. Und dann! Wer in der Welt hätte von diesem so hochbegabten, das Durchschnittsmaß der Frauen intellektuell so weit überragenden Wesen erwartet, daß sie ihr Herz einem jungen Manne schenken würde, der nach allem, was wir von ihm sehen und hören, zweifellos der unbedeutendste der drei uns vorgeführten Liebhaber, und nichts, aber auch nichts ist als ein angenehmer, in allen Künsten dilettierender Kavalier mit den obligaten abgeschliffenen Umgangsformen? Wieder dieser Kavalier, welche Auffassung hat er von dem Verhältnis Hannas mit dem Freunde? Sagt er von ihr: »kein Engel ist so rein«? Oder hält er den Doktor einfach für seinen »Vorgänger im Reich«? Im ersteren Falle ist er weniger skeptisch, als neunundneunzig von hundert an seiner Stelle sein würden; im letzteren von einer Nachsicht, um die ihn derselbe Prozentsatz nicht beneiden dürfte. Weiter! Würde Hanna den Liebsten auch dann geheiratet haben, wenn sie ihm kein süßes Geheimnis ins Ohr zu flüstern gehabt hätte? Und ist es nicht erlaubt, zu fragen: wozu der Lärm? wenn man so sieht, daß die Vorkämpferin ihres Geschlechts, die gegen jeden Zwang revoltiert, das Joch der Ehe auf den Nacken nimmt unter Umständen, denen jedes beliebige Gänschen von Buchenau dieselbe verständige Rechnung tragen würde? Hat das der schalkhafte Doktor mit seinem: »Sie hat eben Humor« gemeint? Oder sieht er weiter und den Tag kommen, wo die humorvolle Dame sich auf ihre einstigen Freiheitsgelüste besinnt und den Ehehimmel über Westernach zu schwer für sich findet und dem guten Bernhard Zeit giebt, über das genossene Glück nachzudenken, während sie irgendwo im fernen West weiter nach der blauen Blume der absolut freien Liebe sucht? Oder war gar, die Berechtigung 254 dieser freiesten Liebe an einem Exempel nachzuweisen, die Absicht des Dichters, die er nur aus polizeilichen Rücksichten nicht durchführen konnte?
Der Dichter selbst ist schuld an diesen Wirrnissen, er allein. Warum hat er den trefflichsten Romanstoff zu einem Drama verarbeitet, das nun natürlich kein gutes, nur die Dramatisierung unterschiedlicher, nicht einmal immer glücklich ausgewählter Kapitel des betreffenden Romans werden konnte?
Denn so liegt die Sache. Das Thema von »Hanna Jagert«, die Geschichte der Emancipation einer energischen Frauenseele aus der Misere der ökonomischen, moralischen und intellektuellen Verhältnisse, in welche hinein sie geboren wurde, zum freien Menschentum, ist ein so echtes Romanthema, wie das des Wilhelm Meister, oder Copperfield. Nur der epische Künstler hätte vermocht, den Schatz ganz zu heben.
Es taugt nun ein für allemal nichts, die gesonderten Kunstarten zu verquicken.
Entweder wir bekennen uns zu den Lessingschen Prinzipien der reinlichen Sonderung, so werden wir, so können wir wenigstens siegen. Oder wir thun es nicht, so werden wir mit aller aufgewandten Kraft und allem daran gesetztem Talent doch nur zwitterhafte Werke schaffen, über welche, wenn nicht bereits die Gegenwart, so doch ganz gewiß die Folgezeit gleichmütig zur Tagesordnung übergehen wird.
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