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Ich bin der erste! – Nein ich! – Ihr Jungen verdienet es beide;
Aber das seht ihr: zur Zeit kann es der eine nur sein.
Das Drama ist der Dichtungsarten vornehmste. Aristoteles hat es dekretiert. In der beträchtlichen Zeit, welche seitdem vergangen, haben es ihm so viele gedankenvoll und gedankenlos nachgesprochen, daß, wagt heute jemand an der strikten Wahrheit des Satzes zu zweifeln, er – wie es in der Jobsiade heißt – »ein allgemeines Schütteln des Kopfes erregt«. Nun mag man vom ästhetischen Standpunkt über die Sache denken, wie man will – auch der energischste Zweifler an der größeren künstlerischen Würde und Heiligkeit des Dramas wird einräumen müssen: in der Schätzung des Publikums von heute (vielleicht aus ähnlichen oder denselben Gründen wie in der der Athener, für die Aristoteles seine »Poetik« schrieb) nimmt es die höchste Stelle ein, gerade so, wie die junge Litteratur selbst es auf den Schild gehoben hat. Ist doch unter ihren vornehmsten Repräsentanten kaum einer, der nicht entweder für das Theater ausschließlich arbeitete, oder doch den Schwerpunkt seiner dichterischen Thätigkeit in die dramatische Produktion legte. Gerhart Hauptmann hat außer einigen novellistischen Kleinigkeiten bis jetzt nur Dramen geliefert; Hermann Sudermann, der seine Laufbahn mit ein paar recht erfreulichen Romanen begann, verdankt doch seinen Ruf nicht diesen, sondern seinen Dramen, 228 welche erst, rückwärts wirkend, seine novellistischen Erstlinge aus dem relativen Dunkel heraushoben. Ähnliches läßt sich von den anderen Autoren sagen, deren Namen den Theatergängern von heute am geläufigsten sind. Mischt sich in die Schar derer, die um die dramatische Palme ringen, einer und der andere von den älteren Schriftstellern, so scheint diese Ausnahme die Regel nur zu bestätigen: das Hauptkontingent stellen die jüngern und jungen Autoren.
Dabei ist nichts zu verwundern. »Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort,« und wenn das Wort durch die Akustik der Bühne einen besonders sonoren, sich in Ohren und Herz schmeichelnden Klang gewinnt, desto besser. Schnell fertig ist die Jugend auch mit dem Schluß von dem einzelnen Fall, wie ihn das Drama immer nur behandeln kann, auf das Allgemeine; und wenn sie glücklich an einem Beispiel gezeigt hat oder zu haben glaubt, daß der Sohn seine Gebrechen vom Vater überkommen, so sagt sie nicht etwa: dies kann unter anderem sein, sondern meint ganz treuherzig, das Gesetz der Vererbung endgültig auf einem rocher de bronze stabiliert zu haben. Und war Ehrgeiz immer die berechtigte Eigentümlichkeit strebender Jugend und ist er dies vielleicht doppelt und dreifach in unsrer schnelllebigen Zeit – wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben, durch die der Romancier, der Novellist zu den Höhen ihrer Kunst und der Gunst der Leser hinaufsteigen! wie verhältnismäßig leicht sind oder scheinen doch die, durch welche der Theaterdichter sich die Herzen seines Publikums günstigen Falls im Sturm erobert! »Soll und Haben« hat Freytag zu einem berühmten Mann gemacht; aber wahrlich nicht von heute auf morgen. Für den Dramendichter ist es selbst in dem bedächtigen Deutschland möglich, daß er heute als ein dunkler Ehrenmann aufsteht und sich noch an demselben Tage als einer 229 niederlegt, dessen Name morgen früh in aller Mund sein wird. Und das durch ein Werk, welches vielleicht ein halbes Dutzend Druckbogen füllt, und an dem er möglicherweise so viele Wochen gearbeitet hat, als der Romancier Monate an dem seinen. In den Eingang einer Arena, an deren Ausgang solche Preise winken, wird sich die Jugend immer zumeist drängen.
Dazu hat sie eines, was sie zu diesem Kampfe noch besonders befähigt, ja, die conditio sine qua non eines Erfolges auf dem Gebiete ist: die unverbrauchten, kräftigen Nerven, die Hitze und den Staub der theatralischen Arena auszuhalten. Wie drückend diese Hitze, wie atembeklemmend dieser Staub, wissen nur die, welche es schaudernd an sich selbst erfahren. Das Klopfen an die Thüren der Rhadamantus, genannt Theaterdirektoren, bei denen auf ein schroffes Herein! nur allzuoft ein noch schrofferes Hinaus! erfolgt; die bange Sorge vor dem Prokrustes von Regisseur, der das um so viel zu lange, oder so viel zu kurze corpus dramatis in den Rahmen seines dreistündigen Theaterabends zwängt oder reckt; der Graus der »Arrangierprobe«; das Fegefeuer der Spielproben, in denen der Autor belehrt wird, daß seine vorgefaßte Meinung von der Weise, wie die betreffenden Rollen genommen werden sollten, das gleichgültigste Ding von der Welt ist; die verhängnisvolle Rhodus der Première, wo nun endlich getanzt wird und so oft statt der erhofften schmeichlerischen Geigentöne jene fürchterlichen »Pauken und Trompeten« erschallen; das hitzige Fieber des lendemain mit seinem Kreuzfeuer lobender, nörgelnder, »reißender« Kritiken – wer das über sich ergehen, mehr als einmal, vielleicht sogar oft über sich ergehen lassen kann, dessen Brust muß mit dem aes triplex nervenstarken Jugendmutes gepanzert sein. Findet sich dieser Jugendmut noch bei Leuten, über 230 deren Scheitelhaar die Flucht der Jahre keineswegs machtlos hingezogen, so sind sie entweder von der Woge dauerndes Erfolges getragen, oder erfüllt von der chimärischen Hoffnung, durch ihre Hartnäckigkeit den Widerstand der stumpfen Welt schließlich doch zu besiegen, und, so, oder so, gegen die Schrecken des Metier abgestumpft, wie ein Anatom gegen die des Todes.
Daß diese sich in die dramatische Arena stürzende Jugend fast ausnahmslos unter dem Zeichen des Realismus, resp. des Naturalismus kämpft, bedarf, wie die Lage der ästhetischen Dinge zur Zeit bei uns ist, keiner ausdrücklichen Versicherung. Ist diese Lage doch nicht bloß bei uns so und keineswegs zuerst bei uns so gewesen. Im Gegenteil! Nach uralter deutscher Gepflogenheit ließen wir erst die Litteraturen der anderen Kulturnationen den beschwerlichen Pionierdienst leisten: Laufgräben aufwerfen, Minen legen, Mauern und Wälle in die Luft sprengen, den so geschaffenen Trümmerhaufen vielleicht bereits wieder verlassen, bevor wir uns daran gaben, unsrerseits die Festung zu erobern. Wer die Entwickelung der Dinge verfolgt hat, weiß, wie lange die Propheten Ibsens, Tolstois, Zolas Prediger in der Wüste bei uns gewesen sind, bis es ihrer Unermüdlichkeit gelang, eine kleine Gemeinde um sich zu scharen, die dann wieder ihre eifrigen Apostel in alle deutschen Lande schickte, und so, per fas et nefas, aus der ecclesia pressa eine Kirche wurde, die, wenn man der Botschaft glauben darf, ihr triumphierendes Banner über eine zum alleinseligmachenden Naturalismus bekehrte reuige Welt schwingt.
Wobei nur eines merkwürdig ist.
Bekanntlich gehört zu den Fundamentallehren des Naturalismus, wie sie Zola, sein Papst in dem Buche »Le roman expérimental« dekretiert hat, daß der Dichter von heute 231 sich von dem Manne der Wissenschaft nur noch durch die Form unterscheide: »Je ne puis que répéter ce que j'ai dit: si nous mettons la forme, le style à part, le romancier expérimentateur n'est plus qu'un savant spécial, qui emploie l'outil des autres savants, l'observation et l'analyse. Notre domaine est le même que celui du physiologiste, si ce n'est qu'il est plus vaste.« Le roman expérimental p. 48. Dieser größere Umfang der dichterischen Domäne ist nämlich die dem Poeten gegebene Erlaubnis, da, wo der Mann der Wissenschaft an seiner Grenze angekommen zu sein bekennt und über dieselbe hinaus sein: ignorabimus spricht, »exercer notre intuition et précéder la science, quittes à nous tromper parfois, heureux si nous apportons des documents pour la solution des problèmes.« ibid p. 51.
Nun hat sich freilich Zola in den Augen der Naturalisten von der strikten Observanz um seine Heiligkeit, oder doch um derer gutes Teil gebracht gerade dadurch, daß er von der in dem corollarium zu seinem Hauptsatze gewährten Erlaubnis einen zu ausschweifenden Gebrauch machte und der Intuition gegenüber dem Unbekannten einen zu großen Spielraum gestattete; aber eben durch sein abschreckendes Beispiel die eifersüchtige Alleinherrschaft des Fundamentalsatzes in das klarste Licht gesetzt. Die denn auch kein echter Naturalist anzutasten wagt, vielmehr kühn behauptet: kein Dichter, der nicht in die Physiologie der Liebe (um keinen deutlicheren Ausdruck zu gebrauchen) wissenschaftlich eingeweiht ist, dürfe heutigen Tages wagen, die Liebe zu schildern. Als ob ein junger Docent der Anatomie, wenn er sonst Romeoblut in den Adern hat, seine Julia anders lieben würde, als der Sohn der Montagus die seine!
232 Aber gesetzt, die Sache verhalte sich, wie die junge Schule behauptet, und die Wissenschaft, anstatt die ihr angebotene Helfershelferrolle der Dichtkunst, wie sie es zu thun pflegt, lächelnd, oder unwillig zurückzuweisen, acceptierte sie mit tausend Freuden, so will mir doch scheinen, daß gerade die Bühne der am wenigsten geeignete Ort sei, die naturalistische Doktrin zu realisieren. Das Drama kann sich seiner Natur nach nur immer mit einem Einzelfall befassen, und was ist wissenschaftlich mit einem solchen groß bewiesen? Die Wissenschaft freilich würde ja auch mit dem kleinen Gewinn vorliebnehmen, wäre sie nur wenigstens des Beweises sicher. Aber wie wäre der in dem engen dramatischen Rahmen überzeugend zu erbringen? wie allen Nebenumständen die gebührende Rechnung zu tragen? wie das Milieu, aus dem die handelnden Personen wachsen und dessen Produkt sie sind, in seiner Vollständigkeit vorzuführen? Zu dem allen scheint doch höchstens der Roman den nötigen Ellbogenraum zu bieten, nimmermehr aber das Theater, auf dem vielmehr die Gefahr, es werde die naturalistische Doktrin in die Brüche gehen, kaum vermeidlich scheint.
Und auch wirklich in den meisten Fällen nicht vermieden wird. In dem heißen Bemühen, dem famosen Milieu, auf das sein Erfinder Taine in den wissenschaftlichen Untersuchungen einen nicht zu unterschätzenden, von ihm selbst nur vielleicht etwas überschätzten Wert legt, auch im Drama gerecht zu werden, geben die jungen Dichter an dessen Herausgestaltung nicht selten ihre ganze Kraft. Mag ein Nebenumstand mit der Handlung in noch so entferntem Zusammenhange stehen, sobald er in den Gesichtskreis des Dichters gekommen ist, muß er ins Treffen geführt werden. Die Verwechselung der dramatischen mit der epischen Kunst, auf die ich bereits oben hindeutete, tritt dabei manchmal auf das 233 ergötzlichste zu Tage. So in der Kleinkrämerei der scenischen Anweisungen in usum der Regisseure und Schauspieler. Da wird uns kein kleinstes Möbel, kein Kaffeetassenuntersatz geschenkt. Der Stand der Sonne, die atmosphärische Stimmung, ein Blumenduft, der durch das Zimmer weht – das alles sind Dinge von immenser Bedeutung. Da wird jeder Person ihre minutiöse Schilderung mit auf den Weg gegeben: ob sie lang oder kurz, dick oder dünn ist; ob ihr Schädel breit oder oval: welchen Ausdruck ihre Physiognomie in der Ruhe, welchen sie in der Bewegung zeigt; und daß sie beim Gehen, Stehen, Sprechen, Lächeln diese oder jene Gewohnheit hat. Man möchte den Herren immer zurufen: wenn euch diese Dinge schon einmal so ans Herz gewachsen sind, schreibt doch nur gleich Romane und Novellen, wo ihr in dergleichen epischen Details schwelgen könnt!
Und bliebe es bei solchem Gebaren, in dem man ja etwa einen entschuldbaren jugendlichen Übereifer des Dichters, seine Intentionen möglichst klar zu machen, erblicken könnte; aber diese Schilderungssucht fließt aus einer tieferen und trüberen Quelle. Die Sache nämlich ist – es kann nicht scharf genug darauf hingewiesen werden – daß die naturalistische Doktrin, der Dichter solle nur eben der Helfershelfer der Wissenschaft sein, bei dem Roman – siehe Zola! – noch so ungefähr ihre Rechnung findet; infolgedessen diese der Form nach dramatischen Dichter ganz wesentlich episch sehen und ihre sogenannten Dramen sehr oft nur dramatisierte Romane, respektive letzte Romankapitel sind. Ich habe das in einem andern Zusammenhang an dem eklatanten Beispiel von Ibsens »Nora« nachzuweisen gesucht Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. S. 295 ff.; ein Beweis, der sich aber auch an einer ganzen Reihe der Stücke 234 desselben Autors mit gleicher Evidenz führen ließe. Überall in diesen Dramen: in »Rosmersholm«, »Wildente«, »Frau vom Meere« u. s. w. eine lange Vorgeschichte, die wir durchaus kennen müssen, sollen uns diese höchst komplizierten Menschen in den höchst komplizierten Verwickelungen, in welchen der Dichter sie uns vorführt, klar werden. Eine lange Vorgeschichte, die dann der Dichter, der die Notwendigkeit davon wohl fühlt, nun hinterher im Drama zu rekapitulieren sucht, ohne doch – bei der Sprödigkeit der dramatischen Form gegen den epischen Stoff – seinen Zweck zu erreichen. Das ist – abgesehen von Ibsens Tic, dem Publikum zu raten zu geben – der ganz wesentliche Grund der Dunkelheiten, durch die wir so oft in seinen Dramen ratlos tappen, und die uns seine Schüler als ebensoviele Beweise meisterlichen Tiefsinns aufzureden suchen.
Daß in dieser knechtischen Anbetung des alleinseligmachenden Milieu die Achtung vor dem dramatischen Helden und der dramatischen Handlung, deren Hauptträger eben der Held ist, Schaden leiden, wenn nicht untergehen muß, läßt sich voraussehen; und in der That haben denn auch manche Dramen der Schule mit dem, was man sonst unter einem Drama verstand, nur noch eine äußere Ähnlichkeit. Da giebt es keinen Helden mehr, sondern – im besten Falle – eine Hauptperson. Da ist nicht mehr von einer Handlung zu sprechen, höchstens von Geschehnissen, die in dieser oder auch in einer anderen Reihenfolge vor sich gehen können. Manchmal verzichten diese Dichter auch auf die Hauptperson und lassen es bei den Geschehnissen bewenden. In einem solchen Falle kann, weil es an einem Mittelpunkt fehlt, von einer pragmatischen Folge dessen, was da auf der Bühne vorgeht, erst recht keine Rede sein. Es ist, als ob wir aus der Vogelperspektive auf eine Stadt hinabblickten, in der die 235 Dächer der Häuser abgedeckt sind, so daß wir die Bewohner in ihrem Thun und Treiben beobachten dürfen, wobei es völlig gleichgültig ist, ob wir die Beobachtung bei der Wohnung Nr. 1 beginnen und bei der Nr. X aufhören, oder umgekehrt.
Man muß sich dabei immer wieder fragen: ist das nun bloße doktrinäre Schrulle? ist es dramatische Impotenz? Die Frage ist nicht auf einmal, sondern nur von Fall zu Fall zu entscheiden, je nachdem der Autor anderweitig sein dramatisches Talent dokumentiert, (wozu er auch in Stücken, wie die geschilderten) immer Gelegenheit haben wird, oder nicht. Im ersteren Falle wird man geneigt sein, mit Ophelia zu klagen: »O, welch ein edler Geist ist hier zerstört!«, in dem andern mit Hamlet sagen: »Geh in ein Kloster!«, oder betrachte wenigstens das Publikum nicht als ein corpus vile, an ihm deine problematischen Experimente zu machen!
Aber ob nun Schrulle oder Impotenz – dieses Spielen mit der dramatischen Form zu Zwecken, die ganz anderswo liegen, ist eine Thatsache, die bereits angefangen hat, sich zu einem Dogma der Schule zu verhärten. Wo und wann, fragen ihre Jünger, haben sich je in der Natur (d. h. der menschlichen Gesellschaft, welche in diesem Falle die zuständige Natur ist) geschlossene Handlungen abgespielt, wie sie das alte Drama uns vorführt nach dem Schema Gustav Freytags: Einleitung, erregendes Moment, Steigerung, tragisches Moment, fallende Handlung, letzte Spannung, Katastrophe? Wo und wann in der Wirklichkeit hat sich je auf einem so beschränkten Raum, in einer so knapp bemessenen Zeit diese Fülle der Geschehnisse aufgehäuft, die ihr uns vorfabelt? Wann und wo sind die Leute immer so à propos gekommen und gegangen, wie ihr sie kommen und gehen laßt? Wann und wo haben sie je mit diesen wohlgesetzten Worten, in 236 diesen abgerundeten Sätzen gesprochen, mit denen, in denen sie bei euch sprechen? Das alles ist ja bare Unnatur! Das alles muß von Grund aus verändert werden! Schreiben wir deshalb Stücke in einem Akt, der sich von selber spielt, also daß wir nicht in die Sünde des Komponierens verfallen können; lassen wir unsere Menschen reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist; vor allem keine Monologe halten, durch die ihr eure sogenannten Menschen zu Fieberkranken oder Tollhäuslern macht!
Ganz wohl! Nur daß die Herren ihrer selbst, sie wissen nicht wie, spotten; nur daß, sobald sie auch nur die Hand an die Maschine legen, die sie meistern zu können glauben, diese, die unberufenen Meister meisternd, ihren altgewohnten, nach immanenten Gesetzen der Kunstgattung geregelten Gang beginnt, und sich herausstellt, daß ein Akt gerade so komponiert sein will, ein gerade so künstliches Arrangement erfordert, wie fünf Akte. Und gar die Sprache! Die Sprache, auf deren »Natürlichkeit« die junge Schule ein so ungeheures Gewicht legt, die völlig der »Wahrheit« angepaßt zu haben, sie sich als ihren höchsten Triumph anrechnet! Nun ja, Lessing und Schiller haben von dem (nebenbei recht oft für die Uneingeweihten unkontrolierbaren) Dialekt einen weniger ausgiebigen Gebrauch gemacht; die Rede ihrer Menschen nicht durch fortwährend eingestreute Ähs und Ohs zerstückt; auch manchmal Sätze geschrieben, die mehr als drei Worte enthielten und sich auch meistens eines Subjekts und Prädikats erfreuten; aber hat man sich, die Schönheit der Sprache opfernd, der Natur und Wahrheit nun wirklich so ersichtlich genähert? Ich muß dabei immer an die Anekdote von jenem jüdischen Schächter denken, der sein Messer, wie es das Ritual erfordert, schartenlos geschliffen zu haben glaubte, und dem der weise Rabbiner es unter einem Ver 237größerungsglase zeigte, wo dann die schartenlose Schneide wie eine Säge erschien. Sich mit der Natur in einen Wettlauf einlassen, ist immer mißlich – sie hat einen gar zu langen Atem. Und die Sache wird absurd, wenn die Konkurrenz ebenso zweckwidrig, wie aussichtslos ist. Die Zwecke der Natur und der Kunst decken sich nun und nirgends. Die Natur ist ohne die Kunst noch immer sehr gut fertig geworden; und wenn die Kunst in Naturnachahmung aufgeht, ist sie nichts weiter, als eine Natur aus zweiter und – toter Hand, wofür jedes Panoptikum die schauerlichen Beweise liefert.
An die Schauer des Panoptikums erinnert diese neueste Kunst aber auch sonst mit ihrer Vorliebe für die Schatten- und Nachtseiten des Menschentreibens, in welcher sie sich eins weiß mit der Stimmung eines Publikums, das von nervöser Unruhe durchwühlt ist angesichts so vieler sich herandrängender ungelöster Probleme und der pessimistischen Weltanschauung, welche aus dieser Unruhe aufsteigt, wie grauer Nebel aus einem gärenden Sumpfe. Man sollte oft meinen, daß diese jungen Autoren entsetzliche Verbrechen auf dem Gewissen hätten, und sich aus der Tiefe ihrer zerknirschten Seelen herausgedrungen fühlten, dem Publikum zuzurufen: »Und habe die Sonne nicht zu lieb, und nicht die Sterne! komm, folge mir ins dunkle Reich hinab!« Aber kein Blutbann liegt auf ihnen; sie haben mit der Polizei nichts zu schaffen (außer wenn sie ihnen die Aufführung ihrer Stücke verbietet); sie sind wahrscheinlich lebensfrohe Gesellen und nur noch in dem glücklichen Alter, in welchem man sich den Luxus des Pessimismus ungestraft gewähren kann. Da sind denn die Propheten des Weltelends, Schopenhauer und Hartmann, die rechten Philosophen; und wenn dem einzelnen auch Zarathustra ins Ohr raunt, 238 daß er für sein Teil keineswegs zu der »Herde« gehört, sondern eher ein »Übermensch« ist, so fühlt er erst recht die Verpflichtung, der misera plebs ihren traurigen Standpunkt klar zu machen. Dazu kommt ein Handwerksvorteil, den diese Künstler – ich gebe zu, völlig unbewußt – doch nach Möglichkeit ausbeuten: der Vorteil nämlich, daß ein brutales Gesicht weit leichter zu zeichnen ist, als ein ideales; das Laster sehr viel müheloser zu malen, als die Tugend; Gemeinheit der Gesinnung, Roheit der Sitte sich der Nachahmung williger bieten, als Adel der Seele und Feinheit der Umgangsformen; die Sprache eines Hausknechts viel bequemer getroffen wird, als die eines Tellheim; die einer Dirne, als einer Minna von Barnhelm. Und so beruht denn auch die anerkennenswerte »Naturwahrheit«, mit der jetzt auf unseren Bühnen fast durchgängig Komödie gespielt wird, ganz wesentlich aus dem Umstande, daß die Künstler die Modelle für die darzustellenden Personen in jeder Kneipe, jeder Küche, auf jeder Gasse finden können; und überdies, wenn sie sich bei dem Kopieren ihrer unschönen Urbilder Übertreibungen zu schulden kommen lassen, das seinem größten Teil nach aus gebildeten und deshalb in der Frage inkompetenten Leuten bestehende Publikum es gar nicht einmal merkt, ihnen vielmehr die Verletzung der Naturbescheidenheit als ein Extraverdienst anrechnet.
Habe ich bisher des Publikums nur im Vorübergehen Erwähnung gethan, so ist es nicht, weil ich seinen Einfluß in der Angelegenheit gering schätzte. Produktion und Konsumption sind hier, wie auf dem ökonomischen Gebiet, die Faktoren, aus welchen das Produkt – in diesem Fall: das dramatisch-theatralische Getriebe – hervorgeht. Die Dichter werfen sich auf das Drama, weil sie wissen, daß die Nachfrage unersättlich ist; das Publikum wird durch die Reich 239haltigkeit und Mannigfaltigkeit der Produktion immer von neuem gereizt, sich seine Lieblingsspeise auftischen zu lassen. Und Lieblingsspeise ist ein schiefer Ausdruck. Es handelt sich hier um die Stillung eines wirklichen Bedürfnisses, das aus einer mächtigen Quelle entspringt, die aus verschiedenen Wassern gemischt ist, welche nicht alle gleich reinlich, und von denen die weniger reinlichen vielleicht die stärkeren.
Freilich die Analyse ist schwer. Wer will herausrechnen, wieviel Prozent ernster, ehrlicher Teilnahme bei dem Publikum einer Premiere vorhanden sind; wieviel der bloßen Vergnügungssucht, der blanken Neugier, des frivolen Wunsches, »auch dabei gewesen zu sein«? Wer kann mit Bestimmtheit sagen, weshalb ein würdiges Stück nach ein paar Aufführungen abgesetzt wird? ein anderes, ganz unwürdiges, deren hunderte erzielt? Die Kritik ein Stück, das dem Publikum bei der ersten Aufführung zweifellos gefiel, tot machen kann? ein anderes, trotzdem sie über ihm den Stab gebrochen, sehr behaglich weiter existiert?
Man darf die ernste, ehrliche Teilnahme, die ich als erstes Motiv genannt habe, durchaus nicht unterschätzen. Gewiß giebt es eine nicht kleine Gemeinde, der die dramatische Litteratur und die Schauspielkunst eng ans Herz gewachsen sind; die jeden reellen Erfolg als eine für die gute Sache gewonnene Schlacht nimmt, über die sie ein Triumphlied anstimmt, wie ein Klagelied, wenn sie sich wieder einmal in ihrer Hoffnung getäuscht sieht und ein Fiasko zu verzeichnen hat. Aber diese Gemeinde ernsthaft zu nehmender Liebhaber möchte doch nicht eben groß sein. Jedenfalls nicht so groß und in sich so kompakt, wie in früheren Zeiten, wo das Theater das Interesse der Gebildeten fast ausschließlich beherrschte; einziges Organ der öffentlichen Meinung: Rednertribüne, Kanzel, Presse – alles auf einmal 240 war. Jenes innige Verhältnis, das damals zwischen dem Publikum und den Produzenten (Dichtern und Schauspielern) stattfand; jenes eindringende Verständnis, das aus der stetigen, herzlichen Teilnahme resultiert – sie sind, wenigstens in den Großstädten von heute nicht mehr möglich. Wie sollten sie es auch sein in einem aus einer kleinen Zahl wirklicher Liebhaber und einem überwältigend großen Kontingent von bis ans Herz kühlen, medisierenden Müßiggängern, kokettierenden Müßiggängerinnen und durchreisenden Fremden bunt zusammengewürfelten, beständig wechselnden Publikum! Das Bedenklichste dabei ist: eben dieses Publikums mehr als verdächtiges Votum ist maß- und ausschlaggebend für den ganzen dramatischen Markt. Was es approbiert, wird die Runde durch alle Provinzialstädte machen; was es verworfen, hat nirgends einen vollen Kurs. Es giebt da Ausnahmen – ich weiß es wohl; aber die Regel ist es.
Und doch muß man dieser ästhetischen misera plebs, die jede Großstadt des Abends, sozusagen, aufs Pflaster setzt, ihr Vergnügen irgendwo zu suchen, ein Gutes nachsagen, durch das freilich ihr moralischer und ästhetischer Wert nicht erhöht wird: die Theater könnten ohne den von ihr erhobenen reichlichen Tribut nicht leben; und so kämen auch sie, die in dem Theater mehr sehen als ein Vanity fair, um den ihnen so schon spärlich zugemessenen Genuß. Denn gerade sie sind selten in der ökonomischen Lage, die teuren Theaterbillets häufiger bezahlen zu können, so daß man ohne Übertreibung sagen darf: es sind ganze Stände – und gerade die, bei welchen die Bildung des Geistes am eifrigsten kultiviert wird – vom Theaterbesuch so gut wie ausgeschlossen. Welcher immense Schaden dadurch der dramatischen Sache erwächst, liegt auf der Hand.
Oder wie sollte sich die gerechte Würdigung eines neuen 241 Stückes herstellen, wenn das Urteil in den Händen von Leuten liegt, die für ihre ästhetische Bildung nie etwas Ernstliches gethan haben, und die kompetenten Richter bei der Aufführung fehlen; das Stück besten Falls erst hinterher durch die Lektüre kennen lernen, wenn die öffentliche Meinung feststeht und sie zu berichtigen kaum noch möglich ist!
Und die fachmännische Kritik?
Ich habe vor ihr alle geziemende Achtung; aber unbedingt verlassen möchte ich mich auf sie nicht. Oft – nur zu oft! – steht der Kritiker, wenn er noch so gewissenhaft ist, keinem zuliebe, keinem zuleide sein Urteil fällen möchte, im Bann der ästhetischen Richtung, der er zuneigt; der Schule, aus der er hervorgegangen. Um so sicherer, als er ein jüngerer Mann ist, der noch gar keine Zeit gehabt hat, sich einen Schatz eigener Erfahrungen zu sammeln, sein Urteil durch reifes Nachdenken zu klären. Es entsteht dann für ganze kritische Kreise ein Zustand, wie beim Tischrücken, wo die Manipulierenden den Tisch von einer höhern Macht geschoben glauben, während sie doch selbst die Schiebenden sind unter dem Einfluß eines leisen, von ihnen faktisch nicht wahrgenommenen Druckes, der vom Nachbar zur Rechten (oder Linken) ausgeht, der wieder von seinem Nachbar zur Rechten (oder Linken) influiert wird u. s. w., die ganze Runde herum.
So gilt denn, was ich oben von der dramatischen Produktion sagte: daß sie schnell fertig sei mit dem Wort, auch von ihrer Kritik, und beide begegnen sich darin mit der Neigung und dem Geschmack des Publikums. Gerade der knappe Rahmen, in welchen der Dramatiker sein Gemälde spannen muß, ist es, was in den Augen des Publikums ein Vorzug ist, dessen der Roman, der soviel weiter ausholen muß, ermangelt. Hic Rhodus, hic salta! Hier wird 242 die Frage gestellt, hier wird sie beantwortet; vielleicht nicht gründlich, erschöpfend – ein Narr, der das verlangt! Er würde dem Schwärmer von 1848 gleichen, der die sociale Frage gelöst sehen wollte, »und wenn man auch die ganze Nacht darüber diskutieren müßte.« So naiv ist keiner mehr. Es genügt, sich über das Thema, das an der Tagesordnung ist, mit einem Manne unterhalten zu haben, der es uns von einer neuen Seite zu zeigen, in eine neue Beleuchtung zu rücken verstand. Verstand er es nicht; machte er nur den Versuch dazu, der kläglich mißlang, nun, so hat man schlimmsten Falls ein paar müßige Stunden verloren und die Genugthuung, den anmaßlichen Menschen verdienterweise ausgezischt zu haben. Nur eine frische Emotion! Je prickelnder, nervenaufregender, desto besser!
Bei diesem mißlichen Stande der Dinge ist es doppelt erfreulich, daß wir trotz alledem von einem Aufschwung des deutschen Theaters reden und auf eine längere Reihe dramatischer Produktionen blicken können, deren großer Ruf vollauf begründet ist.
Wobei dann freilich ihre Autoren nicht vergessen wollen, wie sie von der Woge der Zeitströmung getragen werden; wie willig der Wind des Tagesgeschmacks in ihre Segel bläst; wie günstig für sie der momentane Stand der Sonne der Volksgunst ist! Haben sie eine dramatische Schlacht, ja, nur ein kleinstes Scharmützel gewonnen, verkünden es die Tagesblätter, der Telegraph schon am nächsten Morgen urbi et orbi. In der Gesellschaft, soweit sie nicht völlig für ästhetische Interessen abgestorben, oder (wie wir oben sahen) von der lebendigen Teilnahme an diesem Genuß ausgeschlossen ist, spricht man von ihren Leistungen.
Dazu rechne man die Begünstigung, welche die theatralische Kunst, als eine schmuckhafte (gerade wie die bildenden 243 Künste) von oben herab erfährt; wieviel Tausende jährlich auf ihre reichere Ausstattung verwendet werden, die dann doch indirekt auch wieder der dramatischen Produktion zu gute kommen. Wie diese selbst wieder, ebenfalls von oben herab, sobald sie den dort beliebten Tendenzen sich gefügig erweist, protegiert wird, was ja wohl nicht immer zu ihrem Seelenheil gereichen mag, immerhin doch ihr weltliches Ansehen erhöht und ihr nach höheren Regionen schielende, oder auch nur herdenmäßig einem Anstoß gehorsame Scharen zuführt. Wie man weiter die Produktion durch periodisch verteilte Preise zu ehren und aufzumuntern sucht. Wie groß der Raum ist, der ihr in den Feuilletons der Tagesblätter eingeräumt wird. Wie stattlich die Zahl von Revuen, Monatsschriften, die sich ganz ihrem Dienste widmen. Wieviel bereits die höheren Klassen der Gymnasien für ihr Verständnis durch Kommentationen unserer Klassiker, durch Stellung von Thematen über dramatische Dinge u. s. w. thun. Welche beredten und begeisterten Lobredner und Interpreten die dramatische Kunst auf den Kathedern der Universitäten findet.
Da kann man sich denn nicht wundern, wenn sie heute eine ecclesia triumphans zu sein sich rühmen darf, und, ohne jegliche Ironie, nur wenn man dem, »was ist« die Ehre giebt, als litterarische Vormacht bezeichnet werden muß.
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