Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
An einem trüben Novembernachmittage erschien unter Jonas Eisenhuts Haustüre eine Frauensperson und fragte nach dem Herrn.
Die Haushälterin des Gelehrten betrachtete die Fremde mit prüfenden Blicken. Ein Kopftuch aus schwarzer Seide verhüllte ihr Haupt tief in die Stirne herein und hing in zwei langen Zipfeln über den Rücken herab. Aus einem faltigen, schmalen Gesicht funkelten kohlschwarze Augen. Unter einem dicken, braunen Wollschal, der vorn offen stand, glänzte eine schwarzseidene Jacke mit wattierten Schinkenärmeln, bauschte sich ein schwarzseidenes Kleid, leuchtete eine rosageblümte Schürze aus blauer Seide.
›Bäuerisch, aber gediegen!‹ lautete das stumme Endurteil der Städtischen.
Der Herr Eisenhut sei nicht zu Hause; er sei ausgeritten.
»Wohin ist er denn geritten?«
Vermutlich nach Moos. Dorthin reite er jetzt alle Tage.
»Dann ist's schon recht, und ich fahr' auch gleich nach Moos.«
Ein Schatten legte sich über das Gesicht der Haushälterin. Ob sie vielleicht gar die Köchin von der Herrschaft sei, die das alte Gewärgel da draußen gekauft hat?
»Die wär' ich. Ob's aber ein altes Gewärgel ist, kann ich nit sagen. Denn gesehen hab' ich's noch nit.«
Die Haushälterin hatte sich gefaßt und erklärte der Bäuerischen mit süßer Miene, es gehe jetzt kein Zug nach Moos, sie müsse bis um fünf Uhr warten. Aber sie solle doch hereinspazieren und einen kleinen Imbiß nehmen. Wann sie denn eigentlich angekommen sei?
166 »Grad vorhin, und die ganze Nacht durch bin ich gefahren,« lautete die Antwort. »Und morgen in aller Früh kommen die Möbelwagen auch schon.«
Die Haushälterin bedauerte, daß die Fremde die ganze Nacht durch gefahren sei. Um so mehr werde ihr eine Tasse Kaffee wohl tun.
»Wenn's erlaubt ist, bin ich halt so frei,« sagte diese und folgte der andern in das warme Stübchen neben der Küche.
Die Haushälterin stellte die bauchige Kaffeekanne auf den Tisch, holte Weißbrot, Butter und Honig und setzte sich der Bäuerischen gegenüber. Und süß wie Honigseim, fett wie Butter war ihre Altweiberstimme, als sie mit vorsichtig einleitenden Reden das Objekt zu umkreisen begann.
Franzi, die Magd, ließ sich zureden, wie sich's gehört, und griff tapfer zu, wartete auf weiteres Zureden, wie es der Anstand erfordert, und aß, bis sie satt war. Aber sie aß wie die Juden in Ägyptenland mit gegürteten Lenden: hatte den großen Regenschirm zwischen die Kniee geklemmt, ihre umfangreiche Handtasche in greifbare Nähe auf den Boden gestellt und den Schal, sorgfältig zusammengelegt, über die Stuhllehne gehängt.
Man sehe es schon von weitem, sie diene bei einer feinen Herrschaft, begann die Haushälterin, engere Kreise ziehend, beugte sich vor und nahm prüfend eine Falte des Rockes zwischen Daumen und Zeigefinger. In der Tat, es war schwere Seide.
»Meine Herrschaft wird wohl 'was Feines sein!« lautete die selbstbewußte Antwort.
Man spreche von einer Million? fuhr die Eisenhut'sche vorsichtig fort.
»Wieviel eine Million ist, kann ich nit sagen,« antwortete die Bäuerische. »Wenn ich zum Einkaufen muß, geben sie mir auf einmal nie so viel mit.«
167 Ob die bleiche Tochter das einzige Kind sei?
»Freilich, ist ja doch die Frau Mutter schon lang gestorben und hat das zweite Kind mit ihr genommen.«
Dann sei die Tochter aber wahrhaftig eine gute Partie. Haben sich gewiß schon viele um sie beworben?
»So eine Schöne, Brave hätt' freilich schon wie oft heiraten können.«
Sei vielleicht gar schon verlobt?
»Danach hab' ich sie wirklich noch nit gefragt.«
Freilich, recht gesund sehe sie gerade nicht aus.
»Mein Fräulein ist kerngesund, der fehlt nit so viel – das bitt' ich mir aus!«
Aber sie sei doch so blaß im Gesicht?
»Muß auch nit eine jede aussehen wie eine Pfingstrose.«
Was denn aber die Herrschaft anfange in dem alten Nest da draußen, wo sich die Füchs Gutnacht sagen?
»Morgen nachmittag kommt der Major. Wenn S' dem ein gutes Wort geben, nachher sagt er's Ihnen gewiß.«
Ihr sei das einerlei, sie bekümmere sich nicht um fremder Leute Angelegenheiten. Sie habe genug Arbeit mit ihrem Herrn. So ein Junggeselle! Da bekäme eine Frau nicht viel Gutes. Je älter, desto eigener, heiße es bei einem solchen. Na, sie selber käme schon mit ihm zurecht, sie kenne ihn doch von Kind auf, ihn und alle seine Eigenheiten. Und er sei ja soweit auch ein recht braver Herr. Aber eine Fremde, die könne was erleben! Nicht genug warnen könne man da. Und überhaupt, ein solcher wisse ja gar nichts anderes als seine Bücher.
Die Bäuerische sprach nun gar nichts mehr. Nur die schwarzen Augen funkelten forschend auf die Redselige hinüber. Da schwieg auch diese und machte ein gekränktes Gesicht. Die Bäuerische aber sah aus, als denke sie: Mit Speck fängt man die Mäus. Und weil sie eine grundehrliche 168 Seele war, beschloß sie, der andern wenigstens den Speck zu ersetzen, fuhr in ihre Rocktasche und brachte einen Geldbeutel ans Licht: »Jetzt mach' ich halt meine Danksagung für den Kaffee und das andere auch. Es hat mir alles recht gut geschmeckt. Vergelt's Gott! Und was bin ich schuldig?«
Die Haushälterin kräuselte die Lippen und erklärte, dahier sei kein Wirtshaus. Die geringe Bewirtung sei aus purer Freundschaft geschehen.
»Dann bitt' ich halt, schenken S' mir auch einmal die Ehr' in Moos,« sagte die Frau mit den funkelnden Augen und erhob sich.
Keine zehn Gäule würden sie jemals nach Moos bringen in das armselige Dorf, wo man bis über die Knöchel im Dreck laufen müsse. Aber wo die Fremde dann heute nacht bleiben wolle?
»Na halt in Moos, wo sonst? Ich werd' schon wo unterkriechen, da hab' ich kein' Angst.«
Die Städtische besann sich. Es wäre doch unklug gewesen, die Brücke nach Moos abzubrechen. Und süß, wie vordem, erklärte sie, es stünde auch hier, im Hause, ein Gastbett bereit.
Aber die Bäuerische erklärte mit Bestimmtheit, sie müsse noch heute nach Moos. Morgen in aller Frühe kämen die Möbelwagen. Da wolle sie gar nichts versäumen.
Dann möge sie jedenfalls recht bald wieder vorsprechen. Man könne ihr vielleicht manche gute Quelle verraten, wenn auch freilich Millionäre nicht nach Pfennigen zu rechnen gewohnt seien, sprach die Städtische und gab dem Gast, dessen Augen nun gräulich funkelten, das Geleite zur Haustüre.
*
Die große Linde gegenüber der Schloßbrücke von Moos stand auf dem goldgelben Teppich ihrer abgeworfenen Blätter und streckte ihre spärlich belaubten Äste in einen sonnigen Morgenhimmel empor.
169 Vor der Brücke hielten zwei Möbelwagen, umringt von der gaffenden Dorfjugend.
Schon in aller Frühe war Eisenhut hinausgeritten. Nun stand er am offenen Wagen und überwachte das Ausladen. Droben im ersten Stock aber hatte sich Franzi, die Magd, im Werktagsgewande aufgepflanzt, hielt einen von ihrem Major entworfenen Plan weitab von den Augen und wies an seiner Hand mit der Ruhe eines Feldherrn jedem Stück seinen Platz an.
Zwischen ihr und dem Gelehrten aber hatten sich die ersten Fäden eines Freundschaftsverhältnisses angesponnen. Der Herr gefiel ihr entschieden besser als seine Haushälterin. –
Einzug! Keuchende, stampfende Männer, ächzende Treppen, aufeinandergetürmte Kisten.
Die altgewohnten Geräte stehen glücklich am fremden Ort, durch die kahlen Fensterscheiben leuchtet die Sonne, und ihre Lichter gleiten über zerschundene Politur. Die Schritte hallen zwischen den bildlosen Wänden, und leere Bettgestelle warten der Füllung. Eine fremde Landschaft dehnt sich vor den Fenstern, aus fremden Hütten steigt der Kaminrauch. Alles da draußen ist uralt – das Feld, das Volk, das weite, weite Land, und in altersgraue Mauern nistet sich das winzigkleine Neue ein, das Neue. das auch denen da draußen fremd, gleichgültig, vielleicht sogar unwillkommen ist. Es nistet sich ein wie der zugeflogene Vogel in einem verlassenen Nest. Wird sich's behaupten? –
Regelmäßig, wie ein Paternosterwerk, bewegt sich die keuchende, stampfende Mannschaft die breite Treppe empor und tappt auf schweren Schuhen die Treppe hinunter. Die Zeit rückt vor. Kostbares und Geringes ist gleichermaßen verstaut. Die Möbelwagen werden verschlossen, die Dorfjugend läuft auseinander. Die Mannschaft trollt, befriedigt von ihrem Tagwerk, zum Wirtshaus. Der erste Akt des Stückes ist abgespielt.
170 Umzug. Wonne der Kinder – der törichten Kinder!
Selig der Mensch, in dessen Erinnerung ein Vaterhaus steht. Ein wirkliches Haus – kein bloßer Begriff. Keine Nomadenwohnung, leichten Herzens mit einer andern Herberge vertauscht. Ein wirkliches Haus, festgegründet auf einem, wenn auch noch so winzigen, Stück heiliger Heimaterde. Selig die Alten, deren wegmüde Gedanken allzeit zurückfliegen können unter das einzige Dach, das ihre Jugend beschirmt hat. Längst verhallte Tritte hallen wider zwischen wohlvertrauten Wänden, ein dir längst erkalteter Herd sendet dennoch seine Wärmewellen durch Jahrzehnte, durch ein halbes Jahrhundert herüber, ein alter Baum rauscht leise darein, Vögel singen in seinen Zweigen dir, dir allein ihr trauliches Lied, und ein naher Friedhof birgt die sterblichen Reste unvergeßlichen Glückes.
Selig das Kind, dessen Lebensmark niemals erschüttert wurde durch einen Umzug!
Aus der Handtasche der Magd kommt ein stattlicher Imbiß zum Vorschein, und einträchtig schmausend sitzt Jonas Eisenhut mit der Magd am Tische im kahlen Eßzimmer.
Auch ein Umzug hat seine Poesie – zumal, wenn es sich um das Einräumen der Geräte handelt, zwischen denen die Geliebte gespielt hat, zwischen denen sie groß geworden ist.
Und Jonas Eisenhut genießt solches Gedicht in vollen Zügen. –
Nach dem Frühstück wandern die beiden von Zimmer zu Zimmer.
»Viel zu groß!« klagt die Magd. Denn die sechs bis acht eingerichteten Räume verschwinden zwischen den öden Gemächern der drei Stockwerke.
Aber Jonas Eisenhut wird nicht müde, ihr die Vorzüge des alten Nestes herauszustreichen, und erklärt ihr von den 171 Fenstern aus, wo der Küchengarten, wo der Obstgarten – nicht ist, aber angelegt werden kann und muß.
Er trägt ein großes, in Seidenpapier gehülltes Etwas krampfhaft im Arm, er gibt es nicht um alles aus der Hand, und in Liselores Zimmer enthüllt sich dieses Etwas als ein über und über blühender Kamelienstrauch.
Dem armen Manne tut die Wahl weh. Er stellt den Stock auf den Glasschrank, er hebt ihn wieder herab und schmückt den kahlen Schreibtisch am Fenster damit. Aber auch dort will er ihm gar nicht gefallen. Er weist ihm endlich einen Platz auf dem zierlichen Spiegeltisch an. Und lange vermag er sich nicht von der noch so unwohnlichen Stube zu trennen. Seine Hand fährt liebkosend über die polierte Platte des Schreibtisches, und er gibt seiner schmerzlichen Entrüstung wortreichen Ausdruck, daß auch diese Politur an einer Stelle beim Umzug etwas gelitten hat; er tritt ans Fenster und blickt träumerisch über die weite Landschaft hin – und er bemerkt nicht, wie aufmerksam ihn die schwarzen, funkelnden Augen verfolgen.
»Ich denke, das Fräulein soll sich eingewöhnen bei uns zu Lande,« sagt er halb rückwärts über die Schulter.
Die Magd schweigt.
Jetzt wendet er sich um: »Und Sie selbst müssen sich doch auch freuen, daß Sie wieder in der alten Heimat sind?«
Sie antwortet ausweichend: Allzu lange sei sie außer Lands gewesen. Die Leute hier herum seien ihr doch fremd. Und das Dorf ohne Kirche? Sei denn das auch ein Dorf?
Jonas Eisenhut weiß darauf keine genügende Antwort. Er guckt noch einmal in den Spiegel, in dem sie – sie schon so oft ihr schönes Antlitz beschaut hat.
Liselore Titus wächst sich zum Heiligenbild aus.
*
Es war spät am Abend. Liselore war allein in ihrer Stube und betrachtete sinnend den Kamelienstock auf dem 172 Spiegeltische. Dann stellte sie den Leuchter ab, löschte die Kerze aus, trat ans Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Die fremde Landschaft dehnte sich in geheimnisvolle Fernen; fremde Dächer starrten zwischen kahlen Bäumen zum Sternenhimmel empor.
Fremd, alles fremd.
Sie wandte sich ab, ging zum Ofen und lehnte sich an die warmen Kacheln. Ein Frösteln lief über ihre Glieder. –
Franzi, die Magd, hatte sie vorhin bescheiden gefragt, was denn der Herr Major hierzuland eigentlich suche.
»Einen Ahnherrn«, hatte sie lächelnd geantwortet.
»Also hat sein Großvater hier gelebt?«
»Weit gefehlt, Franzi! Der Großvater vom Großvater vom Großvater – so ungefähr wird's wohl stimmen.«
»Und wenn er den gefunden hat – ich versteh' das nit recht – der muß doch schon lang tot sein?«
»Freilich ist er tot, Franzi – hoffentlich!«
»Und was will nachher der Herr Major von dem Ahnl?«
Darauf hatte ihr Liselore einen populären Vortrag über Familienforschung gehalten. Aber Franzi, die Magd, vermochte trotz aller Mühe nicht einzusehen, welchen Belang ein vor mindestens zweihundert Jahren verstorbener Ahnl heutzutage noch haben könne. Sie selbst wußte nicht das Geringste von ihren Großvätern. Ihr Vater war ein uneheliches Kind gewesen, ein Bankert, und sie unterschrieb sich Franziska Bankert – selbstbewußt wie ein Stiftsfräulein mit einem Kometenschweif zurück bis zum Jahre des Heils elfhundertachtzig und zwei.
Franzi, die Magd, hatte noch geringeres Verständnis für Familienforschung als ihre Herrin. 173