August Sperl
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August Sperl

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3. Trausnitz im Tal

Vor dem Wirtshause in Trausnitz stand ein Landauer, und im Stall erfreuten sich zwei Braune und ein Schimmel am reichlich vorgeschütteten Hafer. Der Major und seine Tochter waren herausgefahren; Jonas hatte ihnen hoch zu Roß das Geleite gegeben.

Zwischen breiten, schräg ansteigenden Felsenufern rinnt das klare, braune Wasser der Pfreimd. Es rauscht über ein Wehr, und klappernd geht nahe dabei das Werk einer Mühle. Am rechten Ufer, in mäßiger Höhe, steht finster, als wäre es von selbst aus den unsäglich traurigen Felsen gewachsen, ein altes, hohes Haus, und hart neben ihm ragt ein noch viel älterer Turm. Der Turm trägt ein stumpfes, dunkelgrünes Dach, das Haus ist mit rostbraunen Ziegeln gedeckt. Kleine Fenster glotzen in zwei Reihen hoch oben aus den Mauern des Schlosses, noch kleinere Gucklöcher sind in den Turm gebrochen, ganz nahe unter dem Dach. Es ist alles eingerichtet und berechnet auf den Angriff eines furchtbaren Feindes.

Hütten, mit Stroh und Schindeln gedeckt, stehen, halb unter Obstbäumen verborgen, auf dem felsigen Boden neben und hinter dem Schloß.

Das Wasser rauscht, die Mühle klappert, und eine alte Frau kommt, gebückt am Stabe, den Fußweg zwischen den Felsen herunter.

Anderswo ist die Geschichte unter dem grünen Wasen begraben, und auf dem Wasen spielen die Kinder. Hierzulande, in der ungeheuern Öde des weltentlegenen Winkels, ist sie hingebreitet über nackte Felsenhänge, und die Sage schleicht unter Mittags im Sonnenbrande zwischen glühheißen Steinen.

62 Diese Natur hat ihresgleichen nirgend mehr in deutschen Landen; aber vielleicht starren im Albanergebirge die Dörfer aus ähnlicher Öde, und auch Homer hat seine Kyklopen zwischen solchen Felsen geschaut.

Es ist unvergeßlich schön, einmal im Leben hineinzublicken in diese Weltverlassenheit, wenn der blaue Himmel über den schwarzen Wäldern ausgespannt ist und die Natter träge hinkriecht über die sonnigen Steine. Und auch in den Hütten dort oben wohnen gewißlich Menschen, die fest eingewurzelt sind in den Ritzen des felsigen Bodens. Aber der Fremdling, der unter Zwang in diesen Erdenwinkel versetzt wird, muß ohne Gnade todkrank werden an Heimweh.

Sollte ein großer Künstler das Tal der Schwermut malen – er müßte seine Staffelei dorthin stellen, wo die Pfreimd über das Wehr rauscht und hoch darüber auf den braunen Felsen der Turm als ein steinerner Zwingherr auf Wacht steht und das unheimliche Schloß thront, plump und schwer wie das unverrückbare Schicksal.

Ohne Zweifel ist in diesem Tale schon manche Träne ungestillter Sehnsucht geflossen seit den Tagen, wo Kaiser Karls des Großen eiserner Wille das Häuflein Sachsen von seinen Göttern und von seinen Fluren losgerissen, wie Herdentiere über Berg und Tal getrieben und an das Ende der bewohnten Welt, zwischen diese Felsen, verpflanzt hat.

Und die Tränen der sächsischen Weiber fielen auf den heißen Stein und verdampften, während das Glöcklein an der Holzkirche wimmerte und ankämpfte gegen die Mächte eines uralten Glaubens.

Ein harter Kampf. Denn der Einäugige selbst war mit den Seinen in dieses Elend gekommen, und seine Getreuen kannten gar wohl das flammende Auge unter dem Schlapphut des Riesen, wenn er nächtlicherweile durch die Dorfgasse schritt; und sie wußten, daß er es war, der im 63 Sturme mit seinem Gefolge hoch über die starrenden Felsen dahinbrauste und eifrig darüber wachte, daß sie seiner niemals vergäßen. – –

Jonas und seine Freunde standen am rauschenden Wehr und blickten wortlos auf die braunen Klippen und auf das finstere Schloß.

Dann gingen sie langsam zwischen den Klippen empor, und der alte Herr sagte mit einem tiefen Seufzer: »Hoffentlich sind nun meine Vorfahren nicht in diesem Jammertale zu Hause gewesen!«

»Warum?« fragte Liselore.

»Weil ich es für keine besondere Heldentat hielte, einer solchen Heimat den Rücken zu kehren.«

»Ach was!« rief Liselore. »Mir ist, als könnte ich mich gerade mit diesem Fleck Erde besonders innig befreunden.«

»Launen!« brummte der alte Herr.


Im Dorfe der Schwermut, einst Sachsenkirchen genannt, solange der alte Name noch nicht vom Namen des Turmes verschlungen war, begingen sie heute das Jahresfest der Feuerwehr. Und sie feierten es nach Art der Oberpfälzer: maßvoll, hingebend und still.

Die Fahne war in der Kirche geweiht worden. Ein Mann in schwarzem Rock, mit ruppigem Zylinderhut und weißblauer Schärpe trug sie tiefernst im Sonnenschein einher. Zwei andere, auch mit hohen Hüten und Schärpen geschmückt, geleiteten ihn zur Rechten und Linken. In langem Zuge folgten die andern, und das Ganze war anzusehen wie ein Leichenbegängnis.

Die Fremden standen abseits und betrachteten sich das armselige Gepränge.

»Sehen Sie die hohen, hageren Gestalten mit den scharfgeschnittenen Köpfen und blonden Haaren?« fragte Jonas 64 das Fräulein. »Das ist unverfälschtes germanisches Blut. Das sind vielleicht noch Nachkommen der Sachsen! Und dazwischen drinnen die Kleinen, Schwarzen mit den vorstehenden Backenknochen, die sind von dorther gekommen« – er wies über die Wälder nach Osten hin; »das ist slavische Rasse, so gewiß als die andern Germanen sind.«

»Ich sehe aber noch etwas«, flüsterte sie mit verhaltenem Entzücken. »Dort, der Mittelgroße im sechsten Glied, er hat soeben den Hut abgenommen, der mit den aufgeworfenen Lippen, der Knopfnase und der fliehenden, niedrigen Stirn – der könnte wahrhaftig vom Kongo zu diesem Feste gereist sein – – er und seine Verwandten im Zuge.«

»Was wollen Sie?« sagte er nachdenklich. »Da haben Sie eine lebendige Musterkarte dessen, was unter dem Sammelnamen Oberpfälzer sich seines Lebens erfreut. Schicht ruht hier auf Schicht. Angeschwemmt im Laufe der Jahrtausende und mit Blut aufeinander gekittet. Und nun beobachten Sie weiter: In Niederbayern, in Oberbayern begänne nach der kirchlichen Feier das eigentliche Fest im Wirtshaus mit Schreien und Stampfen und Jauchzen. Hierzulande aber macht sich ein Teil der Andächtigen sogleich auf den Heimweg. Sehen Sie, dort und dort, ganze Trüpplein. Da haben Sie den nüchternen, sparsamen Oberpfälzer wie er leibt, wie er lebt. – Je nun, die Erde ist's, die den Menschen erzieht.«

»Oho!« rief der Major. »Der Mensch erzieht aber auch die Erde, sollte ich meinen. Nur nennt man das anders.«

»Gewiß,« entgegnete Jonas, »aber in den Grenzen, die ihm von der Natur selbst gesteckt sind.« –

Ein Mann im schwarzen Priesterkleide kam über die Straße und lüpfte den Hut. »Grüß Good, meine Herrschaften.« Er dehnte das O und sprach das T so weich als möglich aus. Und dabei leuchteten seine hellblauen Augen 65 so gütig unter den weißen Brauen, und der feine Mund lachte so herzlich in dem rundlichen Gesichte, daß man sogleich das Gefühl hatte, er könnte ja den Namen seines höchsten Herrn gar nicht hart aus dem Mund bringen.

»Herr Pfarrer Schütz?« fragte Jonas und ging dem Alten entgegen.

Der blieb verdutzt stehen und rief lachend: »Jawohl, so heiß ich. Aber woher wissen denn Sie das! – Wissen ja nit einmal alle meine Pfarrkinder, wie ich heiß'? – Das wissen s' nämlich meistenteils nit, meine Herrschaften, wie der Pfarrer heißt und der Lehrer.«

»Dazu gehört kein großer Scharfsinn, Herr Pfarrer,« lachte Eisenhut. »Wenn in Trausnitz ein geistlicher Herr aus der Kirche kommt, so wird er halt der Herr Pfarrer Johann Baptist Schütz sein, der die Chronik von Trausnitz im Tal geschrieben hat.«

»No, nachher wissen S' doch auch schon, mit was für einem Beedelmann Sie's zu tun haben, Herr –?« Er dehnte das E und sprach das T mit unsäglicher Weichheit.

»Eisenhut. Und hier, ich erlaube mir, Herr Major Titus und Fräulein Tochter.«

»No, freut mich, freut mich, Herr Major. Und wenn's Ihnen der Herr da noch nit verraten hat, so will ich's Ihnen sagen. Ich hab nämlich die neue Kirch da droben gebaut – ganz ohne Geld – so, wie's dasteht.«

»Ohne Geld? Da können Sie mehr als Brot essen!« rief der Major lebhaft.

Der Pfarrer sah einen Augenblick etwas bedenklich drein. Dann aber sagte er gutmütig. »O ja, Recht haben S', Herr Major, betten kann ich, betten, daß sich der Tisch biegt.«

Er sprach das E kurz und das T verdoppelt aus. »Wissen S', es heißt ja freilich im Evangelium, wer einen Turm baut, der überschlägt zuvor die Kosten. Aber ich hab' so 66 gesagt: Lieber Herrgott, ich fang's halt an, bauen mußt Du's. Und 'baut hat Er's.« Nach einer kleinen Pause lächelte er schelmisch über das ganze Gesicht: »'baut hat Er's freilich, aber die Einrichtung hat er zuletzt doch mir überlassen. Und da fehlt's noch weit. So bin ich halt vom Betten zum Beedeln 'kommen und hab auch die Beedelchronik von Trausnitz geschrieben.« Er dehnte das E und sprach das T mit unwiderstehlicher Weichheit. »So, jetzt wissen Sie's. Und darf ich Ihnen jetzt etwa vielleicht gar das Schloß zeigen?«

»Ei, das wäre ja sehr dankenswert!« rief Liselore.

»Nix zu danken, schönes Fräulein Major. Umsonst tu ich's nämlich auch nit. Ich halt nachher schon den Hut hin für meine Kirch – darauf können S' Ihnen verlassen.«

Sie lachten, und er holte den Schlüssel.

Dann gingen sie selbviert über die Holzbrücke, und der Major bewunderte mit lauter Stimme die prachtvollen Eisenbeschläge an den schweren Torflügeln. »Das ist eine gute Vorrede«, rief er und strich über das Türschloß.

»Hm« sagte der geistliche Herr und machte ein bedenkliches Gesicht. »Recht viel werden S' da drinnen aber nimmer zu lesen kriegen; denn es ist wüste und leer, wie am Anfang der Schöpfung.«

»Wenn nicht der Chronist seinen Zauberstab schwingt«, warf Jonas ein.

»Na also,« schmunzelte der Priester, »fangen wir an.«

Sie traten in den Hof, der als ein tiefer Schacht zwischen die gewaltigen Mauern des Steinhauses und des Turmes eingebaut war, eng, düster und kalt wie ein Gefängnis, nur von einem kleinen Stück blauen Himmels erhellt. Hoch oben aber lief aus dem Schlosse eine hölzerne Brücke zum Turme hinüber.

»Sehen S', Fräulein Major, über so eine Brücke hat man ihn damals in seinen Kerker geführt – dieselbe ist's ja heut 67 nimmer; aber einen andern Eingang hat halt der alte Kamerad nie nit gehabt, als den einen dort oben.«

»Wen hat man da hinübergeführt?« fragte Liselore zerstreut.

»No, das werden S' aber doch wissen!« sagte der geistliche Herr vorwurfsvoll. »Wenn ich sag Er, dann ist's halt Friedrich der Schöne. Wer denn sonst hier in Trausnitz?«

»Ach so, davon habe ich freilich gehört,« entschuldigte sie sich.

»No also!«

Sie blickten in dunkle Gewölbe, sie gingen über ächzende Treppen empor, sie traten in die gähnende Leere des riesigen Bankettsaales, sie stellten sich in tiefe Fensternischen und sahen hinunter ins Tal auf den braunen, glitzernden Fluß. Sie schritten über die hölzerne Brücke, schlüpften in das Pförtchen des Turmes und klommen die schmalen Stiegen empor, die ins Innere einer unglaublich dicken Mauer eingebaut sind. Und endlich standen sie hoch oben in einem kleinen Gemache, das durch drei Fenster sein Licht erhielt. Auch dieses war öde und leer. Nur in den vier Ecken staken eiserne, in die Mauer eingelassene Ringe, und von einem dieser Ringe hingen die Reste einer schweren Kette herab.

Liselore war in ein Fenster getreten und blickte schweigend hinaus über die Wälder; Eisenhut stand vor dem Kettenstück und wog es mit der Hand; der Major hatte sich an den Kamin gelehnt.

»Da hat er getrauert, länger als zwei ganze Jahr,« begann der Pfarrer, »und an der Kette dort – gelt, die hat ein Gewicht, Herr Eisenhut? – ist er angehängt gewesen. Ist aber nur noch ein Trumm von der ganzen.«

»Und wie oft wird die Kette erneuert?« fragte der Major vom Kamine her.

»Erneuert?« Der Pfarrer machte ein empörtes Gesicht. »Sie glauben etwa vielleicht wie der Tintenklex auf der Wartburg? Da sind S' aber auf dem Holzweg!«

»Es war nicht so böse gemeint«, entschuldigte sich der Major.

68 »Nehm's Ihnen auch gar nit in übel,« sagte der Pfarrer; »denn Sie können's nit wissen. Aber das mit der Kette ist wahr. Und sehen S' deswegen: Die Kette ist vorzeiten ein heiliges Schatzstück der Kirche gewesen. Denn dort hat sie der König Friedrich anno dazumal als Opfer für die heilige Muttergottes neben den Versöhnungsaltar an die Mauer hängen und anschmieden lassen. Und da ist sie auch gehängt fünfhundert Jahr und mehr, bis anno 1839 der höchstselige König Ludwig – ich weiß auch nit warum? – den Schatz aus der Kirche genommen und hierher gehängt hat. Mit der Kette ist's richtig, Herr Major, dafür steh ich ein. Und eigentlich gehört sie also von Rechts wegen gar nit hierher, sondern in die Kirch, neben den Altar!«

»Ich glaub's ja«, sagte der Major kleinlaut und höflich.

Der Pfarrer aber fuhr fort in seiner Erzählung, und es war den andern, als hörten sie das Krachen der Speere, das Hämmern der Schwerter, das Dröhnen der Kolben in der Königsschlacht zwischen Mühldorf und Ampfing – zehn Stunden lang. Sie sahen die Bayern wanken und den König Ludwig verzagen, und sie sahen den Hohenzollern aus dem Hinterhalt brechen und König Friedrich in seiner goldenen Rüstung zu Boden stürzen im Knäuel seiner letzten Getreuen. Sie vernahmen König Ludwigs höhnende Stimme im Lager: ›Freut mich, lieber Vetter, Euch hier zu sehen!‹ Sie jagten dahin mit dem Reiterhaufen, der den Besiegten in den Herbst hinein schleppte, dem verborgenen Schlupfwinkel entgegen. Die dunkelblaue Mauer der Waldberge rückte näher und näher. Die Donau brach sich rauschend an den steinernen Brückenpfeilern hinter Regensburg, und weiter ging das Reiten von Burg zu Burg. Das helle Naabtal versank in duftiger Ferne, wilder und wilder wurde das Land. Zwischen niedern, schwarzgrauen Felsen zog sich der steinige Saumpfad nach Osten. Das Tal öffnete sich; der braune Fluß glitzerte im Lichte 69 der scheidenden Sonne; das plumpe Schloß auf dem nackten Felsen schob sich ins düstere Bild. Die Reiter sprangen von den Rossen, die schweren Torflügel wichen, und der Vogt beugte das Knie vor seinem König und Herrn. ›Hier sucht Euch niemand von Euern Freunden, Herr Vetter; tretet ein, daß Euch der Willkomm kredenzt werde!‹ höhnte der Sieger. Und König Friedrich stieg wortlos die Treppe empor und schritt über das Brücklein – hoch über dem finstern Hofraum hinüber zum Turm.

Lebendig, als wäre er selber dabei gewesen, erzählte der Pfarrer, und sie hörten die Herbststürme um den Turm brausen, sie ahnten, wie die Blätter fielen von der Linde im Dorfe, sie fühlten, wie sich der Schnee auf die schwarzen Wälder legte und die harten Felsen bedeckte. Sie sahen König Friedrich auf der Bank in der Ecke sitzen, und neben ihm kauerte die Schwermut. Und der König stand auf und ging über das Ziegelpflaster, und hinter ihm her schleifte wie eine Schlange die Kette. Er trat in ein Fenster, starrte hinaus in die flimmernde Winterpracht und sann und sann, ob hinter diesen Waldbergen im Osten wohl auch noch Menschen wohnten oder nur Wölfe? Und sann und sann, müde und ratlos, und wußte nicht, wo er war. Seine Augen schmerzten ihn, daß sie überliefen. Da schleppte er sich zurück und setzte sich wieder neben die Schwermut. Die Tage kamen und sanken in die Nächte und kamen wieder empor in endloser Reihe. Der Schnee schmolz, die Erde breitete sich grün aus, und die Felsen waren schwarzbraun wie vordem. Vögel flogen auf die Fenstersimse und sangen herzbewegend in den offenen Kerker herein. König Friedrich, den sie den Schönen genannt hatten in den Tagen des Glückes, saß an seine Kette geschmiedet, und Bart und Haupthaar hingen wirr und ungeschoren um sein bleiches Gesicht. Die Sonne stieg höher und höher und brannte auf 70 Schloß und Gestein. Da zog eine Gewitternacht herauf, so fürchterlich, daß die Wälder im Feuer der Blitze schwammen und der Turm erzitterte auf der bebenden Erde. Und die Wetterglocke des Kirchleins bellte klagend durch den Graus. Um die Mitternacht aber fuhr ein greulicher Windstoß gegen den Turm, ein Fensterladen sprang auf, eines Mannes Antlitz mit feurigem Barte tauchte empor, unter dem triefenden Schlapphut flammte ein mächtiges Auge, und eine befehlende Stimme sagte: ›König Friedrich, es soll nun genug sein. Ich will dir helfen, wie ich deinen Ahnen oftmals geholfen habe. Auf – komm du mit mir!‹ Und als er das gesagt hatte, sprang König Friedrichs Kette von seinem Gelenk, also daß er frei von seinem Lager zu steigen vermochte. Aber seine Haare sträubten sich, mit bebender Hand schlug er das Kreuz und rief: ›Hebe dich weg!‹ Da erlosch das Feuerauge, und das flammende Antlitz versank in der Nacht. Der Regen fiel wie ein Wasserfall auf den Turm, Blitz flammte in Blitz, Schlag dröhnte in Schlag. König Friedrich aber kniete auf den Steinen und betete. König Friedrich hatte der Versuchung getrotzt.

»Da hat er übel gehandelt!« rief die klare Stimme Liselores vom Fenster herüber. »Ich wäre getrost mit dem Einäugigen in die Tiefe und in die Freiheit gefahren!«

Der Pfarrer wandte sich und sah sie prüfend an. Dann sprach er kopfschüttelnd: »Er hat wohl gehandelt; denn er wußte eine bessere Helferin als den einäugigen Unhold. Und die half ihm auch und führte ihn endlich mit großen Ehren aus dem Gefängnis, als das Maß seiner Leiden voll und die Zeit um war. Aber das wissen ja die Herrschaften ohnehin schon.«

Sie gingen zurück über das hohlklingende Brücklein, das über dem düstern Burghof ins Schloß führte, sie tasteten sich die engen Treppen hinab und traten wieder vors Tor.

Da kam Liselore auf den Pfarrer zu, streckte ihm die 71 Rechte entgegen und sagte mit leuchtenden Augen: »Tausend Dank! Die halbe Stunde werde ich niemals vergessen.«

Er berührte ihre Hand mit den Fingerspitzen und sah ihr prüfend in die dunkeln Augen. Dann lächelte er ganz freundlich und sagte leise: »Sie gehören halt auch zu denen, meine Tochter, die sich böser geben, als sie sind. Sie wären doch nicht mit dem Unhold gefahren.«

»Wer weiß –?« sagte sie und warf den Kopf zurück.

»Nun aber Ihre Kirche, Herr Pfarrer!« rief der Major und schwang seine Börse. »Wo ist der Opferstock?«

Lächelnd zog der Pfarrer seinen Hut und hielt ihn hin.

Jonas war zurückgetreten, als wolle er sich vom Opfer drücken, und als sich die andern verabschiedeten, grüßte auch er hinüber. Dann aber ging er dem alten Herrn mit langen Schritten nach, griff nach seiner Hand und steckte etwas hinein.

Der Pfarrer blieb stehen, entfaltete die Banknote und rief erschrocken: »Viel zu viel!«

»Es ist schon recht so, Hochwürden, lassen Sie's gut sein!«

»Ei, dann sag ich halt vergelt's Gott tausendmal. Und ich werd Ihrer schon gedenken beim heiligen Meßopfer.«

»Da muß ich Ihnen nur gestehen, ich bin Protestant,« sagte Eisenhut ernsthaft. »Aber mich freut's, wenn Sie's tun.«

»Ewig schad!« fuhr es dem Pfarrer heraus. Doch sogleich schlug er sich auf den Mund, daß es klatschte, und sagte: »Nix für ungut. Und trotzdem haben Sie mir soviel 'geben, Herr Eisenhut? Schauen S', soviel hab ich nit einmal vom Kaiser von Österreich 'kriegt, und hab ihn doch so schön an'beedelt g'habt.«

»Was hat Ihnen denn der gegeben?« fragte Jonas.

»Gar nix!« lachte der Pfarrer.


»Meiner Treu!« sagte der Major, als er neben seiner Tochter über den sonnigen Hofraum zum Wirtshaus ging.

72 »Das ist ja ein ganz prächtiger Mensch, der Pfarrer mit seiner alten Kuhkette und seiner neuen Kirche, die er wie ein Spielzeug aus einem Bausteinkasten in all die graue Vergangenheit hereingesetzt hat. Ich gestehe dir, wenn ich einmal etwas Besonderes zu beichten hätte, dann ginge ich zu dem und zu keinem andern.«

Liselore schritt schweigend, mit gesenktem Haupte dem Hause zu. »Ich habe Hunger«, sagte sie nach einer Weile. »Es trifft sich gut, daß wir an diesem Festtage gekommen sind. Eisenhut behauptet, es gibt Bratwürste und Kraut.«

»Ich möchte mich nach Tisch etwas lang legen«, bemerkte der Major. »Ich bin müde geworden.«

Liselore warf einen zweifelnden Blick auf die erblindeten Fenster des verwahrlosten Hauses. »Ich will mich mit der Wirtin beraten. Im übrigen hast du ja auch die Reisedecke, und irgendein Bett wird sich hoffentlich finden. Ich verschwinde derweilen lautlos und suche mir ein Plätzchen zum Zeichnen.«


Es war schon tief im Nachmittage, und Schloß und Turm warfen einen langmächtigen Schatten über das Dorf. Im Gärtchen saßen die beiden Herren, rauchten und tranken Bier – schreckliches oberpfälzisches Rauchbier.

Der Major zog die Uhr. »Donnerwetter, schon Viertel nach fünf! Wo nur das Mädel steckt? Es wird Zeit, daß wir fahren.«

»Ich will gehen, das gnädige Fräulein zu suchen,« sagte Jonas.

»Sehr verbunden. Sie soll sich beeilen.«

Jonas ging durch das Dorf, umkreiste die ganze Ansiedelung, kam unverrichteter Dinge zurück und schlug endlich den Weg ein, der zur Mühle hinabführt.

Zwischen den Felsen grasten ein paar Ziegen; ein Büblein saß auf einem Stein und guckte.

»Hast du kein Stadtfräulein gesehen?« fragte Jonas.

73 »Is leicht möglich«, antwortete das Kind und wies mit dem Geißelstecken nach unten auf das Weidengebüsch am Flußwehr: »Dort hockt's und schreibt ihr das Schloß ab. – Hat aber 'leicht Zahnweh, weil s' gar soviel heint.«

Jonas ging mit langen Schritten hinab. Und richtig, da saß Liselore auf einem Baumstumpf. Das offene Skizzenbuch war ihr vom Schoße geglitten und lag im Grase. Sie aber hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in die Hände vergraben.

Unschlüssig blieb er stehen. Dann kam er langsam näher.

Da schreckte sie empor, sah ihn mit verweinten Augen an, raffte das Buch vom Boden und zwang sich zu einem Lächeln.

»Oh, Sie, Herr Eisenhut? Es wird wohl Zeit, daß wir uns auf den Weg machen? Zu dumm! Sehen Sie, da sind mir nun während des Zeichnens auf einmal die hellen Tränen in die Augen gestiegen. Ich bin nun doch froh, wenn wir glücklich wieder diesem Tal der Schwermut entronnen sind.«

Er fand kein Wort der Entgegnung. Sie aber erhob sich und scherzte: »Kommen Sie! Ich bin wahrhaftig noch ganz im Banne dessen, was uns der Pfarrer so prächtig erzählt hat –: der hoffnungslos Angekettete – der geheimnisvolle Einäugige, der da in Nacht und Graus an den Buckelquadern emporklimmt und sein Auge in den Kerker flammen läßt –!« Sie blickte unverwandt zum finstern Turm hinüber. »Und der arme Gebundene, der gebunden bleibt, trotzdem seine Kette zerspringt – es ist alles so traurig wie die schwarzbraunen Felsen und wie das alte Gemäuer.«

»Aber ich bitte Sie, Fräulein Titus, das sind doch uralte Geschichten. Und zuletzt ist es ja auch dem schönen Friedrich noch recht gut gegangen!« brachte er endlich heraus.

»Uralte Geschichten?« rief sie und ging mit raschen Schritten vor ihm bergan. »Ich wette, wenn der entthronte 74 Wodan heute noch irgendwo umgeht, dann ist es hier, in diesem Tale der Schwermut. Ich weiß nicht, ist es anderen Menschen auch so zumute? Ihre Oberpfalz ist ein verzaubertes Land! Und mir dünkt gar oft, ich schwämme in einem schwarzen See und verwirrte mich mehr und mehr in Schlinggewächse, die aus der Tiefe emporwachsen, mich enger und enger umringeln und mit ihren unbarmherzigen Armen hinabziehen, dorthin wo nicht Sonne noch Mond scheinen.«

»Dann fort aus dem Tale der Schwermut!« versuchte er zu scherzen.

Sie blieb stehen und wandte sich, blickte ihn mit großen Augen an und sagte leise: »Gibt's denn aus diesen Tälern ein Entrinnen?«

Schweigend schritten sie hintereinander bergan zwischen den Klippen.

Und es ward ihm plötzlich überaus zweifelhaft, ob das schöne Mädchen vor ihm wirklich über König Friedrich und sein Schicksal so bitter geweint hatte.

*

Am andern Morgen saß der Major allein mit seiner Tochter im Herrenstübchen beim Kaffee. Geöffnete Briefe lagen zwischen beiden, und Liselore entzifferte soeben lächelnd die ungelenken Schriftzüge der alten Magd.

»Summa summarum, es geht zu Hause alles gut, und die treue Seele wünscht uns eine gesunde Fahrt durch ihr Heimatland und eine glückselige Heimkehr.« Das junge Mädchen reichte dem Vater den Brief hinüber. »Aber was ist denn dir? Hast du eine unangenehme Nachricht?«

Der Major sagte verächtlich: »Einen anonymen Brief habe ich.« Er warf das Blatt auf den Tisch. »Pfui Teufel!«

Liselore nahm den Brief und las die augenscheinlich in verstellter Schrift geschriebenen Sätze.

75 »Onkel Karl vor dem Zusammenbruch? Das wäre freilich –«

»Wäre – wäre! Es wäre freilich! Aber es ist eben nicht. Ein Bankgeschäft, seit drei Menschenaltern in einer und derselben Familie! Zum Lachen!«

»Aber welchen Zweck hätte dieses Schreiben?«

»Zweck – was weiß ich? Vielleicht der Racheakt eines entlassenen Kommis!« Der Major nahm das Blatt und zerriß es in kleine Stücke. »Sieh, so verfährt man mit anonymen Briefen.«

»Ich weiß doch nicht –?« meinte sie nachdenklich. Dann lächelte sie: »Ich bin ja froh, daß ich mich um diese Dinge nicht kümmern muß. Aber wenn ich mir nun denke, ich hätte diesen Brief erhalten und ich trüge die Verantwortung –. Solltest du dich nicht doch unter der Hand erkundigen?«

»Er ist der Bruder deiner seligen Mutter, Liselore!«

Sie zuckte die Achseln: »Soviel ich weiß, ihr ganz unähnlich.«

»Aber ein Ehrenmann!« rief er unwillig.

»Könntest du dich nicht unmittelbar an ihn selbst wenden?«

»Genug davon!« Er wischte die Fetzen in die hohle Hand, öffnete das Fenster und streute alles in den Morgenwind. »Siehst du wohl? Nun aber etwas anderes. Wie gefällt dir denn eigentlich dieser Jonas Eisenhut?«

Lachend erwiderte sie: »Zu Fuß besser als zu Pferd.«

Nun lachte auch der alte Herr: »Es wäre mir aber in der Tat von Belang, zu hören, wie er dir gefällt.«

Sie besann sich: »Ein seltsamer Mensch.«

»Seltsam? Ich möchte vielmehr meinen, ein seltener Mensch.«

»Mit einem kleinen Stich ins Komische«, entgegnete sie.

Er schüttelte den Kopf.

»Schon das etwas Groteske der äußeren Erscheinung«, 76 fuhr sie fort. »Ich finde, er und sein Rößlein gleichen sich in manchen Stücken.«

»Ich finde, in ihm und seinem Rößlein steckt Rasse, viel Rasse,« sagte er mit Nachdruck. »Hast du dir seine hohe Stirne und die klaren, weitgeöffneten Augen genauer angesehen?«

»Jawohl, und die seltsame Ramsnase mit den kleinen, rosaroten Nüstern, lieber Vater.«

»Zum Henker, von wem sprichst du denn?«

»Von seinem Rößlein doch!«

»Ich meine aber doch seine Stirne, seine Augen, seine Nase!« rief er etwas ärgerlich.

»Ja, das ist allerdings etwas anderes. Seine Nase – ein wenig lang, spitz auslaufend – – das habe ich wohl beobachtet. Soweit mir solches zu beobachten geziemen wollte,« setzte sie lachend hinzu.

Er schüttelte mißbilligend den Kopf. »Und diese beim Schweigen so fest geschlossenen, schmalen, feingeschwungenen Lippen!«

Sie lachte immer noch: »Wenn ich hierzu noch einen Wunsch aussprechen dürfte, dann wäre es dieser: Wollte er sich nur nicht so ganz bartlos tragen und sein blondes Haupthaar wenigstens alle Vierteljahre einem Sachverständigen anvertrauen. Wobei ich ihn im übrigen für einen guten Kerl halte.«

»Liselore!« sagte er fast streng. »Ich wünschte, daß du ihn ein wenig – wie soll ich mich ausdrücken? – gleich gegen gleich behandeln möchtest; nicht so von oben herab. Sonst läuft er uns am Ende davon.«

»Tu ich denn das?«

»Zuweilen«, sagte er. »Deswegen mußte ich mit dir sprechen. Ich bekenne nämlich, daß mir seine Gesellschaft von ganz außerordentlichem Werte ist. Immer wieder muß ich 77 staunen, was für ein historisches Wissen dieser Mann besitzt. Und ich verspreche mir sehr viel davon, wenn er mir hilft, an mein Ziel zu kommen.«

»Eine wandelnde Bibliothek«, murmelte sie.

»Was hast du gesagt?«

»Ich werde mich ehrlich bemühen!« gelobte sie und streichelte seine Wange. »Ich bin ja so von Herzen froh, wenn du dich behaglich befindest.«

»Und du, meine liebe Lore?« fragte er plötzlich besorgt, als besänne er sich auf etwas Trauriges, und legte die Hand auf ihre Schulter.

»Ach, laß es, was liegt denn an mir?« sagte sie mit zuckenden Lippen. »Aber der anonyme Brief – ich komme nicht los von ihm. Höre, Vater, du solltest mir auch einen Gefallen tun. Hie Eisenhut – hie Onkel Karl. Könntest du dich nicht doch erkundigen – so ganz unter der Hand?«

Er saß mit zusammengezogenen Brauen und sog an seiner Zigarre. Nach langem Schweigen sagte er: »Ich weiß wirklich nicht. Es geht mir so ganz gegen den Strich.« 78

 


 


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