August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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7. Die Helden von ***

Ich werde mich hüten, den wirklichen Namen dieses Städtchens zu nennen. Da könnte ich nette Erfahrungen sammeln!

Ein Mann der Feder wird ohnedies immer mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet, und sobald er etwas Schriftliches von sich gegeben hat, wähnt die eine Hälfte seiner Bekannten, in den – aus idealen Höhen oder auch Tiefen hergezauberten – Gestalten seiner Schöpfung die andere Hälfte seiner Bekannten begrüßen zu dürfen, die andere aber die eine. Und in Wahrheit hat er vielleicht weder an die eine noch an die andere gedacht.

Und wenn ich nun gar über dieses heikle Kapitel einen wirklichen Ortsnamen setzen wollte, ich könnte mich ja meintag nicht mehr blicken lassen in – ***.

Weil aber das liebe Städtlein denn doch einen Namen haben muß, und weil ich es nicht geradehin Schilda nennen möchte (denn man darf einem schon sehr belasteten Ort ohne Grund nicht noch etwas aufhalsen, und Schilda liegt einmal nicht in der Oberpfalz) – so nennen wir's Hasenrieth. Das kann weiter nicht auffallen und auch keine unnützen Vermutungen hervorrufen. Denn in der Oberpfalz laufen gar viele Hasen herum, und daß ein solches Waldland auch eine große Menge von Rodungen aufweist, das leuchtet wohl jedermann ein.

Dieses Städtlein Hasenrieth ist also recht alt, und die ältesten Leute, die es dort wie allerorten gibt, bewahren die dunkle Erinnerung, daß es einst vom faulen König Wenzel aus einem Dörflein zum Städtlein gemacht worden ist. Demnach hätte er also doch einmal etwas getan, der faule Herr. –

138 Man sieht aber dem Rest sein Alter nicht auf den ersten Blick an.

Es liegt in einer weiten Niederung, und in zahllosen Weihern quaken im Frühling die Frösche papst, papst, papst! Nur ganz kurze Zeit haben sie einmal zur Abwechslung luther, luther, luther geschrieen. Aber das hat man ihnen anno 1628 ernstlich untersagt, und seitdem quaken sie bis heute papst, papst, papst, wie es ordnungsliebenden oberpfälzischen Fröschen geziemt.

Der Marktplatz aber, auf den sie herüberquaken, trennt den Haufen der drei- bis vierhundert Häuser und Häuschen in zwei ungleiche Teile und ist so geräumig, daß Kirche und Rathaus dort, wo er am breitesten ist, genügend Raum gefunden haben und, aus der Vogelschau betrachtet, zwei großen Schiffen gleichen, die hintereinander in einem Flusse verankert liegen.

Hasenrieth ist natürlich im Laufe der Zeiten wie alle oberpfälzischen Orte immer wieder einmal abgebrannt. Aber zwischen den neuen Häusern sitzt oder steht doch da und dort noch einiges, was an alte Vergangenheit mahnt: ein feinprofiliertes Fenster, wie man sie vor dreihundert Jahren gemeißelt hat, oder eine spitzbogige Haustüre aus den Tagen der Husiten. Und dann sind noch ein paar alte Tore übrig geblieben, dazu Reste einer Stadtmauer, und wer es noch nicht glaubt, daß Hasenrieth früher ein sehr bedeutender Ort gewesen ist, den führen die Hasenriether im Triumph vor das alte Schloß, in dem heutzutage an die zwanzig arme Familien eingeschachtelt wohnen, und zeigen ihm den eingemauerten Stein mit den zwei Wappenbildern und einer Inschrift, und die ist so alt, daß sie der frühere Herr Pfarrer nur zur Not lesen konnte; der derzeitige Herr aber hat sie überhaupt niemals entziffert.

Ja, die Hasenriether sind stolz auf ihre Stadt und auf 139 ihre Geschichte, die so bedeutend ist, daß noch niemand sie näher zu erforschen gewagt hat. –

Nacht war's, und in der niederen, vertäfelten Herrenstube eines Gasthauses am Marktplatz saßen die Männer von Hasenrieth, die etwas vorstellten in dem Gemeinwesen, und rauchten und tranken in altüberlieferter Weise.

Der Ausschuß des Vereins ›Frohsinn und Erheiterung‹ war in einer Sitzung versammelt, und es handelte sich diesmal um eine Beratung, wie man im kommenden Frühling das fünfzigjährige Stiftungsfest aufs würdigste begehen könnte.

Weil aber jemand verwundert fragen könnte, warum dieser Verein zwei so ähnlich lautende Namen führte, so sei hier gleich gesagt, daß der Doppelname tief begründet war in der Geschichte. Denn ursprünglich hatte es in Hasenrieth zwei Vereine gegeben, den Verein Frohsinn und den Verein Erheiterung. Diese Vereine standen einander schroff gegenüber. Es glimmte und schwälte das Jahr hindurch unter der Asche des Alltaglebens die Eifersucht, welcher Verein mehr zur Erheiterung der Hasenriether beitrage, beziehungsweise sie froher und sinniger zu machen verstehe. Immer zur Zeit des Karnevals aber nahm dieser Wettkampf so bedrohliche Formen an, daß besonnene, für das Wohl der Stadt verantwortliche Leute der Sache eines Tages ein Ende machten. Man berief eine gemeinsame Generalversammlung beider Vereine ein – was nicht allzu schwierig zu bewerkstelligen war, denn jeder Hasenriether, der etwas auf sich hielt und nicht gerade Kartoffeln gestohlen hatte, war Mitglied des Vereins Frohsinn und des Vereins Erheiterung zugleich. Ein glänzender Redner trat auf und wies überzeugend nach, daß jeder Hasenriether im Falle einer Verschmelzung beider Vereine die Hälfte der bisher gezahlten Vereinsbeiträge erspare, und daß nur auf solche Weise die Eintracht hergestellt werden könnte. Sogleich riefen etliche 140 Idealisten, man solle einen neuen Verein mit dem herrlichen Namen »Eintracht« gründen, aber die Mehrheit entschied dahin, daß man der geplanten Vereinsvereinigung zum ewigen Gedächtnis an die geschichtliche Entwicklung unbedingt den Doppelnamen »Frohsinn und Erheiterung« geben müsse. Und seitdem flatterten beide Wimpel zu Häupten derer von Hasenrieth. –

Tabaksqualm lagerte über dem langen Tische, an dem heute der Ausschuß tagte oder vielmehr nächtigte, und verhüllte die Geschehnisse, wie der Pulverdampf die Schlachtfelder in alter Zeit.

Lange hatte der Kampf der Meinungen hin und her gewogt, ein richtiger Kampf, bei dem es rote Köpfe und starken Durst gab. Man war zu keinem Entschlusse gekommen, und noch war das Ende des Streites nicht abzusehen, obgleich sich schon seit geraumer Zeit das Türlein der Wanduhr geöffnet, der Kuckuck sich elfmal verbeugt und elfmal mit durchdringendem Rufe die dampfende Versammlung an die Heimkehr gemahnt hatte.

Der erste Vorstand hatte unter nicht geringem Beifall ein großes Bratwurstessen zur Feier des Tages vorgeschlagen; Tanz und Preiskegeln sollten sich anschließen und die Hasenriether erheitern und froh machen. Aber da hatte der Vereinskassierer seine gewichtige Stimme erhoben und auf der Grundlage nüchterner Zahlen dagegen gesprochen: Solche Massenabfütterung ertrage seine Kasse unter keinen Umständen. Wenn die Hasenriether Bratwürste zu speisen wünschten, so sollten und könnten sie solche aus eigener Tasche bezahlen. Gegen Tanz und Preiskegeln habe er nichts einzuwenden; denn die paar Preise ließen sich noch erschwingen, und tanzen müsse man immer auf eigene Kosten.

Damit war die Angelegenheit auf ein totes Geleise geschoben. Denn über Essen, Tanzen und Kegelschieben hinaus 141 reichte die Einbildungskraft der allerwenigsten Hasenriether, und zu sparsamer Lebensführung waren sie samt und sonders von Herzen geneigt. –

Aber es gab auch noch andere Leute im Ausschuß.

Am untern Ende des Tisches saßen drei jüngere Herren, die offenbar nicht der Zufall zusammengeführt hatte.

Sie verfolgten mit heimlichem Lachen und Augenzwinkern den Gang der Verhandlungen, die ihnen ungemein albern erschienen; namentlich der Mittlere mußte eine Art von Feuergeist sein, denn es war klar, daß nur die Besonnenheit der beiden andern den Freund an einer frühzeitigen Einmischung in die Debatte, an leichtsinnigem Verpuffen seines Pulvers hinderte.

Dieser Dritte war ein Mann in den dreißiger Jahren; er erfreute sich eines großen Kopfes und eines bleichen, langen Gesichtes; sein rötliches Haupthaar wallte, sorgfältig gekämmt, wie eine Mähne auf die Schultern herab. Die wässerigen Augen lagen hinter entzündeten Rändern, ein kümmerliches Bärtchen hob seine wulstige Oberlippe noch stärker heraus, seine Stumpfnase öffnete sich merklich nach oben, und große, spitzige Ohren starrten aus der Fülle der Locken nach rechts und links. Stattlich war er anzusehen, breitschulterig, wohlgewachsen. Aber als er nun mit einem Ruck emporfuhr, die mächtigen Fäuste auf die Tischplatte stemmte und mit bellender Stimme ums Wort bat, wurde offenbar, daß der gewaltige Oberleib auf ganz kurzen Beinen saß. Darunter litt das Ebenmaß seiner Erscheinung.

Zweimal mußte der kleine Mann schreien, bis ihn der Vorstand hörte.

»Ah, bitt' um Vergebung, der Herr Postassistent Schnieferl hat's Wort.«

»Jetzt is recht, jetzt leg los!« sagte der lange, hagere Anwaltsbuchhalter leise zu seiner Rechten. Und der rundliche, 142 rosige Kaufmann gab ihm einen ermunternden Puff in die linke Seite.

Da fuhr der Kleine mit den gespreizten Fingern durch seine Mähne, warf das Haupt zurück, ließ die Augen rollen und begann: »Meine Herren, mir scheint, es ist alles, was da geredet worden ist, für die Katz'.«

»Oho! oho!«

»Ich bitt', lassen S' mich ausreden. Mir scheint halt, wenn sich ein solchener Verein wie unser Verein seines Inkognitos entkleidet und ins Sonnenlicht der Öffentlichkeit heraustritt, meine Herren, dann muß er etwas ganz Besonderes leisten, dazu, meine Herren, ist er dem unverwelklichen Kranze seiner Ehre verpflichtet.«

»Brafo! brafo!«

»Meine Herren! Bratwurstessen ist nicht zu verachten – aber ich bitt', meine Herren, ist's vielleicht 'was Besonderes? Preiskegeln ist auch gut – aber, meine Herren, ist's vielleicht 'was Besonderes? Tanzen! Gut und abermals gut für die blühende Jugend im schmelzenden Lenze des Lebens –«

»Brafo! brafo! Sst! Sst!«

»– aber 'was Besonderes ist auch der Tanz nicht. Nein, meine Herren, wenn ein Verein wie der unsrige die Alltagskleider abwirft und geschmückt wie eine Braut aus der Kammer tritt –«

»Brafo! brafo!«

»– dann muß er etwas Besonderes leisten, das ist er seiner makellosen Ehre und den Unvergeßlichen schuldig, die einst, meine Herren, vor einem halben Säkulum, gleichsam zwei Herzen und ein Gedanke, sich emporraffend aus dem Staube des Alltages, in heißem Ringen nach dem Ideale, wie der unsterbliche Dichterfürst Schiller sagt, im Wettkampf der Geister gegründet haben die beiden Vereine ›Frohsinn und Erheiterung‹.«

143 »Brafo! brafo! Ausgezeichnet!«

Postassistent Schnieferl stemmte sich noch fester auf die Tischplatte, ließ die Blicke den Tisch entlang rollen und bellte nach einer Weile weiter: »Deshalb gibt es für Leute, wie wir sind, nichts anderes als – Theater spielen. – – Aber, meine Herren, kein gewöhnliches Theaterspiel; denn so 'was bringt jeder Verein zusammen. Nein – etwas unter dem Motto: Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an, das halte fest mit deinem ganzen Herzen! – etwas Durchgreifendes, das Herz Rührendes, den Geist Erhebendes, mit einem Worte Patriotisch-Schwungvolles. Ich möchte wissen, meine Herren, ob wir nicht auch zustande bringen, was andere gemacht haben! Sehen Sie die Rothenburger an – die haben ihren Meistertrunk. Oder gehen Sie nach Dinkelsbühl; dort wird alle Jahr die Kinderzeche gefeiert. Oder nach Furth im Wald, wohin der Drachenstich alljährlich viele Tausende lockt.«

»Brafo!«

»Drachen haben wir grad genug in Hasenrieth,« äußerte sich eine Baßstimme; »aber stechen darf man sie nit.«

Behagliches Lachen lief um die lange Tafel.

»No also, was sollen wir dann spielen?« fragte der Vorstand.

»Meine Herren,« rief der Rote, »das lassen Sie unsere Sorge sein! Ich und meine Freunde – was wäre der Mensch ohne Freunde? wie schon Goethe der Große ungefähr sagt, – wir haben uns etwas zurechtgeschmiedet, was« – er hieb mit der Faust auf den Tisch – »was uns so leicht keiner nachmacht –!«

Nun schoß der Anwaltsbuchhalter wie eine Stange in die Höhe: »Ich bitt' ums Wort! Die logische Folge ist, um mich kurz zu fassen, wie schon Kant, der Philosoph, gesagt hat, daß, wenn der Antrag zum Beschlusse erhoben wird, wie ich wünsche und hoffe, der verehrliche Ausschuß dem Herrn Postassistenten Schnieferl freie Hand läßt. Weiter 144 beanspruchen wir nichts, und ich kann nur mit den Worten schließen: Glauben Sie mir, es wird 'was!«

»Auch ich bitte ums Wort!« sprach nun der rundliche Dritte und erhob sich: »Auch mich beseelt das beste Zutrauen, wenn der Herr Postassistent Schnieferl die Sache in die Hand nimmt. Denn er ist, wie wir alle wissen, mit der Muse der Dichtkunst auf Du und Du. Weiter wollte ich gar nichts bemerken.«

Die drei saßen wieder, und es entstand eine Pause. Dann erhob sich der Vereinskassierer: »Meine Herren, wie gesagt, ich bin mit allem, was Sie beschließen, von vornherein, wie gesagt, einverstanden, wenn, wie gesagt, auch meine, das heißt die Vereinskasse, wie gesagt, damit einverstanden sein kann. Weiter wollte ich gar nichts bemerken.«

Sofort erhob sich wieder Postassistent Schnieferl: »Meine Herren, das ist ja der Hauptwitz bei der Sache, daß der Herr Kassierer ohne Sorgen sein kann. Das Festspiel, das wir aufführen, wird uns nicht nur – abgesehen von etlichen Kostümen, Kulissen und sonstigen Kleinigkeiten –«

»Aha!« rief der Kassierer.

»– wird uns«, fuhr Schnieferl mit bellender Stimme fort, »nicht nur nichts kosten, sondern, damit ich mich des schnöden Wortes bediene, Geld in Fülle einbringen. Denn, ohne aus der Rolle der Bescheidenheit zu fallen, es wird von nah und von fern –«

»Pressebearbeitung!« rief der Anwaltsbuchhalter.

»– Gäste in Scharen herbeiführen, und wir werden einen Fremdenverkehrsverein bilden müssen, damit wir nur imstande sind, den ungeheuren Andrang in die richtigen Bahnen zu leiten.«

»Brafo! brafo!« riefen die Bäcker und Metzger und Krämer. Und zuletzt ließ sich die fette Stimme des Wirtes, der an der Türe lehnte, vernehmen: »So 'was hat uns in Hasenrieth schon immer g'fehlt.«

145 »Und wie heißt also das Stück?« fragte der Vorstand.

In erwartungsvoller Stille blickte die ganze Versammlung durch den Tabaksqualm auf das Haupt Schnieferls. Das Türlein der Wanduhr aber öffnete sich, der Vogel sprang heraus, verneigte sich zwölfmal und rief zwölfmal seinen Mahnruf über die Versammlung.

Der Postassistent hatte sich erhoben und sah fragend auf seine Freunde zur Rechten und Linken.

»Sag's ihnen!« entschied der Buchhalter, und der Kaufmann nickte dazu.

Und laut heraus bellte Schnieferl: »Es heißt: Die Helden von Hasenrieth.« – – –

Man wußte eigentlich nicht, wer das Zeichen gegeben hatte, – die einen sagten später, es sei der Herr Pfarrer gewesen, die andern beschuldigten den Herrn Rentamtmann. Gleichgültig – irgendwer hatte geklatscht, und dann war ein Beifallsgetöse ausgebrochen, daß der Nachtwächter draußen vor dem Fenster mitten in seinem Stundenspruch innehielt, die Nase an der Fensterscheibe platt drückte und am Vorhange vorbei ums Leben gern etwas erspäht hätte. Aber er konnte nichts sehen, so dick war der Qualm.


Bald nach Mitternacht trennten sich die Genossen, und Marktplatz und Gassen hallten wider von den genagelten Schuhen der Ehrbaren.

Schlösser kreischten, Hunde bellten, Fenster wurden helle, schläfrige Stimmen fragten aus hochgetürmten Federkissen. »No, was habt ihr denn ausgericht'?«

»Theater wird g'spielt. Der Schnieferl schreibt's Stück. Schön wird's. Und Leut' werden kommen, grausam viel Leut'.«

»Den schau an! Das ist halt einer, der Schnieferl!« –

Der Friede der Nacht legte sich über die menschliche Ansiedelung Hasenrieth.

146 Vor einem winzigen Hause nahe der Stadtmauer standen die drei Verschworenen noch längere Zeit und berieten den Schlachtenplan.

»Ein voller Sieg!« urteilte endlich der Kaufmann.

»Ein Abend, dessen Beschreibung du logischerweise in die Vereinschronik eintragen mußt, wenn wir den alten, ganz untauglichen zweiten Vorstand glücklich abgesetzt haben, Schnieferl,« sagte der Anwaltsbuchhalter.

»Und übermorgen fahren wir ins Archiv«, erklärte der Postassistent hoheitsvoll. »Dann wird sich alles andere von selber machen; denn das Gerippe des Ganzen hab' ich bereits im Kopf.«

Und er drückte den beiden die Hände, steckte den Schlüssel ins Loch und tappte mit dem ganzen Gerippe im Kopf die ächzende Treppe hinan.

*

Der Archivar saß in seinem Amtszimmer zu ebener Erde des Archivgebäudes und schob langsam ein Brennglas über die bös verblaßten Zeilen einer großen Urkunde. Er hatte sich nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub sogleich in den wackeligen Kirchturm von Schnackelricht verbissen.

Es war noch früh am Vormittage. Vor dem einen starkvergitterten Fenster lag im Sonnenschein das Gärtchen mit seinen Blumen, und durch die zwei anderen Fenster schaute groß und grau von jenseits des breiten Grabens das Schloß der pfälzischen Kurfürsten in die stille Werkstatt herein.

Das Gartenfenster stand offen, und das hohe, gewölbte Gemach war vom Dufte der spätsommerlichen Blumen erfüllt. Reseden und Monatsrosen wetteiferten im Kampfe gegen den Modergeruch, der bald leiser bald lauter durch jedes archivalische Amtszimmer schwingt.

Der alte Herr saß an seinem großen Schreibtisch inmitten der Stube. Zwei Wände waren mit Büchergestellen 147 verkleidet. Auf kleineren Tischen lagen Urkunden mit Holzkapselsiegeln, in Schweinsleder gebundene Folianten, ein Buch, an dem eine Kuhkette im Formate der Trausnitzer Kerkerkette herabhing, und etliche Bündel alter Akten. Aber alles in peinlicher Ordnung gelegt und aufgestapelt, augenscheinlich nur für den Tagesgebrauch bestimmt. Auch auf der Schreibtischplatte lagen die Geräte an ihrem gebührenden Ort, jedes gleichsam ein Beispiel für den lateinischen Satz, der in altertümlich verschnörkelten Buchstaben auf einem Brette über einer der Türen zu lesen war: Ordo fundamentum archivi – das heißt auf gut deutsch: durch Schlamperei wird ein Archiv binnen kurzem zum Saustall. –

Die Gangtür öffnete sich, der Amtsdiener trat ein, pflanzte sich neben dem Schreibtisch auf und meldete mit einem Reste militärischer Strammheit: »Drei Herren sitzen im Benützersaal und wünschen den Herrn Amtsvorstand zu sprechen. Was sie wollen, haben sie mir nicht gesagt.«

»Ist auch gar nicht nötig gewesen,« meinte der alte Herr trocken, »denn das werden sie mir sagen. Also, ich lasse die Herren bitten.« Dann aber hob er den Kopf, hüstelte ein wenig und bemerkte kopfschüttelnd mit leisem Vorwurfe: »Man riecht's halt schon wieder auf eine Stunde im Umkreis!«

»Ist aber feuersicher verwahrt«, verteidigte sich der Amtsdiener und schlug mit der flachen Hand auf seine wetterfeste Joppe, in deren wohlverborgener Brusttasche die Deckelpfeife mit dem entsetzlichen Tabak schwälte.

»In loco archivi –?« examinierte der alte Herr.

»– ist das Rauchen strengstens verboten«, kam die Antwort zurück.

»Deshalb wandert –?«

»– die Pfeife bei der Rückkehr von einem Dienstgange noch vor der Haustüre in die Tasche«, vollendete der Diener.

148 »– um dort im Hinterhalt weiter zu stinken«, ergänzte der Archivar lachend.

»Entschuldigen der Herr Amtsvorstand,« erlaubte sich nun der Archivdiener gleichfalls ein wenig lächelnd zu bemerken, »mit achtzehnhundert Mark Gehalt –«

»– und freier Dienstwohnung«, ergänzte der Archivar.

»– und fünf Kindern«, fuhr der Diener fort.

»können Sie keine Havanna rauchen. Ist auch gar nicht nötig; denn auch ich rauche keine. Aber eines ist sicher: Sie werden niemals Motten in Ihre Kleider bekommen, und so hat auch Ihre ordnungswidrige Pfeife gewissermaßen Sinn und Zweck im Haushalt der Natur. Und nun führen Sie die Herren zu mir!«

Die drei Männer aus Hasenrieth standen in der Stube des Alten, kugelrund, hager und lang, kurzbeinig und breitschulterig, wie sie von Natur gewachsen waren, aber in sonntägliche Gewänder gehüllt, mit hohen Hemdkrägen und großen, bunten Kravatten aus dem Laden des Kaufmanns.

»Wir kommen in einer wichtigen Angelegenheit, Herr Archivar,« begann der Postassistent.

Murmelnd und kopfnickend bestätigten die zwei andern die Richtigkeit dieser Einleitung, während sie ihre Blicke neugierig über die fremdartigen Dinge im Gemache schweifen ließen.

Mit einer gewissen Würde strich der Archivar seinen langen, weißen Bart und erwartete ohne sonderliche Zeichen innerer Erregung die weitere Entwicklung der Dinge. Denn die Leute kommen immer nur in wichtigen, sehr wichtigen und ganz außerordentlich wichtigen Angelegenheiten ins Archiv. Zuweilen sogar telegraphisch. Über den Grad der Wichtigkeit entscheiden sie selbst.

Postassistent Schnieferl aber fuhr fort: »Weil es uns bekannt ist, daß die Archive des Staates dazu vorhanden sind, daß die Ortsgeschichtsforschung nach Kräften gefördert werde, –«

149 »– war die logische Folge,« fiel der Buchhalter ein, »daß wir beschlossen haben, uns an Sie zu wenden.«

»Unser Ort ist alt, und die Geschichte unsrer Vergangenheit ist so reich –,« begann der Postassistent aufs neue.

»– daß die logische Folge eine gedruckte Ortschronik sein müßte,« fiel der Anwaltsbuchhalter ein.

»Doch was nicht ist, kann noch werden,« äußerte sich nun der rundliche Kaufmann und warf einen vielsagenden Blick auf den Postassistenten. »Ich sage nur so viel – dieser Mann da – – weiter sage ich nichts.«

»Um Vergebung, meine Herren,« kam nun der Archivar zu Wort, »dürfte ich Sie zunächst um« – er lächelte ein wenig – »ich wage zwar nicht, Sie um Lüftung Ihres Inkognitos zu bitten, aber den Namen Ihres Heimatortes müßten Sie mir schon deshalb verraten, weil es in unserm gesegneten Lande eine ganze Reihe von alten, sehr alten und außergewöhnlich alten Orten gibt.«

Auf dieses hin verneigten sich die drei Männer aus Hasenrieth zu gleicher Zeit und stotterten zu gleicher Zeit ihre Namen.

»Also aus Hasenrieth!« sagte der Archivar, und es war, als ob ein flüchtiges Lächeln sich geschwinde in seinem weißen Bart und in den ernsten Falten seiner Amtsmiene versteckte: »Sehen Sie, jetzt haben wir schon festen Boden unter den Füßen. Hasenrieth – das ist freilich ein alter Ort!«

»Das will ich meinen!« rief der Postassistent. »Ich behaupte sogar, ein außergewöhnlich alter Ort, ein Ort mit einer stolzen Vergangenheit.«

»Und mit der auch schon sehr alten Gesellschaft Frohsinn und Erheiterung«, ergänzte der Kaufmann.

»Das Einfachste ist halt,« meinte der Postassistent ganz gemütlich, »Sie zeigen uns jetzt, wo Sie alle Ihre Urkunden von Hasenrieth liegen haben. Dann brauchen S' Ihnen gar keine Mühe mehr mit uns zu geben, wir richten Ihnen keine 150 Unordnung an; der Herr Buchhalter da weiß schon, wie 's in so einer Registratur zugeht.«

»Das ist leichter gesagt als getan«, erwiderte der alte Herr freundlich und wiegte sein weißes Haupt. »Sie meinen wohl Urkunden, Akten, Rechnungen, Zins-, Sal- und Lagerbücher und so weiter?«

»Natürlich meinen wir alles«, nahm der Buchhalter das Wort, der sich als Sachverständiger fühlte. »Und das alles werden Sie doch haben auf einen, zwei Griff?«

»Nicht so einfach, meine Herren. Ein Archiv ist eben aus vielen Bestandteilen zusammengesetzt. Hier ein altes, in sich geschlossenes Regierungsarchiv, dort ein Zugang aus der Registratur eines äußeren Amtes, dann wieder die Urkundensammlung eines aufgehobenen Klosters –«

»Und das ist ja doch alles geordnet, wie sich's gehört?« fiel der Buchhalter ein.

»Selbstverständlich.«

»Also liegt alles im Betreff Hasenrieth auf einem Platz, und die logische Folge ist, daß man alles auf einen Griff haben kann. In unserer Anwaltsregistratur ist das um kein Haar anders. Ich sag's immer, eine Registratur ist wie eine Apotheke.«

»Haben Sie schon einmal ein großes Archiv gesehen?« fragte der Archivar mit gerunzelter Stirne.

Der Kaufmann zupfte den erregten Buchhalter hinten am Rock und sagte höflich in seiner Geschäftssprache: »Ein paar Muster können Sie uns vielleicht doch vorlegen, Herr Amtsvorstand?«

Aber der Buchhalter ließ sich nicht irre machen und wiederholte rechthaberisch: »Wie eine Apotheke!«

Der Archivar fuhr etwas unwirsch in seinen Bart und wandte sich an den Postassistenten: »Ich kann Ihnen nur raten, verfassen Sie ein Schriftstück mit kurzer Angabe Ihrer Wünsche. Sie können diese Wünsche auch sogleich zu 151 Protokoll geben. Dann wird mit aller Genauigkeit in den einschlägigen Beständen nachgeforscht, und in acht, vierzehn Tagen erhalten Sie das Ergebnis und die Aufforderung, Ihre Studien im Archiv zu beginnen.«

»O je, Herr Archivar,« sagte nun der Postassistent mit wehmütiger Miene. »Und wir hätten doch so gern gleich heut schon angefangen!«

»Ich will Ihnen gedruckte Literatur vorlegen, meine Herren. Ich vermute, die allgemeine Literatur ist Ihnen draußen in Hasenrieth nicht vollständig zur Hand. Dem Studium der Urkunden muß immer die Beschäftigung mit der Literatur vorangehen. Und vielleicht haben Sie einen besonderen Wunsch, Sie möchten zum Beispiel zunächst Urkunden über Ihr altes Schloß einsehen? Solche könnte ich Ihnen sogleich ausheben lassen.«

»Keine Rede von dem allen«, rief der Postassistent. »Ich will's Ihnen jetzt gleich gradraus sagen, wie 's ist. Wir wollen ja gar keine Ortschronik schreiben. Aber ein Festspiel müssen wir haben fürs Fünfzigjährige vom Verein Frohsinn und Erheiterung. Und unser Festspiel heißt: Die Helden von Hasenrieth.«

»Ah so!« Der Archivar lächelte verständnisvoll. »Jetzt begreife ich, es ist ein Ereignis aus der Vergangenheit Ihrer Stadt, das Sie so sehr anzieht, daß –«

»– die logische Folge davon ist, daß dieser Herr da ein Theaterstück daraus machen will,« vollendete der Buchhalter.

»Es wird ja immer klarer«, rief der Archivar. »Also – die Helden von Hasenrieth!« Er nahm einen Notizblock vom Schreibtisch, setzte den Stift an und blickte erwartungsvoll von einem zum andern. »Aber nun los! Wann haben Ihre Helden gelebt und welches sind ihre Taten gewesen?«

Betreten blickten die drei einander an. Endlich platzte der Buchhalter heraus: »Aber das müssen doch Sie wissen!«

152 »Warum wären wir denn sonst ins Archiv gekommen?« sagte der Kaufmann mit leisem Vorwurfe.

Und in belehrendem Tone ergänzte der Dichter: »Wo doch jede Stadt die ihrigen hat – warum sollen denn grad wir Hasenriether gar keine Helden nicht haben?«

Der alte Herr schluckte ein paarmal, verschluckte seine gewaltsam aufsteigende Heiterkeit und sagte endlich mit leidlicher Fassung: »Sehen Sie, meine Herren, jetzt ist mir alles ganz klar geworden. Das ist eben der Segen der mündlichen Aussprache. Und ich bezweifle nicht im geringsten mehr, daß Ihre Stadt zur rechten Zeit immer die rechten Männer, also wohl auch dann und wann Helden gehabt hat.«

»No also!« murmelte der Anwaltsbuchhalter.

Der Archivar aber legte den Notizblock auf den Schreibtisch. »Meine amtliche Forschung wird sich demnach einstellen auf die Helden von Hasenrieth. Es wird alles bestens besorgt, und das Ergebnis lasse ich Ihnen etwa in acht Tagen zugehen. Herr Postassistent –?«

»Schnieferl, zu dienen!«


Die drei Männer von Hasenrieth wandelten die Regierungsstraße hinauf. Dort, wo der Eingang zum Bau ist, unter dem berühmten Erker, blieb der Buchhalter stehen: »Laßt euch sagen, der Archivar, der hat mir schon gleich nicht recht gefallen. Aber ich weiß schon, es ist so die Mode in Regierungskreisen: immer werden wir Hasenriether benachteiligt, das ist beim Eisenbahnbau akkurat so gewesen. Und eine Ordnung muß der in seinem Archiv haben – gute Nacht! Gewunden hat er sich wie ein Ohrwurm. Und deswegen gibt der bayerische Staat jahraus, jahrein soviel Geld für den Archivetat aus. Denkt an mich, der findet nichts, der will gar nichts finden. Aber dann kann er mir 'was erleben, der Fuchs, der elendige!«

*

153 Vierzehn Tage danach brachte ein Provinzblatt folgendes Eingesandt: »Bei allen Gelegenheiten betont der Minister, daß die staatlichen Archive den Rechtssuchenden und den Geschichtsforschern, wer sie auch sein mögen, offen stehen, und daß es in logischer Folge mit jeder Geheimtuerei für alle Zeiten aus und vorbei sein müsse. Es wäre aber nicht das erstemal, daß großzügige Anordnungen höchster Stelle durch kleinliche, engherzige, einseitig gerichtete Beamte zunichte gemacht werden. Uns möchte scheinen, daß dies in erheblichem Grade in einem Archive unserer ohnehin oft stiefmütterlich behandelten Provinz der Fall ist. Und wenn dort in der Tat den Lokalgeschichtsforschern systematisch der Weg verbaut und klaren Anfragen die richtige Antwort verweigert wird, so ist es höchste Zeit, daß die vorgesetzte Stelle nach dem Rechten sieht. Die Wissenden – und es gibt deren sehr viele – sind keinen Augenblick im Zweifel, was wir meinen. Und wir werden logischerweise immer wieder auf das Rubrum des Aktes ›Die Helden von ***‹ zurückkommen, bis sich seine feste Verschnürung löst, so oder so. Etliche Freunde der Wahrheit und des Lichtes.«

Schon nach zwei Tagen erhielt der Archivar den Ministerialauftrag, sich zu verantworten.

Er tat es mit folgendem Berichte:

»Der mir telegraphisch erteilte Auftrag wird hiermit berichtlich vollzogen. Postassistent Schnieferl von Hasenrieth beabsichtigt für den Verein ›Frohsinn und Erheiterung‹ ein Festspiel zu verfassen mit dem Titel ›Die Helden von Hasenrieth‹. Angaben über Zeit und nähere Umstände solcher Heldentaten konnte mir der Herr Archivbenützer nicht machen. Desungeachtet habe ich pflichtgemäß alle einschlägigen Bestände nach Heldentaten der Hasenriether durchforscht und dabei in erster Linie die Kriegsakten in Betracht gezogen. Die Arbeit nahm etwa eine Woche in Anspruch und hatte 154 nicht den geringsten Erfolg. Ich verfehlte nicht, dem Gesuchsteller dieses Ergebnis unter eingehender Aufzählung all dessen, was durchgesehen wurde, zur Kenntnis zu bringen. Darauf erhielt ich die in Abschrift beiliegende, in ungebührlichem Tone gehaltene Eingabe, worin unter Hinweis auf die Definition des Begriffes ›Held‹ in einem alten Konversationslexikon um Fortsetzung der Recherche ersucht wurde. Diese Definition lautet: ›Held im weiteren Sinne ist einer, der ohne Rücksicht auf das eigene Wohl mit Einsetzung aller seiner Kräfte auszuführen bemüht ist, was er als seine Pflicht erkannt hat.‹ Die Eingabe schließt mit den Worten, eine heute noch mit Mauern und Graben umgebene, mit trotzigen Türmen versehene Stadt müsse logischerweise vorzeiten auch Helden in ihrem Weichbilde beherbergt haben.

»Im Hinblick auf diese Definition des Begriffes Held unterzog ich nun auch, in Erwartung eines Erfolges, die Akten der Gegenreformation einer Durchsicht. Und in der Tat, meine Hoffnung hatte mich nicht getäuscht.

»Die Tochter eines lutherischen Ungelters, deren Mutter in zweiter, kinderloser Ehe mit einem Bäcker in Hasenrieth verheiratet und zur katholischen Kirche übergetreten war, hatte um ihres Bekenntnisses willen ihr Vaterland verlassen und fristete ihr Leben als Dienstmagd in Regensburg bei einem oberpfälzischen Edelmann, der um des Glaubens willen ausgewandert war. Im Dezember des Jahres 1628 rief der Stiefvater auf Befehl der Regierung die Jungfrau nach Hause, widrigenfalls ihr nicht unbeträchtliches Vatergut dem Fiskus anheimfallen müßte. Darauf schrieb diese am 31. Dezember 1628: ›Wenn ich's hätt' über mein Gewissen bringen können, wär' ich vorher bei Euch geblieben, wo es mir so gut gangen ist. So es die Obrigkeit über ihr Gewissen bringen kann und mir das Meinige absprechen kann, bin ich's wohl zufrieden, und mit dem geduldigen Hiob spreche ich: Herr, dein Wille 155 geschehe, und nit der meinige. Hab auch ein Exempel und Vorbild an meinem Dienstherrn, dem frommen Herrn von Moos. Der hätt' auch können sehen gute Tage in seinem festen Haus. Aber dennoch hat er Gottes Wort höher geachtet als Haus und Hof, Äcker und Wiesen, Wälder und Weiher und ist mit seiner bettlägerigen Frauen und einzigem Söhnlein aus aller seiner Herrlichkeit ins Elend gezogen. Mit ihnen aß ich das Brot der Armut, ihnen dien ich um Gottes willen und dank meinem Heiland, daß ich also auch etwas nutz bin auf Erden. Mit ihnen hoff ich auf bessere Zeiten. Herzlieber Herr Vater, herzliebe Mutter, die mich unter dem Herzen getragen hat, der ich Euch das einzige Kindlein bin, Ihr wollt also Eure Hand ganz und gar von mir abziehen? So gedenk ich doch, daß ich einen Vater im Himmel hab, und muß mit dem 21. Psalm singen: Wenn mich schon Vater und Mutter verlassen, nimmt mich der Herr gnädig an. Ich will Euch, Herr Vater, fein sagen, wer mein bester Freund in der Not ist: Das ist Gott im Himmel. Der sagt: Wirst du von einem Ort vertrieben, so zeuch an einen andern. Weil ich denn das Elend bauen muß, will ich's recht bauen und den lieben Gott walten lassen. Ich habe keine Lust, mich einzustellen, weil ich von Jugend auf in meiner Religion erzogen worden bin. Ich bleibe bei dem, was ich geschrieben habe, wiewohl ich gern bei dem Herrn Vater und meiner lieben Mutter wäre und besser Sach haben könnte. Aber um der besten Sach willen begehr ich nicht, das Elend mit der Heimat zu vertauschen.‹ –

»Von diesem Funde machte ich dem Herrn Postassistenten Schnieferl Mitteilung und fügte hinzu, daß meines Erachtens bei dieser Dienstmagd alle Kennzeichen des Heldentums zuträfen. Allerdings aber dürfte sich der sonst recht dankbare Stoff nicht so ganz zu einem Festspiele im Verein ›Frohsinn und Erheiterung‹ eignen. Darauf erschien das ›Eingesandt‹. 156 Inwiefern ein dienstlicher Verstoß meinerseits vorliegt, wird die höchste Stelle zu beurteilen haben.«

*

Es verging eine Woche. Dann lief diese höchste Entschließung ein: »Die Darlegungen des Herrn Amtsvorstandes haben zur Kenntnis gedient. In Zukunft sind die allgemeinen Vorschriften über die Archivbenützung genau zu beachten, wonach der Benützer in erster Linie verpflichtet ist, seine Wünsche bestimmt zu formulieren. Schon die amtliche Durchsicht der Kriegsakten allgemeinen Betreffs aufs Geratewohl hätte sich im vorliegenden Falle erübrigt. Die Ausdehnung der Recherche auf die Akten der Gegenreformation war keineswegs im Interesse des Gesuchstellers gelegen.«


Der Archivar mußte heftig niesen – dreimal, fünfmal, achtmal hintereinander.

Der eintretende Funktionär wünschte dem Herrn Amtsvorstand ein höfliches »Zum – Wohlsein«.

Dieser schneuzte sich, wandte dem alten Soldaten das hochrote Gesicht zu und meinte lachend und schnaubend: »Na, wenn mir das nicht wohl tut, dann hilft mir nichts mehr. Aber ich weiß gar nicht, woher es kommt?«

»Seitdem der verstaubte Zugang von der Regierung ausgepackt worden ist, hat da herinnen alles den Schnupfen,« erklärte das Faktotum.

»Weshalb keiner den Staatsdienst wählen soll, der nicht zuweilen einen hohen oder höchsten Zugang ohne Nachteil schlucken kann,« sagte der Archivar. »Tragen Sie diese höchste Entschließung in das Geschäftstagebuch ein, Herr Funktionär.« 157

 


 


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