August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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6. Ein verödetes Nest

Nach ein paar Regentagen leuchtete die Sonne wieder in Klarheit auf die Stoppelfelder herab. Weiße Wölklein standen in unermeßlichen Höhen, und die bewaldeten Berge begrenzten blauduftig das weite Tal.

Nahe den funkelnden Bahnschienen lag ein Dorf mit niederen Hütten, dazwischen hoben sich ein paar Ziegeldächer über die strohgedeckte Nachbarschaft heraus, und in den braunen Pfützen der Dorfstraße versuchte sich die liebe Sonne zu spiegeln.

Einer Kirche entbehrte die kleine Siedelung. Statt ihrer ragte am Eingang, fast vornehm anzusehen in dem ärmlichen Bilde, ein altes, graues Schlößchen.

Ein Schlößchen. In einer noch so kleinen Stadt wäre es ein Haus wie andere auch gewesen, ansehnlich, aber nichts Besonderes. Hier war's etwas Besonderes, hier war es ein Schloß. Denn es kommt in dieser Welt des Scheines alles darauf an, wo etwas steht.

Es hatte dicke Mauern und über dem Erdgeschosse noch zwei Stockwerke. Und von unten bis oben waren die Längswände von fünf, die Seitenwände von zwei Fenstern durchbrochen. Ein hohes Walmdach, auf dessen alten Ziegeln strichweise dunkles Moos wuchs, krönte den Bau.

Und es war doch nicht etwa nur ein großes Haus, sondern es war eine richtige Moosburg. Denn eine massige Mauer lief auf allen vier Seiten herum, vier Türmchen sprangen an den Ecken aus diesem Bering, und ein breiter, versumpfter Graben erschwerte auch jetzt noch die Annäherung und zwang die Besucher, den Holzsteg zu benutzen, der an Stelle einer Zugbrücke zum Tore hinüberführte. Die Türmchen aber hatten im Laufe der Zeit ihre Spitzhüte verloren, waren anzusehen 118 wie Maßkrüge ohne Deckel und behaupteten mißmutig und zwecklos ihren Posten.

Länger als dreihundert Jahre stand das Schlößchen in dieser Gestalt sicherlich nicht. Aber ebenso gewiß hatte derselbe Wassergraben schon Jahrhunderte vorher eine Moosburg geschützt.

Vor dreihundert Jahren also mochte das Schlößlein noch recht neu gewesen sein. Und nicht lange danach erlebte es einen Tag, so stolz –

Von diesem Tage erzählte auch der Archivar, der mit dem Major und seiner Tochter durch die Gemächer ging: »Nicht nur die Preußen, sondern auch die Bayern haben einen Großen Kurfürsten gehabt. Aber die Größe des bayerischen Herrn ist verschieden von der des preußischen Staatsbegründers. Ein Hauptunterschied liegt wohl darin, daß der Preuße die besten Untertanen fremder Herren, wenn jenen der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, mit väterlich geöffneten Armen in seinem Lande willkommen hieß, während der Bayer bemüht war, die besten seiner Untertanen aus seinen Grenzen zu treiben. Beide hatten ihre guten Gründe zu solchem Verhalten, und von seinem Standpunkte aus beurteilt war jeder im Rechte. Denn sie taten es beide um der Religion, um der Einheit des Staates willen. Nur die Folgen waren einigermaßen verschieden. Denn im Kurtume Bayern wurde es danach so stille, daß man die nächsten Jahrhunderte hindurch draußen in der Welt kaum etwas vom Leben seiner biertrinkenden Untertanen merkte, während die preußischen Brüder dieselbe Welt mit dem Ruhm ihres Namens erfüllten. Und jener große bayerische Kurfürst hat, man höre, eine ganze Nacht in der kleinen Moosburg geschlafen und ist am nächsten Morgen unter den Bücklingen des Schloßherrn wieder von dannen geritten – gerade um die Zeit, als die Deutschen darüber 119 einig wurden, sie müßten nun dreißig Jahre lang einander die Köpfe einschlagen. Nach dem einen großen Tage sind dann sehr viele kleine Tage über beide gekommen – über das Heilige Römische Reich deutscher Nation und über das Schlößlein. Im Reiche ist es zwar mitunter wieder einmal aufwärts gegangen; aber das Schlößlein hat jederzeit mehr der bösen als der guten Tage gesehen. Und endlich ist einer zwischen den vier Türmen gesessen, der hat das noch von seiner Mutter, der letzten ihres Geschlechtes, ererbte Geld vollends zum Fenster hinausgeworfen.«

Die drei betraten soeben ein ödes Gemach im obersten Stockwerk, und der Archivar deutete mit einer gewissen Feierlichkeit auf einen Spieltisch aus der Empirezeit, der als einziges Überbleibsel versunkenen Wohlstandes, als einziges Geräte im ganzen Schlößlein eine kahle Wand zierte. Und der geschichtskundige Mann legte seinen Zeigefinger an die Nase und sagte: »Aus dem Fenster geworfen! Jawohl. Freilich ist das nicht ganz wörtlich zu verstehen; denn an diesem schönen Tische hat der windige Baron Hans von G . . . . vor fünfundvierzig Jahren den Rest seines Vermögens verspielt.«

Der Major und Liselore betasteten die eingelegte, polierte Platte, und es ergab sich dabei, daß der Tisch nicht einmal mehr fest auf seinen Beinen stand, sondern bedenklich wackelte. Und jedes von ihnen sah nun den leichtsinnigen Baron Hans von G . . . . leibhaftig am wackeligen Spieltisch sitzen, jedes sah ihn anders, aber im Grunde war's doch ein und derselbe.

Man schwieg, hing seinen Gedanken nach und freute sich, wie das so menschlich ist, im Geheimen der eigenen, um ein Beträchtliches solideren Lebensanschauung.

Und endlich führte der Archivar die nunmehr genügend vorbereiteten Wandergenossen über den knarrenden Fußboden in das letzte Gemach, wo gegenüber dem Fenster, 120 im besten Lichte, ein riesiger, in Öl auf Leinwand gemalter Stammbaum derer von Moos die Wand bedeckte – das einzige Gemälde im ganzen Schlößlein.

Es war die übliche Aufmachung: Ein Gewappneter lag auf dem Erdboden, und aus seiner Brust wuchs als ein weitverzweigter Baum sein ganzes Geschlecht und überschattete mit vielen hundert Namen eine lachende Landschaft. Von der seligen Hausfrau des alten Herrn war keine Spur zu sehen, und so schien es, als hätte sich hier ausnahmsweise das alttestamentliche Wunder wiederholt, von dem uns im zweiten Kapitel der Genesis berichtet wird: Und er nahm seiner Rippen eine und schloß die Stätte zu mit Fleisch. – Draußen vor dem Schlößlein, der Brücke gegenüber, stand eine Linde im vollen Sommerkleide. Sehr oft hatte sie frische Blätter getrieben im lauen Frühlingswinde, ebensooft hatte sie die altgewordenen Blätter abgeworfen im Sturme des Herbstes. Der Stammbaum da herinnen hatte seine alten Blätter auch abgeworfen zu ihrer Zeit, und manch ein junges hatte ihm der Sturmwind vorzeitig von den Zweigen gerauft. Aber neue Blätter wuchsen ihm stets nur ganz oben an den äußersten Zweigen – in Wirklichkeit war er kahl bis dort hinauf, jämmerlich kahl, und sein Bild an der Wand war also von Grund aus erlogen.

Der Archivar suchte den Namen des letzten Fräuleins von Moos, deren Sohn sein Geld am Spieltisch da draußen verjuxt hatte. Endlich fand er sie ganz oben links, hob seinen Stock und wies den beiden andern ihren Namen. Geboren 1798. Jetzt wußten sie's. Und der Archivar fuhr mit der Stockspitze herunter über ihren Vater, Großvater und alle Urväter bis zum liegenden Ritter und sprach gelassen das weltgeschichtliche Urteil: ›Sic transit gloria mundi.

Die Bretter knarrten, die Türen pfiffen, die Schlösser kreischten, und die drei traten auf die Brücke.

121 Sie wandten sich und sahen hinauf zu den trüben, ungastlichen Fenstern und zu dem halbverwitterten Steinwappen der Herren von Moos über dem Tore.

»Mich wundert nur, daß alle Scheiben noch heil sind,« sagte der Major. »Wer bestreitet denn die bauliche Unterhaltung?«

Der Archivar antwortete: »Die ganze Herrlichkeit – so weit der Graben reicht, mehr nicht – gehört einem Sohn jenes, fast hätte ich gesagt Spielmanns. Er wohnt irgendwo weit von hier, schlägt sich als Agent einer Versicherungsgesellschaft durchs Leben – hoffentlich nur mit seinem Titel erblich belastet. Titel und Schlößlein sind das Einzige, was ihm geblieben ist. Alle paar Jahre kommt er einmal, geht durch die Räume, untersucht mit dem Manne, der die Schlüssel verwahrt, die Stellen wo's hereinregnet, ordnet die allernötigsten Ausbesserungen an und verschwindet wieder auf ein paar Jahre. Um sechs-, achttausend Mark verkauft er Ihnen die ganze Baracke, Herr Major.«

»Mir?« rief dieser verwundert.

»Ich habe doch nur Spaß gemacht«, meinte der alte Herr.

Und während der Major einen Rundgang um das Schlößlein antrat, ging der Archivar mit Liselore ins Dorf und klopfte an das Fenster eines niederen Hauses.

Ein Bäuerlein kam zum Vorschein, und der Archivar gab ihm den Schlüsselbund.

»Sind S' fertig, Herr Arvichar?«

»Jawohl, Nachbar, ich habe mich wieder einmal überzeugt, daß der alte Kasten noch an seinem Platze steht.«

»Den trägt auch so leicht keiner davon.«

»War der Herr Baron heuer schon da?«

»Na, noch nit.«

»Und wie geht's denn bei Euch?«

»Dank der Nachfrag, könnt leicht besser gehn, Herr Arvichar.«

»Na, und wo fehlt's denn?«

122 »A Sau is uns verreckt, und die Rettel is auch krank.«

»Die Rettel? Ach, das ist doch die blonde, freundliche? – Wie alt wird s' denn sein, zehn Jahr?«

»Das stimmt.«

»Na, und wo fehlt's ihr denn?«

»Im Hals. Is ihr alles zu eng.«

»Oh, da ist aber nicht zu spassen. Habt Ihr denn einen Doktor?«

»Sell schon. Weil er heut grad vorbeig'fahren is, hab' ich ihn 'reing'holt.«

»Und was hat er denn gesagt?«

»Sterben muß s', die Rettel, hat er gesagt.«

»Hat sie wohl gar Diphtherie?«

»So hat er g'sagt.«

»Ja, da gibt's aber doch ein ausgezeichnetes Mittel –?«

»Das hat er auch g'sagt, Scherum.«

»Serum. Und das habt Ihr doch gleich geholt in der Apotheke?«

»Ich nit. Is ja viel z'teuer. Zwanzig Markl. So was is nix für unsereinen.«

»Mensch – wenn aber das Leben dran hängt!«

»Ob's 'leicht was hilft?«

»Ja, es hilft in den allermeisten Fällen.«

»Zwanzig Markl, das is nix für unsereinen.«

»Und wenn die Rettel stirbt?«

»Kann sie's leicht besser kriegen, als sie's bei uns hat. Und wir haben noch sechs.«

Liselore war näher getreten und sah den Mann, der sein Schnupftabaksgläschen zog und scheinbar gleichmütig eine Prise in die Höhlung seines Daumengelenkes klopfte, mit entsetzten Augen an.

»Nachbar,« begann der Archivar aufs neue, »Ihr könnt's doch machen. Ein Bauer mit sechs Kühen –!«

123 »Achte«, berichtigte der Mann.

»Also mit acht Kühen, dreißig, vierzig Tagwerk Feldbau und Wiesen und wollt zwanzig Mark anschauen, wenn sich's um Leben oder Sterben von Eurem Kind handelt?«

»Weiß man's denn gewiß, ob's was hilft, das Scherum?«

»Freilich hilft's!« schrie der Archivar. »Aber jetzt will ich Euch was anderes sagen«, fuhr er etwas ruhiger fort. »Rechnet einmal: Angenommen, die Rettel muß sterben. Könnt Ihr sie dann in Euerm Obstgarten einscharren?«

»Das wohl nit.«

»Also – da muß der Leichenschauer kommen und die Seelnonn', dann müßt Ihr ein Grab kaufen, müßt die Leich ausrichten, den Herrn Pfarrer, den Mesner bezahlen, die Leidtragenden bewirten – reichen da zwanzig Mark aus?«

»Das wohl nit.«

»Und angenommen, das Serum hilft und die Rettel wird wieder wie vorher – die wächst Euch doch von selber in die Arbeit hinein und erspart Euch mit der Zeit eine Kuhmagd?«

»Freilich, die Rettel is fleißig!«

»Also! Ihr geht auf der Stelle mit uns in die Stadt und kauft das Serum. Und morgen – hat der Herr Doktor gesagt, daß er wieder kommen wird?«

»Morgen will er sie impfen. Aber es kost' z'viel. Zwanzig Markl für eine Medizin, das ist ja ein Heidengeld. Ich tu's emal nit!«

»Mann, wenn aber nun ich Euch –!« rief Liselore erregt.

Der Archivar schnitt ihr das Wort ab: »Nachbar, das Fräulein will Euch die Hälfte dran zahlen.«

Das Bäuerlein schnupfte abermals umständlich. »Zehn Markl is immer noch z'viel.«

»Ich zahle auch fünf Mark dazu«, sagte der Archivar.

Der Bauer besann sich nun ernstlich. »Wegen meiner. Wenn's aber nix hilft?«

124 »Dann haben wir unsere Pflicht und Schuldigkeit getan und müssen uns nicht der Sünden fürchten!« rief der Archivar zornig. »Jetzt aber vorwärts, Ihr geht mit uns!«

»Gleich bin ich fertig, Herr Arvichar,« versprach das Bäuerlein und tappte in die Haustüre.

»Schauderhaft!« rief Liselore und wandte sich ab.

»Sehen Sie, gnädiges Fräulein, das ist unser Volk.«

»Ein vereinzelter Fall!«

»Durchaus kein ganz vereinzelter Fall. Ich habe jüngst erst von einem ganz ähnlichen gehört. Alle Leute hierzulande sind freilich nicht so. Im allgemeinen aber – ei nun, je näher ein Volk dem Urzustande ist, desto mehr schätzt es die Menschen nach dem Wert ihrer Arbeitsleistung, und desto weniger gelten ihm Kinder und alte Leute. Denn Kinder kommen in genügender Anzahl zur Welt, und für die nötige Auslese sorgt die Natur. In einem oberpfälzischen Bezirksamte sterben jahraus jahrein fünfunddreißig Säuglinge vom Hundert.«

»Und die Mütter?« rief Liselore.

»Die Mütter trösten sich, wenn das Werk ihrer Dummheit oder Faulheit vollbracht ist: ›Unser Herrgott hat's zu sich genommen und ein Engerl draus gemacht. Hat's jetzt leicht besser als bei uns‹. – Aber da kommt ja unser Freund. Es wird Zeit, daß wir gehen.«

*

Der Abend begann die Erde einzuhüllen, und aus den Hütten und Häusern des Dorfes stieg der Rauch der Herdfeuer kerzengerade empor. Kleine Fenster glühten dunkelrot auf. Das Vieh war von der Weide heimgekehrt. Am langen Troge des Dorfbrunnens stand es in dichter Reihe und trank. Eines nach dem andern machten die braunen Rinder kehrt, trotteten davon und verschwanden in ihren Gehöften, eines nach dem andern schoben sie sich aus dem Haufen nach vorn in die Reihe der Trinkenden.

125 In der Ferne sang ein Weib. Es mochten gellende Töne sein – aus der Ferne klang es gedämpft und schwermütig.

Hinter den schwarzen Hügeln kam langsam der Mond hervor, voll und rot und mächtig groß.

Ein Rind brüllte laut auf und galoppierte in tollen Sprüngen, hocherhobenen Schweifes, mit triefendem Maule vom Brunnen durch die patschenden Pfützen die Straße entlang.

Die Sängerin war nahe ans Dorf gekommen. Rauh und ungefüg tönte der Singsang:

Grüß di God, mei lieber Abendstern,
Seh' di heut und seh' di allzeit gern.
Scheint der Mond über Eck
und mei'm Schatz übers Bett.
Schein du hin,
schein du her,
immerfort
immermehr.
Laß ihm kei' Rast,
laß ihm kei' Ruh,
daß er alleweil nur
an mi denken tu!

Düster lastete das hohe Dach auf dem Schlößlein, die grauen Wände schimmerten, und die Fensterscheiben flimmerten und glitzerten im Lichte des Mondes.


Nacht war's, tiefe Nacht. Am hohen Himmel stand der kleine, runde, goldene Mond. Wasservögel schrieen in der Nähe und in der Ferne. Mit funkelnden Augen rollte ein Güterzug heran, polterte in schier endloser Länge vorüber und verschwand keuchend in der dämmerigen Nacht.

Das Dorf schlief, und wie verzaubert stand das Schlößlein zwischen seinen vier Türmen.

126 Da hob sich der Rasen rings um den Graben, und lautlos stiegen sechs Jahrhunderte aus dem Boden empor.

Riesengestalten in langen Gewändern, uralte Gesichter unter welken Kränzen. Und sie griffen sich an den zerfließenden Händen und begannen einen Tanz um die Mauern, langsam und lautlos.

Ihre Gewänder wirbelten ineinander, ihre langhaarigen Häupter schlangen sich eins ins andere und zerflossen in einen grauen Reif. Höher und höher wuchsen sie und umwoben das Schlößlein mit Schleiern. Die Mauern ergrauten, das Licht auf den Scheiben erlosch.

Trübselig stand der Spieltisch in der obersten, östlichen Stube und auch er hatte seinen ärmlichen Glanz und Schimmer verloren. Von dem großen Stammbaum aber im Zimmer nebenan löste sich ein Name, glitt herab auf den Boden, reckte sich und stand als ein gewappneter Mann. Er breitete die Arme aus und fing mit den Kettenhandschuhen einen zweiten Namen auf, der wie eine reife Frucht vom Baume fiel und sich in seinen Armen zu einem zierlichen Fräulein entfaltete. Und beide begannen lautlos auf eine uralte Weise zu tanzen.

Name auf Name fiel herunter, eine Gestalt nach der andern erhob sich vom Boden.

Lautlos sprangen alle Türen auf. Armleuchter mit brennenden Kerzen schoben sich aus den Wänden, Teppiche legten sich über die grauen, rissigen Dielen; altertümliche Geräte wuchsen aus den Ecken heraus und rückten sich an ihren Ort. Von einer Stube in die andere quollen die Gestalten: Junge und Alte, Gebückte und Gerade, in den Gewändern der Kreuzfahrer und in den Reifröcken des Rokoko, in spanischen Wämsern, in Spitzschuhen mit Schellen und in Trikotkleidern der Hussitenzeit, mit wallenden Perücken und mit Sammetkappen. Kinder trippelten zwischen den Großen, 127 Kinder mit langen, steifen Röckchen bis zum Boden, putzig anzusehen mit ihren ernsthaften Gesichtern. Wie sie droben geschrieben standen, so fielen sie herab, lebten auf in der gespenstigen Nacht und erfüllten das Haus.

Diener glitten von Stube zu Stube, und an den Wänden saßen die Frauen, als säßen sie im Ballsaale, und blickten prüfend in das Gewimmel.

Draußen stand der Nebel der Jahrhunderte wie eine Mauer, drinnen tanzten die Schatten versunkener Zeiten, und dann und wann tönte der Schrei eines Wasservogels aus weiter Ferne herein.

Aber allgemach sanken die Nebel draußen und schlüpften zurück in die Erde, der Mond leuchtete wieder goldig vom klaren Himmel und malte Fensterkreuze auf die Fußböden.

Da hing der Stammbaum wie vorher im leeren Gemach, da trauerte der Spieltisch wie vorher. Ein Mäuslein nagte in der Ecke, und sein Nagen klang so laut, so scharf, daß es kreischte.


›Es‹ hatte sich diesmal unter ein hohes Walmdach versteckt und lockte hinter den erblindeten Fensterscheiben eines verödeten Schlößleins.

*

»Was meinst du?« fragte der Major, als er am andern Tage mit seiner Tochter auf dem Maria-Hilfberge vor der alten Linde stand und das Muttergottesbild in der Höhlung des Baumes betrachtete. »Was meinst du?« wiederholte er, und sein Blick schweifte zerstreut von dem Rosenkranz der Höhlung über das bleiche Gesicht Liselores.

»Du weißt ja, Vater, daß ich seit geraumer Zeit eigentlich gar nichts mehr meine,« antwortete sie mit einem müden Lächeln.

»Du sollst aber deine bestimmte Meinung äußern; denn der Entschluß entscheidet gleicherweise auch über deine Zukunft.«

128 »Ich habe nichts dagegen, wenn wir unsern Wohnsitz aufgeben. Dann werde ich nicht bei jedem Schritt an das erinnert, was nicht mehr zu ändern ist. Insofern bindet mich nichts an die Heimat!«

»Und wenn wir also mit einem raschen Entschluß hierher zögen?« fragte er sichtlich erfreut.

»Im Grunde mir vollkommen einerlei, wo wir wohnen, lieber Vater. Aber in der alten, engen Stadt da drunten fände ich's, mit einem Wort gesagt, – schrecklich.«

»In der Stadt – ja, da hättest du recht. Aber wer sagt dir denn, daß ich in der Stadt wohnen möchte? O nein, da wüßte ich etwas viel Besseres.«

»Und das wäre?«

»In dem Schlößchen da draußen!« rief er begeistert.

»Im Ernste, Vater?« Sie sah ihn entsetzt an. »Wo die Füchse einander Gutnacht sagen?«

»Es ist von dort nur ein paar hundert Schritte zur Haltestelle. Die Zugverbindungen sind vortrefflich. In einigen Minuten können wir die Stadt erreichen. Und – ich habe mich erkundigt – das Schlößchen ist tatsächlich um einen Pappenstiel feil.«

Sie vermochte sich noch nicht recht zu fassen und schwieg.

»Nun, was meinst du, Liselore?«

»Schrecklich!« stieß sie hervor. »Hast du die halbverfaulten Fußböden, die vermorschten Fensterstöcke, die zerfetzten Tapeten gesehn?«

»Ach, das sind doch alles Kleinigkeiten! Da ist mit einigen tausend Mark wunderviel auszurichten.«

»Und im untern Stockwerk steckt die Feuchtigkeit; es riecht wie im Keller.«

»Wir wohnen aber doch nicht im untern Stockwerk, wir haben nicht den dritten Teil all der vielen Räume nötig, und oben ist nicht das Geringste von Feuchtigkeit zu bemerken,« 129 widersprach er eifrig. »Doch, wie gesagt, ich richte mich ganz nach dir; du sollst entscheiden.«

»Lieber Vater, wo du doch schon entschlossen bist?« Sie lächelte. »Bitte, laß mir nur ein wenig Zeit. Es ist mir zu rasch gekommen. Nur bis heut abend!«

Sie traten aus dem Schatten der Bäume, gingen am freundlichen Klösterlein vorüber, stiegen die mächtige, vielstufige Steintreppe zur Kirche hinan und sprachen nichts mehr, beide mit ihren Gedanken beschäftigt.


Liselore kannte die geheimen Gedanken ihres Vaters gar wohl, wenn er sie auch ängstlich vor ihr verbarg. Was konnte dem abgehalfterten, kraftvollen Manne lieber sein, als die Garnison zu verlassen, wo man ihn vor Jahresfrist zur Untätigkeit verurteilt hatte? Liselore erinnerte sich mit Grauen der ersten Zeit, wo der Vater in tiefer Gemütsverstimmung dahinlebte, nur in der Dämmerung das Haus zu verlassen wagte und sich in krankhafter Scheu hütete, einem Bekannten in den Weg zu kommen. Nach einem halben Jahre war's ja besser geworden, und sie gedachte noch des Morgens, an dem er sich, so frisch wie schon lange nicht mehr, an den Kaffeetisch setzte und mit einem Seufzer der Erleichterung sagte: ›Lore, ich hab's überwunden.‹

Freilich, ganz überwunden war's heute noch nicht.

Also, der Vater wäre glücklich, wenn er hier, am Orte des Archivs, leben und arbeiten und im Frieden der Vergangenheit die immer wieder emporquellende Bitternis der Gegenwart verwinden könnte!

Und sie? Ei, was fesselte denn sie an jenen Ort, der seit sechs Jahren ihre Heimat war? Heimat –! Vor sechs Jahren eingetauscht für eine andere Heimat, die wieder fünf Jahre vorher eine noch frühere Heimat ersetzt hatte. Heimat –! Was wußte sie viel von Heimatgefühl? Sie, 130 die von früher Jugend an fünfmal in eine andere Heimat gezogen war, das Kind eines modernen Nomaden!

Freilich, die letzte Heimat hätte eine wirkliche Heimat werden können. Und vor ihrer Seele stand in wehem Glanze, halb versteckt hinter den Ulmen eines Parkes, ein schlichtes Herrenhaus. Jawohl, die letzte Heimat hatte Lieder gesungen, die nie mehr verklingen würden. Oh, wenn sie doch verklängen! Sie mußten ja verklingen. Und warum atmete sie in diesem Sommer so viel freier, je weiter sie sich von jener Stadt entfernten? Warum war sie da droben zwischen Leuchtenberg und Fahrenberg oft halbe Tage lang glücklich gewesen? Und warum wurde es ihr jetzt von Tag zu Tag wieder schwerer ums Herz, je näher die Stunde der Heimreise heranrückte?

Verlaß den Ort, wo du vom Glücke geträumt hast und im Leid vergehen wolltest. Verlaß ihn! Denn seine Häuser haben lebendige Augen, und seine Pflastersteine haben Zungen. Und du bist es, die sie anfunkeln, du bist es, mit dem sie sprechen in Rede und Antwort.

Und was band sie an jenen Ort? Einige gute Freundinnen – gewiß. Aber zwei von diesen waren verlobt, eine dritte schickte sich an, ihr Brot in der Fremde zu suchen. In Jahresfrist würde sie doch vereinsamt sitzen.

Also warum nicht fort? Fort, je eher desto besser! Nein, sie würde sich in der Fremde wahrhaftig nicht in Heimweh nach dieser Heimat verzehren. Ihr Leid saß tiefer.

Aber hierher – in diese Stammes- und Wesensfremde? Und in diese Moosburg, in dieses verödete Nest?

Ei, warum denn nicht? Sie fühlte sich so krank, wenn sie an die Heimkehr dachte. Es war eine Stelle in ihrer Gedankenwelt, daran durfte nichts rühren. Wenn es aber dennoch geschah, dann wachte wieder auf, was sie gelitten hatte. Und in der alten Heimat würde alles dran rühren und alles, alles wach bleiben.

Also warum nicht?

131 Ein verödetes Nest? Gewiß, so sehen sie aus, die verödeten Nester. Aber was war denn ihre Heimat anders als auch ein verödetes Nest?

*

Nach dem Abendessen reichte ihr der Vater den Brief eines Freundes hinüber: »Da siehst du, Liselore, was auf anonyme Zuschriften zu geben ist! Du erinnerst dich wohl?«

»Und ob ich mich erinnere!« Sie las: ›Ich habe mich an verschiedenen Stellen unauffällig erkundigt und kann Dir die beruhigende Versicherung geben, daß an der Verdächtigung kein wahres Wort ist. Das Haus erfreut sich nach wie vor des besten Rufes.‹

»Nun?«

»Und es ist doch gut, daß du dir Gewißheit verschafft hast,« sagte sie und gab den Brief zurück. »Ich gestehe, die Sache hat mich manches Mal beunruhigt.« –

Beim Gutnachtsagen hielt er ihre Hand fest und sah ihr fragend in die Augen: »Hast Du Dir meinen Vorschlag überlegt?«

»Wo du hingehst, lieber Vater, da gehe ich auch hin.«

»Recht so, mein Kind, und du wirst sehen, es ist der gewiesene Weg.«


An diesem Abend vermochte sie lange nicht einzuschlafen. Sie fühlte es doch, daß nun ein neuer Abschnitt ihres Lebens begann. Und es war alles so plötzlich über sie gekommen, daß sie mit wachen Sinnen zu träumen vermeinte.

Sie erhob sich und nahm einen Schluck Wasser. Doch auch dieses Schlafmittel wollte heute gar nicht verfangen.

So lag sie mit geschlossenen Augen und spann sich in ihre Gedanken ein – in die Gedanken an ihre Kindheit.

Damals –! Ihr Kleid war noch sehr kurz, und ein Hängezöpfchen baumelte ihr auf den schmalen Rücken herab. 132 Damals –! Sie befand sich in der Eßstube an der Hand ihres Vaters und sah mit verweinten Augen eine seltsame Veränderung. In der Mitte, wo sonst der Tisch gestanden war, ruhte auf schwarzverhülltem Gestelle ein Sarg, und in dem Sarge lag es schmal und still und hatte im Arme etwas Kleinwinziges, Gelbes. Am Kopfende brannten Kerzen, und ihr Licht flackerte so traurig im Sonnenschein. Viele, viele Blumen dufteten um eine tote Mutter und ihr Kind.

Einmal blickte Liselore verstohlen zum Vater empor. Da sah sie glitzernde Tränen über seine Wangen auf das helle Tuch seiner Uniform herabtropfen. Und seitdem wußte sie, was ihr bis dahin immer verborgen gewesen: der Vater konnte auch weinen!

Oh, es war etwas Furchtbares geschehen, immer gleich furchtbar, so oft es sich auch ereignet.

Eine Mutter war plötzlich gestorben und hatte einen Mann und ein Kind von sieben Jahren zurückgelassen. Ein Kind, gerade so alt, daß es zeitlebens die Süßigkeit des Mutternamens auf den Lippen verspüren und immerdar die schmerzende Narbe im Herzen tragen würde.

Liselore weiß noch alles, sieht, hört noch alles. Wie man sie in die Nebenstube zog, wie die Schritte über den Vorplatz tappten, als trügen die Leute etwas Schweres. Da schrie sie laut auf und wollte hinaus. Aber die Frauen hielten sie mit sanfter Gewalt zurück.

Nach einiger Zeit führte man sie dann doch die öde Stiege hinab, und auf der Stiege lag eine weiße Rose. Da bückte sich das Kind und steckte die Rose an seinen Gürtel.

Alles andere sah die kleine Liselore nur grau in grau, gleichsam durch schwere Schleier. Und diese Schleier waren ihre Tränen.

Aber eines hörte sie hell und klar: Hinter dem offenen Grabe, zu dessen Häupten der große, schwarze Mann so feierlich betete, 133 standen dichtbelaubte Bäume nahe nebeneinander und waren anzusehen wie eine grüne Wand. Und in dieser grünen Wand war ein Vögelein verborgen: das sang und sang so wunderschön, daß es hoch hinaus tönte über das düstere Gepränge da unten an der gähnenden Grube. Und heute noch, wenn jenes Bild, dicht umflort, vor ihrer Seele emporstieg, heute noch hörte sie über allem das jubelnde Stimmlein des Vogels, den niemand an das Grab der Mutter bestellt hatte. –

Und warum hatte denn die Mutter sterben müssen? Wie leicht wäre doch alles zu vermeiden gewesen! Aber da hatte niemand bedacht, daß man in solchen Fällen mit Kreide drei Kreuze ans Fußende der Bettstatt malen müßte. Oft noch weinte das Kind bitterlich, wenn es sich vorstellte, wie leicht man all das Traurige zu wenden vermocht hätte.

Aber dann tröstete Franzi, die Magd, das Kind mit raunenden Worten: das Unglück habe so kommen müssen; denn dreimal sei es ihr angesagt worden. Da habe drei Wochen vor dem Tode der guten Frau des Abends zwischen Lichten alles Geschirr in der Küche so heftig aneinandergeschlagen, daß Franzi aus ihrer Kammer gestürzt sei. Und nichts habe sie gesehen – jeder Topf stand an seinem gehörigen Platz. Schon damals sei sie bedenklich geworden. Dann hätten zwei Wochen vor dem Tode der guten Frau eines Nachmittags die Kinder vor dem Hause Leichenzug gespielt. Und auf dieses hin habe sie sich schon recht schwere Gedanken gemacht. Und endlich sei sie drei Tage vor dem Tode der guten Frau mitten in der Nacht aufgewacht, und das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf; denn irgendjemand hatte ihr einen eiskalten Hauch ins Gesicht geblasen. Und damals sei ihr der letzte Zweifel entschwunden.

Wenn dann die kleine Liselore fragte, warum sie das alles nicht vorher dem Vater gesagt habe – vielleicht wäre die liebe Mutter und das Brüderlein noch zu retten gewesen, eben 134 mit Hilfe der drei Kreuze –, dann schüttelte die Magd geheimnisvoll den Kopf, daß die großen silbernen Ohrreifen wackelten: Von so 'was dürfe man doch beileibe nicht reden.

Ja, diese oberpfälzische Magd, die ein seltsames Schicksal weit nach Norden unter fremde Leute verschlagen hatte!

Das Kind Liselore konnte sich Franzi, die Magd, überhaupt nicht aus ihrem Leben hinwegdenken. Die war ja schon längst dagewesen, als ihre Äuglein zum ersten Male mit Bewußtsein um sich schauten, und die hatte hernach über ihrer ganzen Jugend gewaltet.

Allerdings nicht sie allein. Gewiß nicht allein! Erzogen wurde sie doch glücklicherweise von der gütigen, etwas wunderlichen Tante, Vaters viel älterer, verwitweter, nun auch verstorbener Schwester. Die lehrte der kleinen Liselore, wie man als Angehörige der höheren Stände gehen, sitzen, essen, sprechen müsse, alles in den besten Formen. Die leitete gemeinsam mit dem Vater den Unterricht, die bestimmte ihren Umgang, hörte ihr die französischen und englischen Vokabeln ab, riet mit ihr an den schweren Rechenexempeln herum, spendete gute Gedanken in ihre Aufsätze. Doch halt, das Letzte mit Maß. Da halfen denn doch noch ganz andere Kräfte mit! Daß aus der kleinen Liselore mit der Zeit eine wohlerzogene junge Dame wurde, das war unstreitig der Tante zu verdanken. Aber daß sie gerade diese und nicht eine ganz beliebige junge Dame wurde, dafür war, es klingt in der Tat verwunderlich, niemand verantwortlich als Franzi, die oberpfälzische Magd in der blitzblanken Küche.

Wie war's doch immer so schön gewesen zwischen Lichten in dieser Küche! Da saß Liselore auf ihrem Schemel, aus dem Herdtürchen glühte das Feuer, die Katze schnurrte, in der Ferne sangen die Abendglocken, Franzi ging hin und wider, setzte sich wohl auch auf die Bank neben den Herd und erzählte, erzählte, erzählte.

135 War die Seele des Kindes von Anfang an auf diese Märlein gestimmt oder hatte die Magd ihr Denken und Fühlen sachte in den Bannkreis ihrer Geschichten gezogen? Wer wußte das? Wer weiß denn überhaupt, was von guten und von bösen Kräften schafft und baut und ändert am Gerüst unseres Lebens?

Also, die Tante hatte tatsächlich nur geringe Beiträge zu ihren Aufsätzen gespendet. Da waren ganz andere Kräfte im Spiel gewesen: das rote Herdfeuer, die singenden Glocken, die schnurrende Katze und Franzi, die Magd von unbestimmbarem Alter. – Freilich leuchtete es dann gar oft am Rande der sauber geschriebenen Arbeit – rot, schreiend rot –: ›Viel zu phantastisch!‹ Doch wie hätte das anders sein können, wenn es solch wunderbare Geschichten gab und eine Magd, die einem alles erzählte, so lebendig, als hätte sie selber einstmals bei Zwergen und Riesen gedient?

Freilich, die Magd aus der fernen Oberpfalz hatte nicht immer nur Geschichten erzählt. Sie hatte auch einmal etwas ganz anderes versucht. Nicht aus Vorwitz, beileibe nicht. Nur aus Mitleid, aus unsäglichem Mitleide, weil dieses Kind seit dem Tode der Mutter gar so arm daran war, so bettelarm. Und eines Tages trat das Kind Liselore vor die Tante, hob die Händchen, sorgsam Finger an Finger legend, gen Himmel und sagte mit glückseligem Lächeln: ›Horch, was ich kann:

Gegrüßet seist du, Maria,
Du bist voll der Gnaden,
Der Herr ist mit dir,
Du bist gebenedeit unter den Weibern –‹

Weiter kam es nicht. Erschrocken hielt es inne. So zornig hatte es die gute Tante noch nie gesehen. Die alte Dame rauschte aus der Stube und ließ in der Aufregung die Türe offen. Und aus der Küche tönte alsbald erregte Rede und 136 Gegenrede. Liselore schlich auf den Gang und hörte eben noch, wie Franzi, die Magd, in den unverfälschten Lauten ihrer Heimat rief: ›So betten halt Sie mit dem Tröpferl, dem armen!‹ Und seitdem war allerdings kein Abend mehr gekommen, an dem die Tante nicht an ihr Bettchen getreten wäre und mit seltsam fremder Stimme befohlen hätte: ›Sammle dich, Kind, zum Gebet!‹ Und dann hatte das Kind mit ordentlich gefalteten Händen sprechen müssen: ›Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich zu dir in Himmel komm'! Amen.‹

Die Magd erwähnte den Vorgang niemals. Dazu war sie viel zu gehorsam. Sie sah das Kind nur manches Mal gar traurig an und sagte: ›Bist halt doch ein armes, armes Tröpferl, du.‹ Und das Traurigste war, daß die kleine Liselore gar nicht wußte, warum?

Später war ja auch alles in gute Ordnung gekommen. Da erhielt Liselore den staatlichen Religionsunterricht. Und die alte Magd ließ es sich niemals entgehen, dem Kinde seinen Katechismus abzuhören, und freute sich im stillen, daß da doch auch ganz schöne Sachen zu lernen waren, – wenn auch natürlich nicht immer die richtigen. –

An das alles dachte Liselore in jener Nacht. Und nun bewegten sich ihre Lippen und sprachen halblaut: ›Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich zu dir in Himmel komm'!‹ Dann schlief sie ein und schlief traumlos.

Seltsam! Dieses kleine Gebet ihrer Kindheit hatte sie doch kaum jemals zu sprechen vergessen. Ohne besondere Andacht, etwa so, wie man sich Stirne, Augen, Wangen und Brust vor der Nachtruhe wäscht. –

Als sie am andern Morgen erwachte, mußte sie sich zunächst besinnen, wo sie denn eigentlich sei.

Dann aber schwirrte es plötzlich auf sie herein. Sie fühlte einen leiblichen Schmerz: Moos! 137

 


 


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