August Sperl
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August Sperl

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2. Im Lande der Väter

Ein Vater und seine Tochter befanden sich auf Reisen.

Im Zwielichte des scheidenden Sommertages waren sie drunten im Naabtale angekommen und vom Schnellzug auf die Nebenbahn umgestiegen. Sie hatten nichts gesehen als einen kleinstädtischen Bahnhof und dunkle Menschenmassen, die sich dem Ausgange zuwälzten, und hatten sich hinübergefragt zu dem entlegenen Geleis, auf dem der andere stand, der nur ein entfernter, kleiner Verwandter des schnaubenden, brausenden Großen da drüben zu sein schien und kurzatmig immer wieder versicherte: ich kann ja warten, was liegt mir daran? Endlich waren sie im vollbesetzten Wagen dritter Klasse weitergefahren; denn Vaters Grundsatz war, im fremden Land sich unters Volk zu mischen und seine Eigenart zu beobachten. Nicht lange, dann hatte zur Linken aus der tiefen Dämmerung eine winzige Bergstadt mit einem vielfensterigen Schlosse herübergeschimmert und war nach einigen Minuten in die Schatten des Abends versunken. Und wieder nicht lange, dann waren sie an endlosen, mit Unmassen gewaltiger Felsblöcke überschütteten Halden vorübergekrochen. Jetzt ging es bergan.

Es war Nacht geworden, finstere Nacht. Die Räder rollten und hämmerten, die Leute schwatzten und lachten, matt glühten die Lampen über dem Dunst und Qualm, der aus Menschenleibern, Pfeifen und Zigarren emporstieg.

Liselore schloß die Augen, drückte sich in die Ecke und spann sich in ihre Gedanken ein.

Da fuhren sie nun durch das fremde Land der Oberpfalz, und aus dem Rauschen und Brausen ringsumher stieg leise das Wundersame, nie Gesehene und doch so oft Geschaute, und aus den Tagen ihrer Kindheit kamen lautlos 25 die Geschichten einer alten Magd heran und redeten in der geheimnisvollen Sprache des Märchens.

Sie schaute das Land und die Leute. Das unsichtbare Land, durch dessen Nacht sich der Zug pustend und schnaubend emporarbeitete, die Leute, die um sie her summten und schrien und qualmten. Sie schaute – mochte das Land nun sein, wie sie sich's träumte, und die Menschen, wie sie sich's dichtete – – oder anders, ganz anders.

Und also schaute sie das Land, und also die Menschen:

Schwermut liegt wie ein Schleier über den weitgedehnten Nadelwäldern, über dem endlosen Gewoge von Hügel und Tal und über einer rauhen, alles beherrschenden Armut. Selbst an hellen Tagen spiegelt sich ein Himmel von stumpfer Bläue, ein Himmel, nicht so hoch, so frei wie anderswo, in den stillen Weihern und den braun dahinrinnenden, dem Walde und dem Hochmoor entsprungenen Gewässern.

Wohl leuchtet die Sonne des Tages und blinkt der Mond des Nachts – aber sie blinken und leuchten aus andern Ursachen als sonst in der Welt. Sie sind ein Er und eine Sie und ein mit sich zerfallenes Paar. Mag auch sie die heißesten Strahlen einer unglücklichen Liebe an den kalten Gesellen verschwenden, es will ihr nimmer gelingen, ihn zu erwärmen. Ja, er richtet all sein Sinnen darauf, wie er die Geliebte von einstmals vernichte. Kommt's dann soweit, daß sein böser Schatten an die Sonne herangreift, und diese trübe wird wie eine erlöschende Ampel, dann sieht auch der Mensch die Gefahr, und es ist ihm nicht zweifelhaft, auf welche Seite er in diesem Kampfe gehört. Der umsichtige, aufs gemeine Wohl bedachte und vornehmlich für sein Hab und Gut besorgte Mann treibt das braune Vieh in den Stall, deckt den Brunnen zu, scheucht die Kinder ins Haus, schließt die Fensterläden – wirft sich betend vor seinem Ofen nieder und trommelt mit dem Messer auf eine alte Eisenpfanne, damit die 26 Sonne ihr Äußerstes tue und Siegerin bleibe. Und wie für seinen Urahn vor tausend Jahren, so gibt es für seinen simpeln Verstand auch außerdem nichts Unerklärliches droben am Himmel. Denn er weiß es doch so gut, daß all die zahllosen Sternlein nichts weiter sind als Löcher im ehernen Gewölbe, durchgeschlagen von ruchlosen Steinwürfen vorzeitlicher Riesen. Ganz einfach! Mögen sie draußen in der Welt sagen und lehren, was sie wollen. Und also lebt er zufrieden unter dem ungeheuern Himmelssiebe, durch das auf sein harmloses Haupt letzten Endes auch nicht viel weniger Erkenntnis herabträufelt, als in den langen Tubus des gelehrtesten Sternguckers.

Die Geister einer untergegangenen Gedankenwelt treiben als Spukgestalten ihr Wesen im Schatten der Wälder, im wehenden Winde, im fließenden Wasser, in den Höhlen der Berge, im Dämmerlichte der Kapellen und im heimlichsten Bewußtsein der Seele. Und das Leben ist von seinem Aufgang bis zu seinem Niedergang besteckt mit den Warnungstafeln einer unerbittlichen Sitte und eingeengt in die Dornhecken des Aberglaubens. Der Lichtgott einer entthronten Religion gleitet als Gespenst durch die Wälder, braust als Unhold durch die Lüfte, verbirgt sich in der Kutte eines fremdländischen Heiligen. Und es ist, als läge unter einer dünnen Schicht neureligiöser Vorstellungen meilenweit das riesenhaft Heidnische begraben, immer bereit, das Erdreich aufzubrechen und sich wieder in sein altes Erbe zu setzen.

Die Räder rollten und hämmerten, Leute stiegen aus und andere kamen und besetzten verlassene Plätze, unverändert klang es wie Rauschen und Brausen, und über dem Schwatzen und Lachen und Schreien lastete der Qualm, glühten als ferne Punkte die Lampen.

Trümmer allüberall in dem Leben, das wir leben und das uns umgibt. Weißgeäderter Epheu umklammert auf 27 einsamen Höhen zerschlagenes Gestein, auf älteren Grundmauern stehen alte Gebäude, immer wieder muß Leben zerstört werden, damit sich Leben emporringe aus den Resten dessen, was einstmals gewesen. Über den abgeriebenen Kieseln einer vergessenen Sprache murmeln die Wellen der neuen. Auf zerfallene Skelette werden Leichen gebettet. Hoch über dem Leben des Tages und dem, was unter ihm ruht, wandelt die Sonne mit ihrem befruchtenden, kreist der Mond mit seinem tot blinkenden Lichte. Und auf kleinen, der Erdrinde abgewonnenen Ausschnitten müht sich der Mensch von Tag zu Tag, von Geschlecht zu Geschlecht in triebhafter Arbeit, in triebhafter Lust.

Mit brennenden Augen sah Liselore durch den Qualm und beobachtete die kommenden und gehenden Leute. Und sie mußte lächeln: Nein, von denen hier kniete wohl keiner mehr vor seinem Ofen und trommelte auch keiner mit dem Messer auf die Pfanne. Von denen hier glaubte keiner mehr an das durchlöcherte Himmelssieb. Die waren durch Schule und Zeitung längst schon herangewachsen an die Erkenntnis der Sterngucker und wähnten bis ins letzte zu wissen – was auch diese nicht wußten.

Liselore lächelte. Sie hatte Märchen geträumt.

Aber wer weiß? Märchen? Wer weiß!

Die Räder rollten und hämmerten, die Leute schwatzten, die Bremsen kreischten. Alle die dunkeln Gestalten erhoben sich. Trübe Lichter schimmerten zur Rechten durch die Finsternis. Ein Name wurde von Wagen zu Wagen gerufen, ein Name, den niemand verstand und jeder schon wußte. Man war am Ziel.

Sie standen auf einem winzigen Bahnhof, und der Vater meinte tiefaufatmend: »Liselore, diese Luft, diese Luft!«

»Jeder Atemzug einen Kronentaler wert bei uns da heroben«, sagte ein Mann mit Jägerhut und Jagdgewehr neben ihnen, lachte und verschwand in der Dunkelheit.

Sie waren am Ziele.

*

28 Hoch über das wellige Land der nördlichen Oberpfalz ragt ein Berg empor. Verschwiegene Wege führen durch immergrüne Wälder von allen Seiten zu der Kirche hinan, die auf seiner Kuppe thront.

Wenn sich die Türen dieser Kirche öffnen, dann trifft ein Gleißen und Funkeln die Augen; denn da drinnen strotzt alles von Gold.

Es ist nicht die Schwerfälligkeit und die Wucht einer romanischen Kirche mit niederer Decke und kurzen, dicken Säulen und etwa einem mächtigen Kruzifixus, der im Chor zwischen Erde und Himmel hängt, leidbeladen, gottergeben.

Es ist nicht die emporstrebende Schönheit der gotischen Kirche mit schlanken Säulen, hochgeführten Spitzbogen und wappengeschmückten Seitenaltären.

Es ist die farbenleuchtende, üppige Freudigkeit des Rokoko, das die weiten, palastähnlichen Kirchenhallen liebte, das an Stelle romanischer Kraft und gotischer Wahrhaftigkeit verlogenes Blendwerk pflanzte und mit all seinen ekstatisch verrenkten Heiligenfiguren, verschwenderischen Altarbauten, theatralisch vor Auge gestellten Riesengemälden und aufgeblasenen Engeln nichts anderes bedeutet als das zu goldener Pracht und weißleuchtendem Stuck erstarrte Siegesgeschrei der triumphierenden Kirche über die zu Boden gestampfte Irrlehre.

Mag sein, daß vorzeiten unsere Vorfahren auch die romanische Kirche fremdartig, feindselig angemutet hat. Es ist schon lange her, wir können's nimmer fühlen, und auch der romanische Bau ist fest eingefügt in deutsche Vorstellung.

Aber die gotische Kirche vollends will uns so heimisch dünken, so natürlich, so ganz und gar aus unserem Erdboden gewachsen – anzusehen wie der lange, blätterlose Lindengang im Herbste, dessen Äste auch spitzbogig gegeneinander gestellt sind wie das Gewölbe über dem Säulengang einer Kirche. –

29 Die Türe ist angelehnt. Ein Lederpolster ist zwischen die Flügel geklemmt.

Von früh bis abend steht diese Türe offen. Mit einem Schritt kommst du aus der Welt in das Haus hinein, das Menschenhände ihrem Gott erbaut haben. Jede Sorge darf am Altar niedergelegt, jeder Dank in weltferner Einsamkeit von stammelnden Lippen emporgeflüstert werden in die sichtbare Pracht der farbenglühenden Decke – durch diese hinauf in ein unsichtbares, himmelhoch entrücktes Heiligtum.

Denn es ist eine katholische Kirche, die alle Tage offensteht, nicht nur an Sonntagen, nein, jedem zugänglich zu jeder Stunde.

Wenn alle die Seufzer, die diese Kirche gehört hat, wenn alle die Tränen, die zwischen diesen Mauern geflossen sind, wenn alle die Dankgebete, die auf diesen Schemeln gemurmelt wurden – wenn das alles sich kristallisiert hätte an der gewaltigen Decke: tief, tief herab hingen die in Jahrhunderten gewachsenen Gebilde, gleich den Tropfsteinen in unterirdischen, von geheimnisvollen Wassern klingenden Gewölben.

Herrgott im Himmel droben, Du! Warum hast Du gerade das Volk, das Dich aus allertiefster Seele sucht und nicht ablassen wird, Dich zu suchen, – warum hast Du dieses deutsche Volk in sich selbst gespalten bis in seine Wurzeln? Warum denn müssen seine Besten, wenn sie sich finden wollen, sehnsuchtsvoll über einen Abgrund hinüber ihre Hände einander entgegenstrecken? Warum denn muß unsere Kraft immer wieder vergiftet werden im Kampfe um Deine Erkenntnis und Anbetung? Warum schwält heute noch die Glut dieser Zwietracht, frißt im Geheimen und schwächt uns im Kampf gegen eine feindliche Umwelt und Mitwelt? Warum das?

Aus der Tiefe unserer Geschichte sind die Rätsel gewachsen, an denen wir raten, wie auch die raten werden, die nach 30 uns kommen. Aber aus der tiefsten Vergangenheit der Urkirche funkelt nicht minder, gleich einem Grubenflämmlein, die Antwort: Dein Schicksal ist das Schicksal jenes Mannes, der dreimal zum Herrn rief, daß er den Pfahl aus seinem Fleische nehme, – und zur Antwort erhielt: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig.

Wohlan, so wollen wir in Gottes Kraft durch die Zeiten dahingehen als dasjenige unter den Völkern, das in all seiner Schwäche und Zerrissenheit ihm nahe steht, sehr nahe, und immer wieder von ihm gezüchtigt wird gleich dem Sohne, den der Vater so tief liebt!


Morgensonnenschein erfüllte die Welt, und Jonas Eisenhut ritt auf seinem Schimmel durch den duftenden Wald bergan.

Behaglich schnaubte das fromme Pferd und kaute wacker am Gebiß, daß die Schaumflocken lustig ins Moos flogen. Und so ging's im Hahnentritt selbzweit vergnügt durch kühle, dunkle Schläge und über sonnige Blößen zur Wallfahrtskirche hinauf.

Wiederholt war Jonas in Versuchung, das Pferd zu wenden und ins Land hinaus zu blicken. Doch er pflegte auch sonst nicht die Weinbeeren aus dem Kuchen zu essen, sondern den Kuchen mitsamt den Beeren zu genießen. Also wartete er, bis sich ihm dort oben die ganze Herrlichkeit mit einem Male in schrankenloser Schönheit erschlösse.

Er bog auf einen breiten Weg ein, der steil emporführte. Mit zärtlichen Worten klopfte er den Hals des Tieres ab, schwang sich aus dem Sattel und führte den guten Kameraden am Zügel den letzten Anstieg zur kahlen Kuppe.

Noch immer sah er sich nicht um.

In einem Kuhstall am niedern Wirtshause hinter der Kirche stellte er das Pferd ein und warf ihm Heu vor. 31 Dann begab er sich mit einem Buben zur Kirche hinüber, stieg im Turm empor und streckte endlich den Kopf zum Ausguck des Dachfirstes hinaus.

Fast hätte er laut gerufen. Aber das entsprach seinem Wesen durchaus nicht. Nur ein leises Pfeifen kam zwischen seinen Lippen hervor, und seine Augen leuchteten in hellem Entzücken.

Da hörte er unter sich Schritte, leichte und schwere. Er wandte sich nicht. Gerade jetzt, wo sich zum ersten Male die Heimat seiner Väter vor ihm ausbreitete, – gerade jetzt mußten fremde Menschen kommen und seine Betrachtung stören!

Er wandte auch den Kopf nicht, er murmelte nur einen kaum verständlichen Gruß auf das freundliche Gutentag, das ihm von einer Frauenstimme geboten wurde.

Er wollte nicht sehen. Aber die Ohren konnte er nicht verschließen, und so mußte er hören, wie dieselbe Stimme alsbald nach unten rief: »O Vater, wirklich über alle Maßen – –!« Das letzte Wort ging in einem tiefen Atemzug unter, als scheute sie sich, angesichts der weithin gebreiteten Herrlichkeit ein abgenütztes Wort in den Mund zu nehmen.

Aber von unten kam es freundlich zurück: »Sieh dir's nur gemächlich an, das fremde Land, wir haben Zeit.«

Jonas wandte sich noch immer nicht. Er hörte wieder einen tiefen Atemzug und leises, seidiges Knistern. Dann war alles ganz stille.

Mehr als zwei Menschen konnten unter der Lucke des Dachfirstes nicht stehen, und wenn der eine nach Osten gewendet war, mußte der andre nach Westen blicken.

Und so standen sie Rücken gegen Rücken hoch über der Welt. Der Mann unter ihnen aber begann aus seiner Unsichtbarkeit heraus zu summen: ›Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt –.‹

Es wurde Jonas andächtig zu Mute. Fast hätte er mit 32 dem Alten weiter gesummt: ›Dem will er seine Wunder weisen in Berg und Wald und Strom und Feld.‹

Da schwieg der Alte, und es war wieder stille, ganz stille. Unbewegt ragten die Wipfel der dunkeln Wälder da drunten in die flimmernde Luft.

Aber aus dem Lande, das sich in mächtigen Wellen nach Osten hin dehnte bis zum langgestreckten Grenzwall der böhmischen Berge, aus den blinkenden Dörfern und Märkten, Schlössern und Ruinen, Höfen und Hämmern, aus all den Siedelungen der Menschen, die gleichsam eingestickt waren in einen unermeßlich hingebreiteten Teppich geheimnisvoller Waldespracht – stieg dem Wissenden da droben die buntgestaltige Geschichte der Jahrhunderte empor, und die majestätische Stille löste sich in ein immer mächtiger anschwellendes Konzert von Tönen auf, von Tönen, die nur er vernahm, nur er verstand. Und wenn die Geschichte von außen hereinbrach, über die Fluren ritt, ihre Fahnen entfaltete, ihre Brandfackeln warf, die Todessense schwang und an die Überlebenden ihre Güter verteilte, dann klang durch all die wilden Töne wie ein immer wiederkehrender Grundakkord die Sage; und diese Sage kam aus der Tiefe des Landes selbst, summte über die rosigen Flächen des Heidekrauts, strich über die goldenen Felder, flog mit den Raben über blinkende Weiher, schaukelte sich auf den braunen Wassern der Bäche und Flüsse, pochte in den Hämmern, kauerte mit verträumten Augen unter uralten Bäumen, flatterte mit weißen Tauben um die Schallöcher grauer Kirchtürme, sang mit den Hirtenbuben am Waldsaum, kleidete sich in Landestracht und sprach in Heimatlauten und gab im Bilde einer Mutter das Lieben, Glauben, Hoffen, Zagen unzähliger Mütter und im Tone einer leise verklingenden Glocke das Läuten vieler hundert Glocken in vielen hundert Jahren über Wiegen und Särgen und über Millionen von klopfenden Herzen.

33 Jonas versank in Träume. Zwischen diesen Wäldern, in diesem wilden Tonstück der Geschichte, auf diesem von Sagen klingenden Boden hatten seine Altvordern gelebt, geliebt, gestritten, gelitten. Und in dem Staubwölkchen, das dort weit draußen unter den rollenden Rädern eines Wagens aufstieg und über die Wiese hinzog, war vielleicht auch ein Stäubchen von der Leiblichkeit eines Ahnen, der einst mit leuchtenden Augen, hocherhobenen Hauptes, ein erlegtes Wild auf dem Rücken, jene gewundene Straße geschritten war! –

Nun gebot es aber doch die Höflichkeit, daß er sich halb rückwärts wandte und sagte: »Wollen wir Platz tauschen?«

Die Altstimme antwortete, sein Blick streifte achtlos über ein Mädchengesicht; eine schlanke Gestalt schob sich an ihm vorüber.

Nun stand er mit dem Antlitz nach Westen, sah denselben wolkenlosen Himmel ausgespannt bis zu den Höhen des Steinwaldes und über dem verschwimmenden Felsen von Parkstein und suchte mit frohen Augen Ort um Ort in den Falten der Landschaft.

Dann murmelte auch er einen Gruß, der aber nicht weiter beachtet wurde, und stieg die Leiter hinab, drückte dem Buben das schuldige Eintrittsgeld für all die Pracht und Herrlichkeit in die Hand, grüßte den Herrn mit dem weißen Schnurrbarte, der wieder summend auf einem Balken saß, empfing freundlichen Gegengruß und stieg Schritt für Schritt die enge Turmtreppe hinunter.

*

Es ist nicht ganz erfindlich, warum die Alten den Markt, der nicht weit vom Fuße dieses Wallfahrtsberges entfernt liegt, gerade so und nicht anders gebaut haben.

Diesen Gedanken hat ohne Zweifel auch schon mancher Ochse zornig hinter der harten Stirne erwogen, wenn er den steilen, langgestreckten Marktplatz mühselig eine 34 Wagenlast hinanschob. Und er wartete vergeblich auf Antwort. Nicht einmal die Häuser, die einstöckig, blumengeschmückt, in ununterbrochenen Reihen aneinandergeklebt Straße und Marktplatz begrenzen, wissen eine solche zu geben. Denn es sind ja gar nicht mehr die alten Häuser von einstmals, sondern nur die Nachkommen ganzer Geschlechter von Häusern, die, immer eines auf der Brandstätte des andern erbaut, den Namen des Marktes durch die Jahrhunderte gerettet haben.

Also warum hier und nicht dort oder dort? Und warum jenes Gäßlein so krumm, ohne alle Ursache gewunden?

Wüßten wir's doch immer sogleich, dann ginge mit dem Wissen Hand in Hand das Verstehen: Vielleicht, weil hier vor tausend Jahren ein Quell floß, der den ersten Mann lockte zum Hausbau und inzwischen längst schon versiegt ist; oder weil dort vor achthundert Jahren der Gartenzaun eines mächtigen Mannes ein gebietendes Halt rief und den Fußweg zwang, sich demütig zu krümmen.

Vor achthundert, vor tausend Jahren! Ei – und wie ist mir denn? Gibt es nicht auch in unserer Gedankenwelt krumme, engbegrenzte, tiefe Gäßlein, lichtlos und traurig, die wir immer wieder wandeln müssen, weil – je nun, weil ein andrer vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren etwas hingebaut hat, oder weil vor tausend Jahren etwas da stand, an dem wir uns jetzt mühsam vorbeiwinden?

Aber muß denn auch alles so geradlinig langweilig verlaufen wie die Straßen einer amerikanischen Stadt?


Vor dem einstöckigen Gasthaus schräg der Kirche gegenüber, deren Langseite dem Marktplatze zugewendet ist, lagen vor verschüttetem Futter wiederkäuende Kuhgespanne, und ihre zugehörigen Bäuerlein saßen beim Bier in der niedern Gaststube zur rechten Hand vom Hausflur.

Diese Gaststube fürs gemeine Volk bildete eine Art 35 Vorhof zum Heiligtume des Herrenstübleins, das für eine ganz kleine Anzahl von Auserwählten bestimmt war. Vielleicht besser gesagt eine Art von Filter, durch den tropfenweise das Edelste der Nation in das eigens dazu bereitete Becken einfloß.

Auch diese Herrenstube hatte, wie alles auf Erden, ihre Vorfahren. Sie war, weil sie seit Jahrhunderten immer in ähnlicher Gestalt gewesen. Denn es ist nicht anzunehmen, daß einstmals die Edlen von Waldau und der Landsasse von Altenstadt, der Pfleger von Flossenbürg und der Richter dieses Marktes sich an einen Tisch mit den Kühbauern von Treswitz und Lind gesetzt haben. Und deshalb saßen auch jetzt die Herren und die Bauern, jene in der Herrenstube, diese in der Bauernstube – und im allgemeinen zerbrach sich damals auch niemand den Kopf, warum das so sei.

Zwei Tische standen in der Herrenstube, die gar nichts Herrenmäßiges an sich hatte und nur etwa dreimal so groß wie ein mäßiger Postomnibus war: ein größerer der Länge, der andere der Breite nach.

Die Tische waren gedeckt, und drei Herrengeschöpfe warteten hinter ihren Zeitungen auf ihre Atzung.

Auch keiner von den dreien grübelte darüber nach, warum er hier saß. Denn bei keinem von ihnen konnte in dieser Hinsicht irgendein Zweifel bestehen: Herr Doktor Bauer saß hier, weil er vor zehn Jahren Korpsstudent geworden war, vor drei Jahren den Staatskonkurs bestanden hatte und jetzt als Bezirksamtsassessor den Markt und die Landschaft an seinem bescheidenen Teil mitregierte. Herr Schuster saß hier, weil er nach Ausweis seiner schönen Aktenmappe – Juchtenleder – für gewöhnlich als Rechtsanwalt in Weiden wirkte und gestern abend zu einem Gerichtstermin herausgefahren war. Herr Jonas Eisenhut aber saß als der Dritte im Bunde ebenfalls an dem längeren Tische, der ohne Zweifel etwas vornehmer war als der 36 kürzere Quertisch, er saß hier, weil er ein Herr aus der allberühmten Hauptstadt der Provinz und heute früh von Floß über den Fahrenberg heraufgeritten war – und weil solche Herren all die Jahrhunderte hindurch immer abseits der Kühbauern gesessen sind.

In diesem Marktflecken war das feste Gefüge der Gesellschaft noch nicht im mindesten gefährdet. –

Nun hob der Assessor seine Schmisse und seinen Schnurrbart vom Zeitungsblatt und sagte mit lustigem Augenzwinkern: »Über den Fahrenberg sind Sie geritten? Na, da haben Sie aber nicht nur eine hübsche Aussicht, sondern auch eine hübsche Ansicht gehabt – wie?«

Jonas Eisenhut blickte verständnislos.

»Ich dachte nur«, meinte der Assessor und wandte sich zum Rechtsanwalt: »Ein verdammt hübscher Käfer, der da gestern abend in unsere unwürdige Herberge geschwirrt ist.«

»Für einen Käfer ist sie zu lang«, sagte der Anwalt.

Der Assessor lachte: »Gibt auch –«. Aber jählings verstummte er und verbeugte sich gegen den Eingang.

Eisenhut wandte sich um und sah eine junge Dame und einen hochgewachsenen, hagern Herrn mit starkem weißem Schnurrbart. Und er begriff.

»Sind die Herrschaften befriedigt von ihrem Ausflug?« fragte der Assessor höflich.

»Sehr!« sagte die junge Dame und wiederholte: »Sehr! Nicht wahr, Vater?«

Der alte Herr nahm seiner Tochter Hut und Jäckchen ab und hing beides an den Rechen über die langen Tabakspfeifen etlicher Stammgäste, hob die Hand, legte Daumen und Zeigefinger zusammen, als hielte er etwas ganz Feines dazwischen, und sagte langsam, jedes Wort betonend, mit etwas schnarrender Stimme: »Wenn mich jemand bäte, ihm mit einem Male einen Begriff von der herben Schönheit 37 der Oberpfalz zu geben, – ich bin ja ganz fremd in Ihrem Lande – aber ich kann mir nicht denken, daß sich ein besserer Überblick fände, als der droben vom Fahrenberg ist. In fremder Stadt, in fremder Landschaft ist nämlich immer mein Erstes, einen Kirchturm, einen Berg zu besteigen und alles von oben zu betrachten.«

»Herbe Schönheit!« Der Assessor wiederholte die Worte und legte den Nachdruck auf herb.

»Herb!« rief nun die junge Dame und setzte sich auf das alte, schwarze Ledersofa am kleinen Quertische, mit dem Rücken gegen das rotverhüllte Guckfensterchen, das in die Küche hinausging. »Herb, das ist ja gerade das Anziehende!«

»Vollkommen einverstanden, gnädiges Fräulein. Schön und herb – unter Umständen eine entzückende Verbindung,« sagte der Assessor im Tone der Überzeugung, verneigte sich leicht und warf einen bewundernden Blick auf das stolze, bleiche Antlitz, das unter den schweren, dunkelbraunen, in einen Kranz gewundenen Flechten aus dem Hintergrunde des Stübleins gleichsam herüberleuchtete.

Fast unmerkbar hob sich das feingeschnittene Haupt, und ein so kühler, verwunderter Blick traf den Assessor, daß dieser unwillkürlich die Augen senkte und sich in den Genuß seiner Suppe vertiefte.

Die junge Dame streifte die Handschuhe ab, zog ein Büchlein aus der Handtasche, legte es neben ihren Teller und sprach fortan kein Wort mehr. Der Assessor aber saß vor seiner Suppe, und seine roten Schmisse leuchteten stärker als vorher.

»Was Schönes kann jetzt ich nit an der Oberpfalz finden«, begann der Rechtsanwalt aus Weiden, legte den Suppenlöffel aufs Tischtuch und sah mit runden Augen verlangend dem goldbraunen Huhne entgegen, das die Wirtin hereintrug. »Sagen S' doch selber – nix wie Wald und nix wie Berg 38 und nix wie Steiner. Und wenn's nacher nur auch richtige Berg wären und richtige Wälder – aber gut Nacht!«

Immer wieder hatte Jonas verstohlen auf das Mädchen hinübergesehen. Jetzt fühlte er sich verpflichtet, den Fremden gegenüber für seine Heimat einzutreten: »Und warum hängen denn wir Oberpfälzer mit solcher Liebe an diesem Lande, Herr Rechtsanwalt?«

»Weil s' nix Besseres nit wissen«, sagte dieser und riß dem Huhne einen Schenkel aus. »Übrigens – sind denn Sie ein Pfalzler? Das glaub' ich nit recht.«

»Das will ich meinen«, verteidigte sich Eisenhut. »Nachweisbar auf vierhundert Jahr zurück.«

»Da sind S' aber schon alt«, meinte der Rechtsanwalt mit trockenem Lachen und schob den Schenkel in den Mund. »Und trotzdem – die Sprach, die Sprach, die ist, mein ich, halt viel zu viel fein. Jetzt ich hätt's Ihnen nit ankennt; während man's bei den Herrschaften dahinten« – er wies mit dem Schenkelknochen des Huhnes auf den Major und seine Tochter – »gleich kennt, wenn sie Richtunk und Sstraße und Sstein sagen und nich wahr, daß sie in Preißen daheim sind. No, wegen mir! Ich hab grad nix gegen die Preißen – wenn s' mir nur mein' königlich bayerische Ruh lassen.«

Die Dame biß sich auf die Lippe, und der Major lachte: »Sie sind aber doch auch Oberpfälzer, nich wahr?«

»Ich und ein Pfalzler? Ich dank Ihnen schönstens. Lieber ein Preiß!«

»Aber die Klangfarbe Ihrer Sprache?« erkundigte sich der alte Herr mit der Hartnäckigkeit des Mannes, der gekommen war, das Wesen von Land und Leuten zu erforschen.

»Ein Waldler bin ich, von Wegscheid daheim. Aber an meinem Hochdeitsch hat es noch keiner gemerkt, wo ich her 39 bin, wenn ich's ihm nicht sag,« meinte der Rechtsanwalt ärgerlich und spießte dem Gockel das Herz aus der Brust.

»Oh, ich liebe diese altbayerischen Laute sehr! Nicht wahr, Liselore?«

Sie sah ihn voll an und nickte: »Gewiß, Vater.« Dann beugte sie sich wieder auf ihr Büchlein.

»Da heroben hören S' aber nix Altbayerisches«, sagte der Rechtsanwalt. »Pfalzler sind halt niemals keine richtigen Altbayern nit.«

»Nicht?« fragte der Fremde erstaunt. »Ich dachte immer – ja, was sind sie wohl dann?«

»Sind keine Altbayern und werden auch nie keine Altbayern, die Pfalzler, wenn ich's Ihnen doch sag! Was werden s' denn sein? Pfalzler sind's halt!«

Der Assessor wollte das Gespräch auf ein anderes Geleise schieben: »Im Sommer ist's schön hierzulande, darüber besteht wohl kein Zweifel. Aber im Herbst, im Winter, im Frühjahr sollten Sie bei uns leben müssen, vom Oktober bis tief in den Mai, sieben, acht Monate lang!«

»Wenn dir alle Tag der böhmische Wind durch den Mantel und den Rock und die Weste und das Hemd und die Unterjacke und durch alle sieben Häut bis auf die Knochen ins Mark pfeift –« knurrte der Rechtsanwalt.

»Und wenn der Schnee liegt, oft vom November bis in den März, immer und immer die Decke, die weiße –!« fuhr der Assessor fort.

»Und wenn dir der Bockel stecken bleibt mitten auf dem Feld, daß d' aussteigen und zu Fuß waten mußt im Schnee bis an den Bauch!« bekräftigte der Rechtsanwalt. »Wissen S', was der Bockel ist?«

Der Major schüttelte den Kopf.

»No, 's Bahnzügerl halt, mit dem S' raufg'fahren sind, gestern!«

40 »Um so gemütlicher muß sich aber dafür im Winter das gesellige Leben gestalten, nicht wahr?« meinte der alte Herr.

»Oh, man findet überall angenehme Menschen,« sagte der Assessor vorsichtig. Ein flüchtiger Blick streifte sein Gesicht. Dann vertiefte sich Liselore wieder in ihr Buch.

»– Und ein einziger grandiger Hecht kann dir alles verpatzen«, sagte der Anwalt.

»Wie –?« fragte der alte Herr und hielt die Hand hinters Ohr.

»Der Herr Rechtsanwalt hat bildlich gemeint, daß ein einziger Störenfried das gesellige Leben in einem so kleinen Orte übel beeinflussen kann,« beeilte sich der Assessor zu erklären; denn die Stirnader des rauhen Bajuwaren begann merklich aufzulaufen.

»Grad so hab ich's gemeint«, rief dieser. »Und hab's deutlich genug g'sagt. Aber wissen S', woher die Pfalz ihren Namen hat? Nein? So hören S': Wie am Anfang die Länder aus'teilt worden sind, ist zuletzt das Land da heroben übrig geblieben. Da hat's der Erzengel Gabriel dem Teufi angeboten; der aber hat sein Goschen verzogen, hat ausg'spuckt und g'sagt: ›Pfalt's!‹ Und seitdem heißt man's die Pfalz.«

»Pfalz?« fragte der alte Herr verständnislos.

»Behalt's!« erklärte der Assessor und lachte.

»No ja, das kann doch jeder verstehen!« murrte der Rechtsanwalt. »Aber das Essen ist gut in der Weiden und da heroben und in Floß auch noch so – so, und das ist die Hauptsach,« schloß er und hieb in den goldgelben Pfannkuchen, der nun vor ihm lag und schmalzglänzend auf allen Seiten über die Porzellanplatte herabhing.

*

Vom weiten Platze unter der Kirche führt die Straße linkerhand stetig bergan. Endlich biegt sie links am Schlosse vorüber, verläßt den Markt und zieht sich zwischen den Feldern 41 hinaus ins Land, ins weite wellige Land, ostwärts den Wäldern entgegen.

Bald versinkt der Markt mit seinem kurzen Kirchturm hinter dem einsamen Spaziergänger, und nur das große Renaissanceschloß mit seinen runden, behuteten Türmen steht grau und wuchtig da, wenn er sich wendet.

Die Luft ist stark, über die wogenden Felder streicht der böhmische Wind und trägt den Waldesduft herauf aus unergründlichen Tiefen. Aus weiter Ferne leuchtet eine mächtige Burgruine herein in das Bild.

Viele Straßen, Feldwege und Fußpfade führen in den Markt, kreuzen sich dort und führen wieder hinaus; denn das alte Nest war immer ein gewichtiger Ort. Und es besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen diesen Straßen, Wegen und Pfaden und einem wohlangelegten Spinnennetze. Aber natürlich hat der Vergleich, näher besehen, auch seinen Haken. Denn die Fliegen, die sich in einem Spinnennetze fangen, kommen bekanntlich niemals auf den Fäden dahergelaufen, und ich verwahre mich vollends entschieden dagegen, als ob ich, einem ganz unpoetischen Bilde zuliebe, Wirte und Kaufleute und Handwerker und alle andern Biedermänner des mir so teuern Örtleins mit Spinnen vergleichen wollte.


Auch die Straße, auf der Jonas dahingeht, ist alt, wahrscheinlich sehr alt. Doch etwas Besonderes ist nicht an ihr. Dann aber schneidet seine Straße im rechten Winkel eine andere, breite, gänzlich verwahrloste Straße. Und diese hat ihre Vorzüge.

Jonas verläßt seine Straße und folgt der andern. Und diese erscheint grün angelaufen vom Graswuchs, der sich zwischen den Kieseln ihres abgeschwemmten Bewurfes hervorwagt, – grün wie die Patina an der Schwertklinge aus einem vorzeitlichen Grabe.

42 Er schreitet mit gesenktem Haupte ein wenig bergab, dann wieder hinan.

Es ist keine von den neumodischen Kunststraßen, die ängstlich jede Erhöhung umgehen. Es ist eine von den ganz alten Straßen, die ohne jede Rücksicht auf Berg und Tal und Mensch und Vieh so gradlinig wie möglich ihrem fernen Ziele zustreben.

Die Grillen zirpen am Rain, die roten Nelken zittern an den Hängen im Windhauch, ein Stücklein unermeßlicher Fernsicht schiebt sich zwischen den Resten eines Baumganges herein, verschiebt sich alsogleich und versinkt hinter der nächsten Welle des Bodens.

Jonas geht mit gesenktem Haupte. Er sieht nichts, er hört nichts; denn seine Augen sind hellsehend geworden und tauchen zurück in vergangene Zeiten.

Die Patina wird weggewischt, dicker Staub bedeckt die alte Straße, kein Grünes hat mehr Raum in ihren Geleisen.

Es beginnt sich zu regen in der unsäglichen Stille und Öde, zu regen von wanderndem, rollendem, trabendem, schnaubendem, lachendem, weinendem Leben. Große Wagen, mit weißen Plantüchern überspannt, ächzen und schwanken einher – einem fernen Ziele entgegen. Schwere Rosse stampfen durch den Staub, das Messingzeug an ihren Kummeten blinkt und klirrt, die zauberkräftigen Dachsfelle flattern. Fuhrleute in blauen Hemden lassen die Peitschen knallen, schwarze Spitze strecken die feuchten Schnäuzlein unter Tüchern heraus und kläffen. Braune Kriegsleute in Eisenkappen und Lederkollern reiten zum Geleite vornauf und hintendrein und machen grimmige Gesichter. In eine Staubwolke gehüllt taucht der lange Zug hinunter ins Waldesdunkel, und lichtscheue Strolche verstecken sich hinter den Tannen. Eine Zeitlang tönt das Knallen der Peitschen, das Kläffen der Hündlein und das Ächzen der Räder aus der Tiefe. Und sie alle suchen ihr Ziel.

43 Die Grillen zirpen, der Ginster leuchtet, die Feldnelken glühen, der Quendel duftet, am blauen Himmel ziehen kleine, weiße Wolken, und aus flimmernder Höhe tönt leise der Jagdruf eines Habichts.

Der Mann auf der verödeten Heerstraße geht mit gesenktem Haupte bis dorthin, wo keine Grille mehr zirpt und keine Nelke mehr brennt und schwarzgrüne Tannen ihre schweren Schatten über die feuchten Geleise legen. Dann kehrt er um und geht den Weg zurück ins Licht des Nachmittags.

Und jetzt kommt Wirklichkeit auf der verödeten Straße gezogen: Landfahrende Bettler streben den Wäldern entgegen, böheimwärts. Braune Weiber patschen auf nackten Sohlen. Sie haben gelbe Tücher um die Köpfe gewunden und tragen gebückt in gelben Tüchern ihre Brut auf dem Rücken. Und an ihren Ohrläppchen baumeln große silberne Ringe. Struppige Männer mit einer struppigen Mähre vor dem elenden Karren. Jugend, braun von Haut und grau von Schmutz, mit schwarzen, leuchtenden Augen. Vorüber –.

Seine Seele träumt und hört, was sonst die Augen sehen, und sieht, was sonst die Ohren hören. Sie sieht Hornstöße über die Felder kommen und hört das Gleißen und Funkeln zahlloser Waffen, und sie zieht sich schmerzvoll in sich zurück. Der Tod reitet lautlos in blutrotem Mantel weit vorauf und stützt die knöcherne Rechte auf einen funkelnden Feldherrnstab. Eine wimmelnde Heerschar erfüllt die Straße. Soldaten des Kaisers marschieren über den Nordgau und streben gen Böhmen, das sich hinter den schwarzen Wäldern dehnt, so reich und so weit und so schön. Und die Wälder schlucken alle die Schatten in ihre noch tieferen Schatten – den Tod und das Heer und den Troß.

Öde liegt die Straße. Die Nelken glühen noch immer, der Quendel duftet, die Wölklein segeln, und der Habicht zieht seine Kreise tiefer und tiefer.

44 Andere Schatten tauchen auf, werden größer und größer, kommen heran und ziehen vorüber – Schatten und Schemen wie alle die andern. Ob sie nun sich tragen lassen in Sänften oder schaukeln auf Zeltern, ob sie einherrollen in stolzen Karossen, ob sie wandern, ein Blatt zwischen den Lippen, fröhlich summend dahinwandern, sorgloses Handwerksvolk, das sein Felleisen hinter sich dreinschleift auf zwei rollenden Rädlein durch Staub und Dreck – Schatten und Schemen.

Und alle, alle suchen ein Ziel und haben nun längst schon die Herberg erreicht – Bettler und Könige, Räuber und Wallfahrer, Jugend und Alter, Laster und Tugend –, alle! Und die Nelken blühen wie damals und verblühen am Saume des Weges. Die weißen Wölklein leuchten eine Weile und werden eilend verzehrt. Und der Wind streichelt das Gras.

Plötzlich bleibt Jonas stehen, wirft sich unter einen Ginsterstrauch zwischen glühende Nelken, verbirgt sein Antlitz in den Händen und schluchzt: »Alle, alle hatten ein Ziel – ich aber, ich – –?«


Das ist die alte Heerstraße Kaiser Karls, des Vierten dieses Namens. Und seine Straße hatte einen Anfang und lief über Berg und Tal unbeirrt an ihr Ziel. Wer auf ihr geht im heißen Mittag oder im Froste des nordgauischen Winters, in der klaren Kühle des Herbstmorgens oder in der mondhellen Frühlingsnacht, der kann kahle Bäume oder belaubte Bäume, kann rote Nelken oder schneeverwehte Hecken und kann dazu alles, alles das andere sehend hören und hörend sehen, was Jonas Eisenhut sah – oder auch nichts von dem allen, rein gar nichts.

*

Eingebettet in eine Falte der welligen Landschaft, liegt nahe am dunkeln Walde unter hohen Laubbäumen eine 45 Herberge. Vorzeiten, als auf dieser Heerstraße noch Tag und Nacht das Leben einherflutete, ward das Haus am Straßenrande nicht leer von Fahrenden und sein Stall nicht leer von Rossen, und der Wirt hatte zu allen Jahreszeiten reichliche Ernte an seinen Gästen. Heute aber steht es verödet am verödeten Wege. Kein Kaufmannswagen wird nächtlicherweile hinter seinen Plankenzaun geschoben, kein Reiter bindet sein müdes Pferd an die Krippe, und in der stillen Wirtsstube fordert kein stolzer Fuhrmann – höchstens ein Holzhauer oder ein Jäger den Imbiß. Zuweilen aber wird es an schönen Sommernachmittagen doch lebendig im schattigen Garten. Da kommen die Mütter mit ihren Kindern aus dem Markte und trinken Kaffee und essen Kuchen. Dann sitzen die Mütter und stricken und schwatzen, und die Kinder spielen und lärmen, bis der Abend hereindämmert und die Luft kühl herüberstreicht von dem dunkeln Weiher am Walde. Und endlich ziehen sie wieder heimwärts; der Mond steht hoch am Himmel und gießt sein flimmerndes Gold über die Fichten und Tannen und über das finstere Wasser, auf dem die großen, grünen Blätter liegen und die geschlossenen Blumen mit ihren blinkweißen Köpflein. Und die alte Herberge steht verlassen wie vorher.


Jonas trat aus dem Schatten der Straßenbäume und kam nahe an das Wirtshaus. Doch ging er nicht über seine Schwelle, sondern bog links ab, am schilfumkränzten Weiher vorüber, stieg die kleine Anhöhe hinauf und setzte sich auf die Bank unter die Waldbäume.

Er zog ein Buch aus der Tasche und begann zu blättern. Aber das Buch hielt ihn nicht fest. Immer wieder schweiften seine Blicke über die Fläche des Weihers, auf der die vielen Rosen schwammen – heute noch weit geöffnet, silberne Sterne mit goldenen Kernen.

46 Ein leichter Wind wehte über das Land. Aber nur hoch oben in den schimmernden Wipfeln der Föhren sangen die Nadeln, und zuweilen knarrte leise ein Ast. –

Stimmen kamen aus der Ferne. Büsche rauschten.

Jonas wandte sich, und aus dem Unterholze am Waldsaume hinter der Bank trat ein Herr.

»Ah, unser Tischnachbar von heute mittag! Schön, daß wir uns treffen. Meine Tochter und ich haben einen prachtvollen Waldspaziergang hinter uns. Diese herrlichen Wälder!«

Jonas hatte sich erhoben und zog den Hut. Jetzt kam auch die Tochter aus dem Buschwerk geschlüpft. »Wege führst du mich, Vater, Wege, die doch eigentlich keine Wege mehr sind!« sagte sie lachend und nickte zu Jonas hinüber.

»Da werden die Herrschaften ermüdet sein. Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten?«

»Sehr freundlich! Aber selbstverständlich werden wir Sie nicht vertreiben. Die Bank ist lang genug für uns drei. Idyllisch, ganz idyllisch – der Weiher, die Herberge da drüben, das Bänkchen. Übrigens – Major Titus.«

»Eisenhut!«

»Liselore – hier Herr Eisenhut – meine Tochter. Aber nein, Herr Eisenhut, so ist es wahrhaftig nicht gemeint. Wir haben alle drei Platz.«

»Oh, ich sitze hier sehr gut auf dem Baumstumpfe.«

»Nu, wenn Sie's nicht anders tun. Aber holla, Liselore– heraus mit deinen Schätzen! Wir atmen nicht ungestraft in dieser Luft, von der ein jeder Atemzug einen Kronentaler wert sein soll. Hoffentlich hast du dich vorgesehen?«

Sie nahm den Beutel mit der feinen Stickerei vom Arme, zog ihn auseinander und reichte dem Fremden ein Ei und ein Päckchen hinüber. »Darf ich Sie bitten, mit uns zu halten?«

»Sie sind zu gütig«, stotterte Eisenhut. »Eigentlich nehme ich nachmittags nie etwas zu mir – aber –«

47 »Nun, dann nehmen Sie's uneigentlich zu sich«, riet der alte Herr lachend und biß kräftig in sein Schinkenbrot.

»Die Gegend ist Ihnen wohl schon länger bekannt?« fragte er nach einer Weile.

»Ja und nein, Herr Major. Ich kenne die Geschichte einer jeden Burg, eines jeden Marktes und Städtchens, aber zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich zum ersten Male heraufgekommen bin, obwohl ich Ursache dazu gehabt hätte. Denn das Land hier ist dreihundert Jahre hindurch die Heimat meiner Vorfahren gewesen.«

»Vater, das ist etwas für dich!« sagte die junge Dame mit großartiger Betonung.

»Demnach gehören Sie auch zur ehrsamen Zunft der Familienforscher?« rief der alte Herr hocherfreut.

»Doch nicht so ganz. Meine Studien gehen nach einer andern Richtung.«

»Also doch nichts für dich!« sagte sie mit komischem Bedauern.

»Sie müssen nämlich wissen,« erklärte der Major, »auch wir befinden uns, so allgemein gesprochen, im Lande unserer Altvorderen. Nur sind wir nicht in der glücklichen Lage wie Sie – denn wir haben gar keine Ahnung, wo die alte Heimat eigentlich zu suchen wäre. Uns leitet nur die bestimmte Überlieferung, daß unser Geschlecht aus der Oberpfalz stammt, und daß unser ältester Vorfahr, Georg Titus, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Regensburg gewohnt hat. Natürlich ein Edelmann,« setzte er lachend hinzu, »denn jede dritte deutsche Familie von Herkommen und Stammbaum erfreut sich auch eines Ahnherrn, der ein Edelmann war, und in seiner sagenhaften Gestalt vereinigt sich gleichsam alles Außergewöhnliche, was wir an uns und unsern Kindern entdeckt zu haben glauben. Aber ich bitte Sie, ich habe so ziemlich alle Druckwerke über den süddeutschen Adel, ich habe die etwa sechzig Bände der Verhandlungen des historischen 48 Vereins dieser Provinz durchblättert, ich habe nirgends eine edle oder unedle Familie des Namens Titus gefunden; und auch die Regensburger Kirchenbücher, deren Durchforschung ich brieflich veranlaßte, haben vollkommen versagt. Und doch läßt's mich nicht los, namentlich seit ich im Ruhestand lebe – ich möchte der Sache zu gerne noch auf den Grund kommen.«

»Es ist nach meiner Erfahrung das gewöhnliche Schicksal der Familienforscher, daß sie im Chaos des Dreißigjährigen Krieges stecken bleiben,« bemerkte Jonas.

»Trotzdem habe ich mir gesagt, du solltest doch wenigstens einmal im Leben das Land sehen, wo sie gewohnt und wohl auch ihr redlich Teil gekämpft und gelitten haben. Und so wollen wir in diesem wunderbaren Sommer die Oberpfalz von Norden nach Süden durchwandern. Aber es ist nur ein halbes Vergnügen, mit solch unerfüllbarem Wunsche im Herzen zu wandern, in jedem Städtchen denken zu müssen, ist hier die Heimat gewesen –? und nie zu einem Ergebnis zu gelangen.«

»Tragisch!« sagte die Tochter halblaut.

»Was hast du gesagt, Liselore?«

»Daß ich aufrichtig wünsche, es möge dir doch noch gelingen.«

»Könnte hier nicht ein Wappen zum Wegeweiser werden?« fragte Jonas eifrig.

»Könnte! Ja, könnte! Aber es mag nicht. Ich habe zwar von meinem Vater einen alten Siegelring geerbt – sehen Sie, hier –, aber der weist kein eigentliches Wappen auf, sondern nur einen Kopf römischen Schnittes. Ich vermute, es soll ein Tituskopf sein. Die Arbeit stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ach, das ist eben das Unglück, daß man außer einem magern Stammbaum keine feste, lückenlose Überlieferung besitzt. Mein Großvater ist als Offizier anno 1812 in Rußland geblieben. Er hat zwei Söhne hinterlassen, einen zehnjährigen, der mein Vater wurde, und einen achtjährigen. Von 49 diesem ist noch ein Nachkomme vorhanden, ein alter Sonderling, der ein kleines Landgut in der Mark bewohnt, um sein Wohnhaus eine hohe Mauer aufgeführt hat und mit der Außenwelt vollkommen zerfallen ist. Ich vermute zwar, daß er noch einige Nachrichten besitzt, habe auch einmal vor langen Jahren etwas von einem alten, silbernen Siegelstöckchen gehört, aber Näheres konnte ich niemals erfahren.«

Jonas betrachtete prüfend den hochgewachsenen, schlanken, sehnigen Mann, die schmale, gebogene Nase mit den feinen Flügeln, die blitzenden, blauen Augen unter den buschigen, weißen Brauen, die stark gewölbte Stirne, und seine Blicke glitten auch über die Tochter, die in Körperbau und Angesicht dieselben Rassemerkmale aufwies.

Dann sagte er. »Ein oberpfälzisches Geschlecht Ihres Namens hat es, soviel mir bekannt ist, niemals gegeben. Aber nach meinen Erfahrungen steckt in allen derartigen Überlieferungen ein wahrer Kern. Könnte man nicht annehmen, daß Ihr Ahnherr mit Vornamen Georg Titus geheißen, aus irgendeiner Ursache seinen Familiennamen abgelegt, den Namen Titus als Geschlechtsnamen geführt und diesen Namen seinen Kindern vererbt hat?«

Der Major hatte ihm mit wachsender Spannung zugehört. »Meiner Treu, auf diesen Gedanken bin ich noch nie gekommen. Also ein Inkognito. Das könnte mir einleuchten! Es wäre so einfach und naheliegend. Aber Sie, Herr Eisenhut, sind eben doch ein Familienforscher, leugnen Sie's nicht!«

»Ein Geschichtsforscher«, sagte dieser mit leichtem Erröten. »Und wir müssen allerdings oft vom festen Boden des Erforschten aus unsere Vermutungen als Kundschafter ins Dunkel des Unerforschten voraussenden. Freilich kommen diese in den meisten Fällen leer zurück wie die erste Taube Noahs, die auch nicht fand, wo ihr Fuß ruhen konnte. Aber dann lenken wir eben unsere Hoffnung nach anderer Richtung.«

50 »Was wäre nun in meinem Falle zu tun?« fragte der Major erregt.

»Herr Eisenhut,« sagte seine Tochter und hob lächelnd den Finger, »mein Vater beginnt zu fiebern, und Sie belasten Ihr Gewissen.«

»Was raten Sie mir –?« wiederholte der alte Herr.

Jonas bedachte sich einen Augenblick: »Im staatlichen Archiv unserer Provinz liegen große Aktenbestände aus der Zeit der Gegenreformation. Es dürfte wohl kaum eine damals vertriebene Adels- oder auch Bürgerfamilie geben, die nicht irgendeine Spur ihres Daseins in diesen traurigen Akten hinterlassen hätte.«

»Wo ist dieses Provinzarchiv – in Regensburg?«

»Es befindet sich seit alten Zeiten in meiner Vaterstadt, in der alten Hauptstadt der Oberpfalz, Herr Major.«

»Liselore, wir reisen in diese Vaterstadt!« rief der Alte, und es dröhnte, als hielte er vor der Front seines Bataillons.

Sie nickte fast unmerklich. Jonas aber sagte: »Allerdings dürfte es keine geringe Arbeit sein, diese Berge von Akten – Konvertiten- und Emigrantenverzeichnisse, Ausweisungsbefehle, Bittgesuche, Verkaufsverhandlungen – zu durchforschen. Die Bestände sind zwar lichtvoll geordnet, aber dem Einzelforscher muß es überlassen bleiben, sich durch die zahllosen Namen hindurchzuwinden. Zahllose Namen! Die Machthaber von damals ließen sich's angelegen sein, gründliche Arbeit zu liefern. Kein gelähmter Urgroßvater in einem weltentlegenen Schlößchen, keine Pfründnerin ist ihrem Bekehrungseifer entgangen. Stand ja doch hinter ihnen Tag und Nacht der unerbittliche, eiserne Kurfürst. Und der einzige Wegweiser, den Sie besitzen, ist – wenn wir überhaupt richtig vermuten – nur ein, allerdings ungewöhnlicher, Vorname.«

»Einerlei, ich reise mit Ihnen!« wiederholte der Major.

»Schauerlich!« sagte das Mädchen und schüttelte sich.

51 »Schauerlich, Liselore, wenn wir dorthin reisen?« fragte der Vater.

»Ich reise ja doch mit dir, wohin du willst,« sagte sie. »Schauerlich, hab' ich sagen wollen, diese Menschenknechtung!«

»Was wollen Sie?« meinte Jonas achselzuckend. »Die Herrscher von damals haben im besten Glauben gehandelt. Das kurze Menschenleben hatte für sie nicht die Bedeutung, die wir Spätgeborenen ihm beizulegen geneigt sind. Trotz all ihrem oft höchst irdischen Treiben, trotz Genußsucht, Habsucht und allen Sünden, die von Anfang an auf dem sterblichen Geschlechte lasten, besaßen sie doch eine Sicherheit der Weltanschauung, die der erhabenen Züge nicht entbehrt. Hinter all ihren Handlungen, den guten wie den bösen, hinter all ihrem Hoffen und Fürchten dehnte sich, bald drohend wie das brandende Meer, bald lockend wie eine liebliche Insel, das Jenseits. Mit seinem Herrscherinstinkte fühlten die Verantwortlichen, daß eine wahre Menschengemeinschaft, ein starker Staat ohne diese Einheit der Weltanschauung, des Glaubens, in sich ein überkleistertes Unding ist, und folgerichtig stießen sie den aus ihrer Gemeinschaft, der sich zu einem andern Glauben bekannte. Und, so hart es klingen mag, der Gedanke war richtig. Täuschen wir uns nicht, der Pfahl des zwiespältigen Glaubens steckt heute noch im Deutschen Reich, und eine glänzende Decke verhüllt die eiternde Wunde und die altüberlieferte Ohnmacht. Zwiespältig – ach, was sage ich, dreispältig wäre besser gesprochen! Denn zur evangelischen und katholischen Weltanschauung ist nun auch noch als gleichberechtigte dritte die nihilistische getreten und treibt ihr unaufhaltsames Werk der Zersetzung.«

»So sprechen Sie der Glaubensverfolgung das Wort?« rief sie lebhaft.

»Ich bin Protestant«, erwiderte er mit Ernst. »Und so entschieden ich die Weltanschauung des Nihilismus ablehne, 52 so stark ist meine Liebe zu denen, die ohne jede Rücksicht auf äußeres Wohlergehen bereit sind, für ihren Gottesglauben zu leben und, wenn es not tut, zu leiden – trotz weltlicher Gemeinschaft und Staat.«

Sie nickte nachdenklich. Dann begann sie, die Reste der Mahlzeit, Eierschalen und Papiere, sorgfältig zu sammeln, packte sie in eine Düte und barg diese im Beutel.

»Herr Eisenhut,« rief der Major, der in tiefen Gedanken dagesessen war, »Ihre Vermutung öffnet mir ganz ungeahnte Wege. Und wenn ich nun tatsächlich jenen Georg Titus X fände, einen Kerl, unbeugsam wie eine Eiche, trotzig aller Welt gegenüber, demütig einzig und allein vor dem Ewigen, Unerforschlichen –!«

»Wäre dann zu hoffen, daß wir selbst bessere Protestanten würden –?« sagte seine Tochter mit kühlem Lächeln.

Der Alte schwieg.

Da nickte sie wiederum nachdenklich. Aber dann mahnte sie: »Wollen wir nicht aufbrechen? Die Wirtin hat uns mit unverkennbarem Ernst auf sieben Uhr zum Abendbrot bestellt.«


Sie gingen den Fußweg zum Markte zurück. Der Major voran mit langen Schritten, augenscheinlich ganz von der neuen Hoffnung erfüllt. Im Abstand hinter ihm Jonas und Liselore.

Sie gingen zwischen den reifenden Kornfeldern, und die Sonne, die sich anschickte, in das Waldmeer unterzutauchen, vergoldete die wogenden Flächen. In der Ferne schlug eine Wachtel, eine Lerche jubelte im wolkenlosen Äther.

»Sehen Sie, wie sich nun das Schloß über die Felder hebt? Allerdings nur ein Emporkömmling von gestern. Pfalzgraf Friedrich, ein Bruder des Herzogs Philipp von Neuburg, hat es in den achtziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts mit harter Fronbedrückung seiner Untertanen erbaut. Er besaß drei Ämter – Floß, Parkstein und Weiden – zu 53 wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Und wie seine Untertanen ihm und seinem Werke, so mußte er seinen Gläubigern fronen – bis zu seinem frühen Tod!«

»Und sehen Sie nur,« rief Liselore, »wie massig das rostbraune Dach auf den grauen Mauern ruht, wie kraftvoll die runden Türme mit den spitzigen Hüten den Bau flankieren! Alles so einfach, so selbstverständlich, so maßvoll. Und wie sich die Sonne in den Fenstern spiegelt, als müßten im nächsten Augenblick die Flammen aus ihnen schlagen –!«

»Und sehen Sie«, fuhr er fort, »den Baum dort oben, weit drüben, hier, in gerader Linie über den braunen Dächern des Weilers im Grunde? Wie ein Riese drückt er auf all die kleinen Bäume um ihn her. Das ist der Kalte Baum, für die Oberpfalz dasselbe, was der Birnbaum auf der Walser Heide für Vorderösterreich bedeutet. Schon eine Leuchtenberger Urkunde vom Jahre 1362 nennt ihn das ›kalte Bäumel‹!«

»Es ist wundervoll, wie das Land in jener Richtung ansteigt,« sagte sie, »und welch ein Farbenspiel über die goldigen Felder hin, bis empor zum schwarzen Grenzwall der Berge –unsagbar schön!«

»Dort rechts vom Kalten Baume, nur durch ein tiefes Tal von ihm getrennt,« belehrte er sie weiter, »und mit dem Kalten Baume durch manche Sage verbunden, sehen Sie die zackige Ruine auf der hohen Bergkuppe, und dicht unter ihr, gleich einem Mauerkranz um die Kuppe gelegt, den Markt. Das ist der Leuchtenberg, das Stammhaus der mächtigen Landgrafen, die im Jahre 1646 ausgestorben sind. Natürlich wähnt das Volk, der Name bedeute den leuchtenden Berg. Aber diese Vermutung ist falsch, wie jede Worterklärung, die sich das Volk zurechtmacht, grundfalsch. Es ist übrigens eine umfangreiche Literatur über den Ort und das Geschlecht vorhanden. Wenn Sie wünschen, kann ich Ihnen die Titel notieren.«

»Ich halte es in diesem Falle mit dem Volke«, erklärte sie 54 sehr bestimmt. »Das ist ja in der Tat ein Leuchten weithinaus ins Land, wie von der ›Stadt, die auf dem Berge steht‹. Und wenn Sie mir die ganze Geschichte jenes Geschlechtes erzählen wollten – bitte, tun Sie's lieber nicht! –, von allem behielte ich doch nur dies wunderbare, dies unvergeßliche Leuchten der alten Ruine.«

»Sie legen den Nachdruck auf den Naturgenuß?« sagte er, ein wenig betroffen über ihre Ablehnung.

»Immer und überall!« rief sie. »Sehen Sie, im vergangenen Jahre war ich mit meinem Vater in Oberbayern. Wir wohnten in einer einsamen Herberge auf einem Hügel zwischen der Loisach und dem Würmsee. Oft, oft saßen wir des Nachmittags, wenn die Sonne hinter dem Hause stand, auf der großen Veranda im Angesichte der fast endlosen Kette der Berge. Und während sich mein Auge nicht ersättigen konnte an all der farbenjubelnden Schönheit der duftigen Wälder, Halden, Spitzen, Kuppen, Grate, Schrunsen, Klüfte, an den schimmernden Dörfern und blinkenden Höfen hinter den braunen Moorflächen zu unsern Füßen, saß mein guter Vater neben mir, hatte Generalstabskarten aufgelegt und ließ nicht ab, nicht ab, bis er mit seinen Karten die Daseinsberechtigung des letzten Gipfels bewiesen und jeden Namen herausgebracht hatte. Ich begreife ja, wenn ein Feldherr die Gegend mit solchen Augen betrachtet. Aber meinem Vater war doch keineswegs die Aufgabe gestellt, ein Heer auf dem kürzesten Wege nach Tirol zu werfen. Und sehen Sie, so meine ich, daß die Wissenschaft nicht auf Natur- und Kunstgenuß drücken darf. Aus derselben Empfindung heraus liebe ich auch die Sage mehr als die Geschichte. Denn die Sage schmiegt sich so natürlich in die Landschaft ein – die Geschichte hat fast immer eine gewaltsame Note.«

»Dann hätte ich Ihnen vermutlich die Sage von der schönen Grafentochter und dem armen Hirtenknaben mit besserem Glücke erzählt!« rief er lachend.

55 »O gewiß! Denn Sie sollen es nur wissen, ich kann mich gar nicht satt hören an Sagen und Märchen. Wie aber lautet denn diese Sage?«

»Ich habe nur eine dunkle Erinnerung, gnädiges Fräulein. Es ist eine Sage wie viele andere. Auf dem Leuchtenberg haust ein strenger Graf. Natürlich über die Maßen hochmütig. Das Gegenstück ist seine Tochter. Ein Ausbund von Schönheit. Den Grafen ruft sein Handwerk ins gelobte Land. Die Tochter bleibt selbstverständlich zurück und wird ebenso selbstverständlich von tödlicher Langeweile gepeinigt. Aber die Rettung ist nahe. Über dem Tale drüben liegt unter dem Kalten Baum ein faulenzender Hirte. Ein Reh gibt sich zum Liebesboten her. Eine weiße Schlange spielt auch eine wenig ehrenhafte Rolle. Den Rest können Sie sich selbst zusammenreimen, nicht minder das Vergnügen des heimkehrenden Grafen.«

Sie lachte hellauf: »Schönsten Dank für die Sage im Telegrammstil. Aber können Sie sich nun vorstellen, daß mich trotz allem diese Sage zunächst nicht mehr loslassen wird, daß ich gar nicht mehr zum Leuchtenberg und zum Kalten Baum hinübersehen kann, ohne an sie zu denken, daß ich an ihr weiterspinnen werde, bis das Gewebe fertig vor meinen Augen liegt? Und daran sind Sie schuld.«

»Dann sind Sie eben eine Dichterin«, bemerkte er einfach.

»Das habe ich noch niemals gewähnt«, rief sie wieder mit Lachen.

»Es gibt auch unbewußte Dichter«, sagte er leichthin.

»Wenn es das gibt, dann kenne ich eine solche unbewußte Dichterin,« meinte sie nun ganz nachdenklich. »Allerdings keine Dichterin, die Verse macht. Aber erzählen kann sie – ich denke mir oft, so haben die Märchenerzähler des Morgenlandes ihre Geschichten gesponnen am Lagerfeuer im Wüstensande, und so haben die Fahrenden geraunt im Schloßhof und auf der Bank unter der Dorflinde.«

56 »Sie machen mich neugierig.«

»Es ist eine Magd, die in unserm Hause dient, solange ich lebe. Und denken Sie nur, sie stammt aus der Oberpfalz, trägt heute noch ihr schwarzes Kopftuch und ist, wie gesagt, voll von Geschichten aus ihrer Heimat, die sie wunderbar naturwüchsig wiederzugeben versteht. Daher kommt es auch, daß mir die Oberpfalz eigentlich gar nicht wesensfremd ist. Allerdings, von ihrer Geschichte habe ich keine Ahnung – ich sehe das Land und seine Menschen nur immer im Dämmerlichte der Sage. Mit Sagen bin ich aufgefüttert worden – sogar Ihre Leuchtenberger Sage klingt an ähnliche an, die mir wohlbekannt sind von Kind auf. Und daher kommt es wohl auch, daß ich die Sage mehr liebe als die Geschichte.«

»Schade, schade!« rief er bedauernd. »Aber«, fuhr er eifrig fort, »Sie sind doch gewiß auch, wie Ihr Herr Vater, für familiengeschichtliche Forschung begeistert –?«

»Ich?« Sie blieb stehen. »Nicht so viel habe ich dafür übrig!« Sie schnippte mit den Fingern. »Aber mein guter Vater freut sich daran, und so soll es mir immer auch lieb sein.«

»Und was haben Sie denn eigentlich dagegen?«

»Ich behaupte, daß hier die Geschichte, oder besser gesagt, die sogenannte Geschichte nicht nur auf die Gegenwart drückt, sondern diese unter Umständen sogar totschlägt,« sagte sie traurig. »Mag ja sein, ich habe zu viel von dieser Kost genossen, und das ist mir übel bekommen. Als zwölfjähriges Mädel habe ich all die Jörge und Hänse und Fritze unseres erlauchten Stammbaumes auswendig gelernt und meinem Vater zu einer Überraschung an seinem Geburtstage aufgesagt. Es ist nicht der wertvollste geistige Besitz, den ich seitdem mit mir herumtrage. Und urteilen Sie selbst: Was nützt es mir, zu wissen, daß der Urgroßvater meines Urgroßvaters als Wachtmeister unter dem Großen Kurfürsten bei Fehrbellin gefallen 57 ist, daß mein Urgroßvater ein Rittergut erheiratet hatte, von dem uns heute kein Zaunpfahl mehr gehört, oder daß ihm – Gipfel der Familiengeschichte – einst Friedrich der Große den Krückstock unter die Nase gehalten und gesagt hat – wir wissen's wortwörtlich, wie einen Spruch aus der Bibel: Mach Er so weiter, ich bin zufrieden mit Ihm. ›Er‹ war nämlich auch Landrat. Aber ›Er‹ hat offenbar doch nicht so weitergemacht, denn sonst hätten wir das Rittergut noch.«

Jonas lachte. »Das sind doch immerhin ganz hübsche Familienerinnerungen, gnädiges Fräulein.«

»Erinnerungen, vielleicht nur zur Hälfte wahr und im ganzen keinen Schuß Pulver wert. Müssen wir denn immer mit solchen Erinnerungen, mit der ganzen Schleppe unserer Vorfahren einherwallen, ängstlich besorgt, daß uns niemand darauf tritt? Sie lachen? Ich meine jetzt natürlich nicht eine so ärmliche Väterreihe wie die unsrige, nein, sondern einen langmächtigen Kometenschweif, der mit Udalricus X. miles in einem Kloster-Walkenrieder Pergamentbrief melodisch ausklingt. Solche Schweifträger gibt's, und je windiger der Kern, desto länger der Schweif. Und da kommt man dann eines Vormittags zu Leuten, mit denen man von Kind auf gut bekannt, gleich zu gleich herzlich befreundet ist. Ahnungslos greift man nach einem dicken, wappengeschmückten Quartanten auf dem Salontische. ›Unsere Familiengeschichte‹, heißt es dann beiläufig; ›– – erst vor ein paar Tagen aus der Presse gekommen.‹ Andächtig beginnt man zu blättern und liest: Geboren, vermählt, geschieden, wiedervermählt, gestorben, erstochen, erschossen, erschlagen, begraben. Hat ererbt, vererbt, gekauft, erheiratet, verkauft, gewonnen, verloren. Und derweil sitzen Mutter und Töchter um uns herum und beobachten verstohlen die Wirkung all der erschütternden Tatsachen auf unser Gemüt. Und sieht man zu, so hat jedes von ihnen den Kometenschweif seiner Vorfahren über die Stuhllehne 58 gelegt, und sieht man noch näher zu, so reicht dieser zurück bis ins Kloster Walkenried auf Udalricus X. miles

»Sie urteilen vielleicht doch zu bitter, gnädiges Fräulein,« lachte er.

»Wenn dann nur auch wirklich Familiengeschichte in solchen Büchern zu lesen wäre!« fuhr sie fort. »Aber bewahre! Ist einer von ihnen gehenkt worden, das lassen sie beileibe nicht drucken. Höchstens wenn einer von ihren Vorfahren verschwendet hat, das kreiden sie an. Denn diese Todsünde verzeihen die Enkel dem Ahnen gar nie. Und sehen Sie, deshalb hasse ich alle die glanzgebügelten Familiengeschichten.«

»Kennen Sie die Narrenburg von Adalbert Stifter?« fragte er.

»Gewiß.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, dann wäre in diesem Roman Ihr Ideal einer Familiengeschichte gezeichnet?«

»Ums Himmelswillen!« rief sie mit komischem Entsetzen. »Dort war doch, wenn ich mich recht entsinne, durch Jahrhunderte hindurch ein jeder verpflichtet, bis zu seinem Tode an seinen Memoiren zu schreiben und alles so getreulich darzustellen, als müßte er einen leiblichen Eid darauf ablegen?«

Er nickte. »Und jeder Nachkomme war bei schwerem Vermögensverluste gebunden, alles zu lesen, was seine Vorfahren geschrieben hatten, und dann sogleich mit seiner eigenen Lebensbeschreibung zu beginnen.«

»Eine wundervolle Satire auf alle Geschichtsforschung«, sagte Liselore. »Eine Narrenburg, wie schon der Name besagt.«

»Ich weiß nicht, ob Stifter eine Satire schreiben wollte,« entgegnete Jonas. »Aber Scherz beiseite, Familienbewußtsein wurzelt eben doch in der Familiengeschichte, ist ohne solche nicht möglich, und wenn diese auch nur auf den Großvater zurückreichte. Und wer sich seiner Familie bewußt ist, wer 59 seine Art als einen Besitz, ererbt von den Vätern, anzusehen gewohnt ist, der wird auch vor allem auf die Erhaltung seiner Rasse bedacht sein – was in unserer Zeit besonders nottut.«

»Wäre darin vollkommen mit Ihnen einverstanden«, rief sie heftig. »Aber steht es denn bei allen, die Familienbewußtsein vorgeben, in Wirklichkeit so? Dieselben, die zum Beispiel einer mit Glücksgütern nicht besonders gesegneten Bürgerlichen gegenüber ihr Familienbewußtsein in allen Farben des Regenbogens spielen lassen und unter Berufung auf vergilbte Familiengesetze kaltblütig ein Liebesglück zerstören, – dieselben sind imstande, sich in den Staub zu verneigen vor den Millionen eines Börsenjobbers und drücken zwei Augen zu, wenn etwa ein Nachgeborener so ein zweifelhaftes Reis auf seinen ehrwürdigen Stamm pfropft, – – bringt es doch brav goldene Äpfel herein!«

»In diesem Falle ist eben, scheint mir, tatsächlich ein Familiengesetz an dem bedauerlichen Unglück Schuld gewesen,« sagte er lachend.

»In diesem Falle?« Sie hatte sich auf die Lippe gebissen. Und hastig fügte sie hinzu: »Ich habe ja doch nur beispielsweise gesprochen. Im übrigen, müssen Sie wissen, das Thema Familiengeschichte macht mir immer ganz heiß.«

»Um Vergebung, dann hätte ich es nicht anschneiden dürfen, gnädiges Fräulein.«

»Haben Sie das? Ach, dafür können doch Sie nichts. Der Gesprächstoff liegt in der Luft, wenn man mit Major Titus zusammentrifft,« sagte sie wieder ganz leichthin.


»Wie heißt der Herr mit dem Schimmeltier?« fragte der Assessor den Rechtsanwalt aus Weiden, der sich soeben zur Abreise rüstete.

»Das ist der Eisenhut vulgo Penelope genannt. Ich hab' ihn gleich kennt. Ich hab' ihn nur auf'zogen mit seiner 60 Sprach. In seiner Vaterstadt kriegt nämlich jeder, der ein bissel was ist, beizeiten seinen Spitznamen. Und der Eisenhut heißt also Penelope. No, Sie sind ja auch auf dem Gymnasi gesessen. Da haben S' gewiß von dem griechischen Weibsbild gehört, das in der Nacht immer wieder seine ganze Weberei aufgetrennt hat. Und sehen S', akrat so macht's der Eisenhut auch, sagt man ihm nach. Seit zwölf Jahren oder mehr schreibt er an einer grausam gelehrten Doktorarbeit und wird halt nie nit fertig damit. Und deswegen haben s' ihm den Namen Penelope auf'bracht, die bösen Leut! No, jeder soll leben, wie's ihn freut. Nötig hätt' er's aber nit, daß er so schafft. Denn sein Vater, sein Großvater und schon sein Urgroßvater, wenn mir recht ist, haben doch die große Lederhandlung Eisenhut gehabt.«

»Lederhandlung Eisenhut – Eisenhandlung Lederhut?« witzelte der Assessor.

»Auf'geben hat das Geschäft schon der Vater Eisenhut«, schloß der Anwalt. »Und das viele Geld stammt daher. Und was der Jonas Eisenhut selber ist, so schreibt er sich einen Privatgelehrten oder so ähnlich. Mir kann's recht sein. – Aber jetzt leben S' recht wohl bis zum nächsten Termin.« 61

 


 


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