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Der alte Christian Mühe sah seinen Besuch mit leeren, verwunderten Augen und zitternden Lippen an, und die Dame, die ihm gegenüberstand, beobachtete ihn mit großer Besorgnis, eine klare Antwort auf ihre Frage zu erhalten, und zugleich mit großem Mitleid, da der alte Mann gar zu kindisch geworden.
Frau Grau war allein in das Häuschen gegangen, sie hatte Malchen sogar den beabsichtigten Besuch bei dem alten Christian verschwiegen, und sie zu einem Streifzuge in das herbstlich bunte Land beredet, das Malchen besonders erfreute.
Durch Malchens Freigebigkeit war der alte Mann in seinem Häuschen von allem Behagen und gar Luxus umgeben, während sein Garten von einem kräftigen Jüngling aus dem Dorfe, der auch auf dem herrschaftlichen Besitz angestellt war, gepflegt wurde. Der gute Junge legte einen besonderen Stolz an den Tag, Christians Flecken Erde so vollkommen zu gestalten, daß selbst das strenge Auge des Obergärtners befriedigt sein würde. Christian verbrachte seine Tage bei schönem Wetter vor dem Hauseingang, wenn es regnete vor seinem Fenster, und betrachtete seinen Garten mit aufmerksamen, bewundernden Blicken, kicherte glückselig über dessen Vorzüge im Vergleich zu anderen Gärten und sprach darüber entweder mit sich selbst oder mit irgend einem Nachbar, der ihn besuchte, mit dem Frohsinn eines Kindes, das seines Spielzeuges niemals überdrüssig wird.
Doch die Dame, die an diesem Nachmittag anfangs Oktober neben ihm saß, lenkte die Unterhaltung von dem Garten allmählich ab und stellte ihm Fragen, die seinen Geist in eine Vergangenheit zurückführen, deren Bilder verworren und verwischt waren und deren Ereignisse in einer unbeschreiblichen Verwirrung zusammenliefen.
»Und können Sie mir nicht sagen,« fragte Frau Grau geduldig wohl zum fünften Mal, »wer das eigentlich war, der Ihnen Ihre hübsche Johanna fortnahm? Erinnern Sie sich nicht seines Namens?«
»Ja, ja, ich weiß seinen Namen ganz gut, – er hieß Georg, Georg hieß er, und er war ein schlechter, sehr schlechter Mensch, weil er einem armen Kerl das Liebste stahl.«
»Also Georg hieß er? Georg, wie? Können Sie mir nicht sagen, wie er weiter hieß?«
Ein schlauer, listig« Blick trat plötzlich in Christians welke Augen.
»Ja, ja,« murmelte er mit greisenhaftem Lächeln, »ich kenne schon seinen anderen Namen, aber den sagt man nicht, den sagt man nicht. Christian schwatzt nicht aus der Schule.« Sein grauer Kopf wackelte, und er rieb sich die Hände, als ob einen sehr guten Witz gemacht habe.
Frau Grau sprach sanfter, aber fester und eindringlicher auf ihn ein und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Hören Sie mich einmal an, Vater Christian! Wenn Sie mir den Familiennamen von dem Herrn Georg nennen, so ist das gar nicht aus der Schule geschwatzt. Ich möchte ihn aus sehr guten Gründen wissen, weil ich damit einem anderen Mädchen helfen kann, das ebenso hübsch und jung und lieb ist, wie Ihre Johanna gewesen.«
Ihre Stimme oder ihre Worte erregten seine besondere Aufmerksamkeit, der leere Blick aus seinen Augen verschwand auf einige Minuten.
»Ich soll Ihnen Herrn Georgs Namen nennen? Würde das aber auch meinem Mädchen nicht schaden?« fragte mißtrauisch. »Oder Herrn Georg vielleicht? Ich habe das die ganzen Jahre geheim gehalten, und es soll ihnen doch jetzt kein Leid geschehen.«
»Wenn Sie jetzt sprechen, erleidet niemand dadurch Schaden,« sagte Frau Grau, gerührt durch des Alten Furcht, den Beiden wehe zu tun, die nun schon so manchen Tag auf dem Friedhof lagen. »Ich will damit nur einem Mädchen helfen, das ich sehr, sehr lieb habe, und das, wie ich glaube, mit Ihrer lieben Johanna und vielleicht auch mit Herrn Georg verwandt ist.
Christian betrachtete die Fragende genau.
Es kam Frau Grau vor, als ob seine Augen ganz klar geworden waren.
»Na – denn,« sagte der Alte im Flüsterton und nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte, ob nicht etwa ein Lauscher da wäre – »mein Mädchen ging mit Herrn Georg – des Gutsherrn eigenem Bruder – mit Georg Haller – fort – Haller, das war sein anderer Name, wie der Schloßherr hieß – Haller.«
Frau Grau unterdrückte einen Ruf des Erstaunens und sagte so ruhig, wie nur eben möglich:
»Und als Herr Georg Haller Johanna mitnahm – hat er sie dann geheiratet?«
»Niemand weiß darüber was,« sagte er mit demselben listigen Blick wie zuvor und berührte ihre Hand mit seinen rheumatischen Fingern. »Die einen sagen das, die andern das. Ich weiß aber die Wahrheit, sie ist auf den Papieren niedergeschrieben ...
Auf den Papieren, die Johanna mitbrachte, als sie mit ihrem Mann und ihrem kleinen Mädchen zurückkam – sie kam mit den Beiden ins Dorf zurück. Er war ein sehr ordentlicher Arbeiter, und Johanna hatte auch ein kleines Mädchen. Ich weiß aber, was in den Papieren steht.« Der listige Zug trat noch deutlicher hervor: er lachte leise vor sich hin.
»Wo sind denn die Papiere?«
»Johanna« – er lachte noch vergnügter – »sie hat die Papiere behalten bis dicht vor ihrem Tod, und sie starb, als ihr kleines Mädchen schon erwachsen war und verheiratet – sie heiratete meinen Vetter Fritz Mühe, ja, Johannes Mädchen heiratete den. Und als Johanna starb, ließ sie mich holen ...
Ja, sie ließ mich holen, das tat Johanna: sie kam zu ihrer alten Liebe zurück, kann man sagen, auf dem Totenbette, und da gab sie mir ein Kuvert mit den Papieren darin.«
»Sie gab Ihnen die Papiere?« Frau Grau unterbrach in ihrer Aufregung sein langsames Sprechen.
»Ja, sie gab mir die Papiere.«
»Und was machten Sie damit.« Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, und dabei fürchtete sie jeden Augenblick, daß der Verstand des Alten, der plötzlich so hell geworden, doch wieder in die Irre gehen könnte.
»Was ich damit tat? Na, natürlich, was mich Johanna gebeten hat, damit zu tun. Johanna sagte: »Behalte die Papiere ein bißchen, und dann schicke sie dem Herrn aufs Schloß. Möglich, daß der Herr Unrecht wieder gut machen will: das Kind ist seines Bruders Kind.« Das hat mir Johanna gesagt, und ich bewahrte das Kuvert, jahrelang bewahrte ich es und wußte immer nicht den richtigen Augenblick, wann ich es dem Herrn schicken sollte. Und dann hörte ich eines Tages, er würde bald abziehen, und da ging ich hinauf aufs Schloß und ließ die Papiere dort und dachte an Johannas Tochter und was mir Johanna gesagt hat, vom Unrecht wieder recht machen.«
Frau Graus Gedanken flogen über die vergangenen Jahre zurück. Wenn die Geschichte, die sie soeben gehört hatte, der Wahrheit entsprach, dann – dann war Malchen die Enkelin von der Johanna des alten Christian, die Großnichte von Gottfried Haller, und in diesem Fall ließ sich das Testament leicht erklären. Weshalb nur, so grübelte sie weiter, hatte Gottfried Haller in diesem Testament die Verwandtschaft gar nicht angedeutet und auch nicht den leisesten Wink dafür gegeben, daß er sein Geld seinem Patenkind Miranda Mühe aus einem viel wichtigeren Grund vermachte als einer bloßen Laune wegen? Während diese Fragen noch ihren Kopf durchschwirrten, wandte sie sich wieder Christian zu, aber sie sah sofort, daß weitere Fragen keinen Zweck mehr hatten, denn er war in sich zusammengesunken, blickte ins Leere und murmelte träumerisch vor sich hin.
»Meine Johanna – es gibt kein Mädchen, das mit ihr zu vergleichen ist. Augen hatte sie wie Goldlack im Frühling, immer glänzend, und ihr Haar – rot, wie das Gold im Schein. Johanna hat auch viel von meinem Garten gehalten,« fuhr er fort, und seine Augen richteten sich auf die Sonnenblumen, die groß und stattlich dastanden, »sie und ich, wir wären in diesem Garten hier glücklich gewesen, wenn sie nicht mit Herrn Georg davonging.«
Sein Geist war wieder in seine eigene Vergangenheit zurückgewandert.
Nach einigen Worten der Bewunderung über seine Sonnenblumen und Georginen und vor allem über seine Dahlien am Gitter, verließ Frau Grau das Häuschen und kehrte langsam ins Herrenhaus zurück. Sie ließ alles Gehörte noch einmal an sich vorüberziehen und überlegte nun, was sie zunächst zu tun hatte.
Sie entschloß sich zu einem Brief an Malchens Anwalt, schrieb Herrn Brand noch an demselben Abend, und ihr Brief hatte den unerwarteten Erfolg, Herrn Brand schon am nächsten Tag in größer Aufregung im Herrenhaus eintreffen zu sehen.
Frau Grau hatte inzwischen Malchen von ihrem Besuch bei Christian und der Kunde erzählt, die sie ihm herausgelockt, und die Erbin interessierte sich natürlich aufs lebhafteste dafür.
»Wenn ich wirklich mit Gottfried Haller verwandt wäre, so würde dadurch mein Recht auf sein Erbe bessere Begründung finden,« sagte sie schlicht. »Ich habe sehr häufig die Empfindung gehabt, Herrn – Herrn Darberg ein großes Unrecht zuzufügen, indem ich ihm sein Geld vorenthielt. Aber wie gesagt, wenn meine Großmutter die Frau von Georg Haller war, so läßt sich gegen meinen Besitz gar nichts mehr einwenden.«
»Gar nichts mehr einwenden, mein gnädiges Fräulein«, entgegnete Anwalt Brand und rieb sich vergnügt die Hände. »Ich bin überzeugt, daß der alte Mühe die Wahrheit erzählt hat, denn so exzentrisch mein verstorbener Klient Gottfried Haller auch gewesen ist, er war zugleich ein sehr kluger Mann und hat es deshalb vorgezogen, eine Erbin einzusetzen, die er als berechtigt anerkannte, als sei Geld in fremde Hände gelangen zu lassen. Wir werden übrigens Näheres erfahren können, wenn wir mit dem Notar reden, der sein zweites Testament beglaubigt hat. Er wird sich vielleicht einiger Umstände erinnern, die auf unsere Entdeckung Licht werfen.«
Der Notar, den Haller bei Abfassung des Testaments zu Rate gezogen, war ein gewisser Herr Dorting, ein kleiner schmächtiger Herr, der in der Singenburg nächstgelegenen Kreisstadt seinen Wohnsitz hatte und, wie Brand richtig vermutete, einige Auskünfte erteilen konnte.
Man erbat seinen Besuch im Herrenhaus und erklärte auf Befragen, daß er das Testament abgefaßt, erinnerte aber auch seinen Kollegen Brand daran, daß er ihm bereits bei dem Tode Hallers mitgeteilt, daß ihm Haller Gründe für die Abänderung seiner früheren letztwilligen Verfügung nicht angegeben habe.
Herr Brand gab das zu und sagte dann:
»Hat Herr Haller Ihnen denn keine Andeutung darüber gemacht, wichtige Mitteilungen empfangen zu haben? Sagte er Ihnen nicht etwa, wie sehr ihm daran gelegen sei, ein altes Unrecht wieder gut zu machen?«
»Das gerade nicht,« lautete die Antwort. »Herr Haller hat mir auch nicht direkt den Grund für seine Sinnesänderung gesagt, sondern ließ nur leise durchblicken, daß ihm Herr Darberg großen Verdruß durch sein beharrliches Verlangen bereitet habe, eine junge Dame zu heiraten, welche Verbindung Herr Haller entschieden mißbilligte.«
»Stella«, flüsterte Malchen.
»Und«, fuhr Dorting fort, »er sagte mir, eine Erbin gefunden zu haben, die den Kern zu einem großen Charakter in sich trage. Ich kann mich dieser Worte genau erinnern, denn sie machten damals Eindruck auf mich. Den Kern zu einem großen Charakter sagte er.«
»Haben Sie nach der Testamentsangelegenheit noch weiter mit Haller zu tun gehabt?«
»Ich habe ihn noch einmal gesprochen, das war wenige Tage vor seinem Tode. Sein Ende rückte ziemlich plötzlich heran, und ehe es eintrat, ließ er mich rufen. Er gab mir einen Brief mit der Weisung, ihn erst in sechs Monaten nach seinem Tode an die Adresse zu befördern, und dann fing er an abgerissen und verworren von gewissen Papieren zu sprechen, ich glaube, er wollte versuchen, mir den Aufbewahrungsort der Schriftstücke zu bezeichnen, aber was er sagte, war ganz unverständlich, und er erholte sich auch nicht mehr wieder, um mir oder anderen klarere Weisungen geben zu können. Das ist alles, was ich weiß.«
»Und der Brief?« fragte Brand neugierig. »An wen war der Brief adressiert?«
Der Notar besann sich einen Augenblick.
»An eine Frau Bendler, und ich habe ihn auch pünktlich nach Vorschrift befördert. Ich erinnere mich jetzt auch der Adresse: Frau Marie Bendler, geb. Nobel, Stadtlerstraße 54.«