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Fräulein Stella Bendler befand sich mit ihrer Mutter allein in dem kleinen Zimmer, das dieser als Salon diente, und Frau Bendler hatte das halbe Stündchen nach der Mittagsmahlzeit als geeignet befunden, ihrer Tochter von ihrem Vorhaben Mitteilung zu machen.
Sie ruhte in ihrem Lehnsessel, und Stella lag zuerst in einer der ihr eigenen anmutigen Stellungen auf einem kleinen Divan. Aber als Frau Bendler auf den Höhepunkt ihrer Erzählung gelangt war, und erklärte, Fräulein Mühe ins Haus nehmen zu wollen, und die finanzielle Frage unwiderruflich erledigt zu haben, schnellte das junge Mädchen plötzlich in die Höhe, seine Wangen und Augen glühten.
»Du kannst dieses Geschöpf nicht hernehmen, Mutter,« rief sie, und ihre sonst so sanfte Stimme klang laut und schrill. »Denke Dir doch, ein Dienstmädchen bei uns als Unseresgleichen! Es ist ganz unmöglich!«
Frau Bendler sah ihre Tochter an, bei deren unerwartetem und unvorhergesehenem Widerspruch ihr einen Augenblick die Worte fehlten. Dann sagte sie nach einer kleinen Weile ruhig:
»Unmöglich? Meine liebe Stella, du vergißt dich!«
»Mir scheint es allerdings unmöglich, und weshalb sollten wir denn solch ein Mädchen in unserem Haus aufnehmen? Was geht es uns an, ob es lernt, wie eine Dame aufzutreten oder nicht? Ich bin überzeugt, Arthur wird dein Vorgehen nicht billigen.«
Frau Bendler kniff den Mund zusammen. An Widerspruch war sie nicht gewöhnt, am wenigsten von seiten Stellas, und sie hegte nicht die geringste Neigung, ihrer Tochter eine Kritik ihrer Handlungen zu gestatten.
»Arthurs Zustimmung ist für mich ganz ohne Belang. Ich bin im höchsten Grad überrascht, dich in dieser Weise sprechen zu hören.«
Bis jetzt hatte die kalte Ruhe ihrer Mutter eine Wirkung auf sie nie verfehlt, wenn bei den äußerst seltenen Anlässen einer Meinungsverschiedenheit Frau Bendler diese Haltung annahm; jetzt befand sich Stella aber in einer so ungewöhnlichen Aufregung, daß sie sich nicht so leicht zum Schweigen bringen ließ.
»Und ich bin noch mehr überrascht, daß du daran denken kannst, die ungebildete Magd einer Zimmervermieterin in unser Haus einzuladen! Weshalb soll ich mich mit einem solchen Mädchen abgeben? Du kannst es doch nicht mit mir zusammen irgendwo hinführen! Es wird uns niemand mehr auffordern, wenn du die Magd betreust!«
Frau Bendler wurde bei jedem Wort kühler und strenger.
»Man überlegt es sich nicht lange, die Besitzerin von zwei Millionen Mark aufzufordern,« sagte sie eisig, »selbst wenn diese zufällig von niedriger Herkunft ist. Verstehe mich ein für allemal richtig, ich dulde keine Ungehörigkeit gegen das Mädchen. Laß mich nicht wieder hören, daß du dich mit Miranda Mühe nicht abgeben kannst und dich weigerst, mit ihr zusammen auszugehen! Wenn ich bereit bin, Fräulein Mühe als Anstandsdame zu dienen, so ist es meinerseits nicht zu viel von dir verlangt, daß du liebenswürdig gegen sie bist, und das fordere ich von dir!«
Stella verließ den Divan und ging in dem kleinen Zimmer heftig und händeringend auf und ab. Ihre Lippen bebten wie bei einem unartigen Kind, und ihre großen Augen schwammen in Tränen.
Ihre Mutter saß ganz ruhig und beobachtete sie mit vergnügtem Lächeln. Niemand wußte besser als sie, daß des Mädchens Widerstand, so zornig und scheinbar entschieden es auch war, gar bald vorüberging, weil sein schwacher Charakter sich von einem stärkeren unbedingt beherrschen lassen mußte.
»Es ist zu arg, wirklich zu arg, und zu gräßlich, daß ich liebenswürdig gegen ein Mädchen sein soll, das in einem greulichen Mietshaus die niedrigsten Dienste verrichtet hat. Es ist rücksichtslos gegen mich!«
»Du redest töricht und in den Tag hinein! Ich habe meine guten Gründe für mein Tun. Glaubst du denn wirklich, daß ich ohne diese mich solchen schwierigen und unangenehmen Aufgaben unterziehen würde?«
Stella unterbrach ihr stürmisches Hin- und Herrennen und blieb neben dem Sessel ihrer Mutter stehen. Die letzten Worte hatten ihren Eindruck gemacht, sie blickte fragend in das unbewegliche Gesicht vor ihr.
»Weshalb willst du es denn tun?«
»Es wäre vernünftiger von dir gewesen, diese Frage zuerst an mich zu richten, statt dich aufs hohe Pferd zu setzen und albern zu reden. Glaubst du wirklich, daß ich das Abkommen aus Vergnügen getroffen habe?«
Stellas hübsches Gesicht senkte sich; es wurde rot.
»Im allgemeinen hast du ja Vertrauen zu meinen Gründen,« fuhr Frau Bendler sanfter fort, »und deshalb dachte ich, daß du auch in diesem Fall von vornherein überzeugt sein müßtest, daß ich richtig handle.«
Stella blickte ihre Mutter zweifelnd an. Noch blieb ein rebellischer Ausdruck in ihren Augen, aber die lange Gewohnheit des Gehorsams und der Nachgiebigkeit gegen die Ansichten ihrer Mutter erfüllten sie plötzlich mit einem Gefühl der Scham, sich gegen eine mütterliche Meinung empört zu haben. Der kalte, klare Blick von Frau Bendler hatte den üblichen Erfolg, Stella von der eigenen Unbedeutendheit und kindlichen Torheit zu überzeugen.
»Ja – ich bedauere,« stotterte sie, »aber – ich möchte –«
Sie zögerte, und die Mutter vollendete den Satz:
»Du möchtest, Fräulein Mühe käme nicht zu uns? Ja, mein liebes Kind, in gewisser Beziehung ist das auch mein Wunsch. Sie ist unerzogen und ungebildet, ein vollkommenes Kind aus dem Volke, und ich werde zweifellos schwere Arbeit mit ihr haben. Anderseits wird sie wahrscheinlich wegen ihres ungewöhnlichen Glückes großes Aufsehen und Sensation in der Gesellschaft machen, sodaß ich gerade gern diejenige bin, die die Erbin einführt. Außerdem hat deine Mutter die praktische Seite ins Auge zu fassen, mein liebes Kind.«
Frau Bendlers Stimme wurde weich, wie sie das nur allein zu tun verstand. Dann berührte sie Stellas Hand und streichelte sie. Ihre Augen verloren plötzlich jede Härte und blickten fast rührend in das beschämte Gesicht der Tochter.
»Die praktische Seite,« stammelte das Mädchen. »Ich weiß natürlich, daß wir nicht reich sind, Mutter – aber wir brauchen uns doch nicht für arm zu halten?«
Frau Bendler liebkoste die Hand, die sie hielt, und lächelte traurig.
»Wir sind nicht nur im Vergleich zu Miranda Mühe arm, sondern auch zu Leuten, denen es einigermaßen gut geht, meine Liebe. Ich habe es stets versucht« – ein sehr wirksamer Seufzer – »dein frohes junges Leben nicht dadurch zu trüben, daß ich mit dir von meinen schweren Sorgen sprach. Aber ich will dir jetzt sagen, es war recht oft ein hartes Stück Arbeit, mich durchzubeißen.«
Stellas Mutter hielt es selbst jetzt nicht für angebracht, ihrer Tochter gegenüber die schwere Schuldenlast zu erwähnen, die neben ihren täglichen Ausgaben über ihr schwebte.
»Liebe gute Mutter,« sagte das Mädchen und bückte sich schnell, um die sorgenvolle Stirn zu küssen. »Ich wußte das nicht – ich habe es nicht geahnt, daß du solche Schwierigkeiten und Sorgen hattest. Wird das durch Fräulein Mühe besser werden? Wird sie dir helfen?«
Ein mildes Lächeln flog über Frau Bendlers Gesicht.
»Allerdings, sehr viel besser. Sie wird mir eine ganz wesentliche materielle Stütze sein. Sie sowohl wie Herr Anwalt Brand bestanden darauf, daß ich einen namhaften Betrag für ihren Aufenthalt bei uns annehme – und in unseren Verhältnissen blieb mir keine andere Wahl als –«
»Du nimmst Geld von ihr?« Stella trat von ihrer Mutter mit einer scharfen, zornigen Bewegung wieder zurück. Der ganze mütterliche Einfluß hatte doch nicht genügt, um den von ihrem Vater ererbten vornehmen Charakter völlig zu verwischen. »Du läßt dich von ihr bezahlen?« Der verächtliche Ton in der jugendlichen Stimme hätte jede andere Frau zusammenzucken lassen. Frau Bendler war aber viel zu unempfindlich, um sich aus der Fassung bringen zu lassen.
»Ich muß dir noch einmal wiederholen, Stella,« sagte sie streng, »dich nicht aufs hohe Roß zu setzen und dich lächerlich zu machen. Ich hatte gehofft, dich gelehrt zu haben, nicht zu übertreiben und überschwenglich zu sein und keine albernen Anschauungen zu hegen. Meine Gründe, das Mädchen zu uns zu nehmen, hatten mit der Frage der Bezahlung gar nichts zu tun. Ich halte es für unnötig, mich auf Erklärungen einzulassen, welche Vorteile ich von dem Verweilen Mirandas bei uns verspreche. Es muß dir genügen, daß ich das für vorteilhaft halte. Die finanzielle Seite, mich für die zu übernehmende schwere Pflicht zu entschädigen, ist bereits zwischen ihrem Anwalt und mir erledigt.«
»Du nimmst also Geld von ihr?«
»Ich habe es weder Miranda noch Herrn Brand angedeutet,« lautete die kühle Erwiderung. »Ich habe sie nur als Gast aufgefordert. Doch Herr Brand bestand darauf, daß ich einen angemessenen Betrag für ihren Unterhalt empfangen müsse, und sie selbst besaß trotz ihrer Herkunft das Taktgefühl, meine Gastfreundschaft nicht ohne Entgelt annehmen zu wollen.«
»Das war ganz nett von ihr,« gab Stella zu, aber ihre Stirn blieb noch gerunzelt, und sie hielt sich noch der mütterlichen Liebkosung fern.
»Es bewies mir, welch richtiges Gefühl sie hat, was sich von ihr kaum erwarten ließ,« sagte Frau Bendler schnell, »und das Wenigste, was ich tun konnte, war, dieses Gefühl nicht zu verletzen.«
Sie schwenkte die Hand mit ausdrucksvoller Gebärde und erhob sich.
»Unsere Unterredung betrachte ich als beendet, und es tut mir leid, daß du nicht mit mir übereinstimmst. Ich beabsichtige trotzdem nicht, meine Vereinbarung aufzuheben, um deinen romantischen Ideen zu genügen. Wir können von Romantik nicht leben, sondern wir brauchen Brot und Butter. Miranda Mühe wird uns für die nächsten zwei Monate damit versorgen.«
Mit dieser energischen Erklärung balanzierte Frau Bendler graziös durch das Zimmer an ihren Schreibtisch und zeigte keine weitere Spur von Aerger als durch das etwas laute Aufklappen ihres Tintenfasses.
Stella, die ihre Niederlage erfaßte und die Zwecklosigkeit, ihrer Mutter noch länger zu widersprechen, einsah, schlich sich leise aus dem Zimmer. Sie trug das unausgesprochene Verlangen, daß ihre Mutter wenigstens die letzten Worte nicht gesagt haben möchte. Denn trotz ihres unbeschränkten Vertrauens und ihrer Bewunderung hatte sie die ungewisse Empfindung von einer unfeinen, sogar niedrigen Denkungsart ihrer Mutter.
Allein gelassen, legte Frau Bendler die schon in die Hand genommene Feder wieder hin und blickte lange und gespannt durch das Zimmer, ohne von den Gegenständen vor ihr etwas zu sehen. Sie sah überhaupt nichts als wirre Träume zukünftiger Möglichkeiten, die sich aus den Plänen entwickelten, an denen ihr Herz hing. Die düsteren Mienen hatten sich geklärt, und ein rätselhaftes Lächeln verschönte ihr Gesicht.
»Ich bin nicht auf den Kopf gefallen,« sagte sie sich, »und werde sicherlich imstande sein, das eine oder das andere zu erreichen. Es gehört dazu noch nicht einmal viel Klugheit.«
*
Die Tage, die zwischen Frau Bendlers Besuch bei Miranda und deren Einzug in die elegante Stadtlerstraße lagen, waren für die beiden eine geschäftige Zeit. Die unermüdliche Frau Bendler führte Miranda zu einer tüchtigen Schneiderin und ersuchte sie, das junge Mädchen mit entsprechenden und passenden Gewändern zu versorgen. Die Schneiderin, die ein wirklich künstlerisches Auge und eine reiche Phantasie besaß, widmete sich dieser Aufgabe mit regem Interesse und nicht erschlaffender Tatkraft. Die Ergebnisse überstiegen dann auch die kühnsten Erwartungen von Frau Bendler. Miranda sah in den einfachen, aber gut geschnittenen Kleidern, die ihr Madame Laura anfertigte, wie umgewandelt aus, und zur höchsten Freude von Madame Laura schien ihre junge Kundin die Grundzüge guten Geschmackes zu besitzen, die sie für die Folge befähigten, das für sich zu wählen, was ihr am besten stand.
»Wenn Sie auf meinen Rat hören wollen, gnädiges Fräulein,« sagte Madame Laura bei der letzten Anprobe, »so müssen Sie auf die Farben stets den größten Wert legen; sie sind die Hauptsache für Sie,« und dabei nickte sie der aufmerksamen Zuhörerin freundlich zu. Miranda erschien es eine Quelle nie endender Verwunderung, daß diese große Dame in dem weichen Seidenkleid sie »gnädiges Fräulein« anredete; natürlich war das eine Folge der außerordentlichen Veränderung ihrer Lebenslage, doch jeder neue Hinweis auf diese Veränderung erfüllte sie immer wieder mit Erstaunen.
»Auf Farben?« fragte sie: »Ich habe bisher meistens Scharlachrot getragen.«
Ein amüsiertes, aber freundliches Lächeln glitt über das bleiche Gesicht von Madame Laura, und ihre dunklen Augen glänzten lustig.
»Sie dürfen niemals Scharlachrot tragen, gnädiges Fräulein,« sagte sie mit der Bestimmtheit, die sie bei ihrer Kundschaft so beliebt machte. »Das ist für Damen mit Ihrem herrlichen kastanienbraunen Haar eine schlechte Farbe.«
»Ach Himmel! Sie nennen mein Haar kastanienbraun? Es ist doch schon eher rot?! In unserer Straße nannte man mich rote Rübe.«
»Ihr Haar hat eine wunderhübsche Farbe, mag man sie nun nennen wie man will, und wenn ich mir das zu sagen gestatten darf, gnädiges Fräulein, so müssen Sie stets darauf und auf Ihre Augen Rücksicht nehmen, wenn Sie sich neuen Kleiderstoff aussuchen.«
»Meine Augen?« Miranda machte sie weit auf. »Weshalb soll ich denn auch an meine Augen denken?«
»Ihre Kleider müssen immer mit ihnen übereinstimmen oder einen Gegensatz in der Farbe haben. Sie sehen in Hellbraun mit Orange oder gelber Schattierung reizend aus.«
»Ich – reizend?« Sie lachte eigentümlich; es klang fast rührend und sprach Madame Laura zu Herzen.
»Ja, gnädiges Fräulein, reizend. Wenn Sie erst gelernt haben, was alle Damen, wenn sie so jung wie Sie sind, lernen müssen, wie man Kleider geschmackvoll wählt, und wie man sie trägt, dann werden Sie sicher sehr reizend aussehen. Aber noch einmal, Sie dürfen nie Scharlach oder Rot tragen, nur Braun und Gelb, vor allem ganz Weiß und Blaßgelb, dann auch tiefes Schwarz. Wenn das gnädige Fräulein heiratet, hoffe ich, daß Sie mich an der Ausstattung mitarbeiten lassen.«
»Wenn ich heirate – o, das wird noch lange, lange dauern,« meinte die kleine Erbin, wobei sie abermals teils vergnügt, teils pathetisch lachte. »Wenn überhaupt jemand daran denkt, mich zu heiraten! Aber geschieht das doch, so lasse ich mir meine Kleider nur von Ihnen machen, das verspreche ich Ihnen bestimmt. Ich werde auch nicht mehr Scharlachrot tragen, wenn ich auch rote Rosen sehr gern habe.«
»Ihre Blumen müssen immer weiß oder blaßgrün und mauvefarben sein. Kommen Sie nur immer zu mir, wenn Sie einen Rat brauchen, ich gebe ihn Ihnen mit Vergnügen.«
Miranda warf ihrer neuen Freundin einen langen dankbaren Blick zu.
»Was ich tue, ist nicht leicht,« sagte sie und reichte der großen eleganten Frau die Hand. »Ich will aus mir eine Dame machen und weiß eigentlich noch kaum, wie ich damit beginnen soll.«
Madame Laura ergriff des Mädchens Hand und drückte sie herzlich.
»Sie haben den Anfang schon gefunden. Eine wirkliche Dame ist stets schlicht und natürlich, und wenn Sie damit den steten Gedanken an andere verbinden und weniger an sich selbst denken, haben Sie Ihr Ziel schon ganz nahe erreicht.«
»Es sind eine solche Menge kleiner Sachen zu lernen?« fragte sie.
»Ja, eine Menge Kleinigkeiten, aber Sie werden die schon bald lernen, glaube ich, und die großen Dinge bleiben doch die Hauptsache. Ein gutes, aufrichtiges Herz, ein reiner Sinn, schlicht in Wort und Tat, für andere leben, das sind die ausschlaggebenden Dinge und Eigenschaften, die zu einer wirklichen Dame gehören.«
*
Das blinde Ungefähr versetzt zuweilen dem unglücklichen Sterblichen einen ganz besonders fatalen Streich. So hatte sich Arthur Darberg gerade den Tag und genau die Stunde zu einem Besuch bei seiner Braut ausgewählt, in der Miranda Mühe ihren Einzug hielt. Er kam ganz unerwartet und, wie er Frau Bendler, die sich allein zu Hause befand, erklärte, mit dem Zweck, Theaterkarten zu bringen, die ihm für diesen Abend zugeschickt waren. Er wurde sehr traurig bei der Mitteilung, daß Stella heute abend Freundinnen zum Tee eingeladen hatte.
Sein Verdruß wäre nicht geringer geworden, hätte Frau Bendler Gelegenheit gefunden, ihm mitzuteilen, daß die Erbin des Hallerschen Vermögens jeden Augenblick hier im Hause erwartet wurde.
Es erschienen einige Damen und Herren zum Besuch, die sein Gespräch mit Frau Bendler unterbrachen, und so plauderte er mit den Leuten und blieb in der Hoffnung länger, Stella nach ihrer Heimkehr noch zu sehen.
Als es 5 Uhr geschlagen hatte, hörte Frau Bendler eine Droschke vor ihrer Tür vorfahren, und obgleich sich der Besuch in diesem Augenblick verabschiedete, blieb keine Zeit mehr übrig, um Arthur auf das Kommende vorzubereiten. Als die Freunde durch die Tür des Salons gingen, meldete das Zimmermädchen mit klarer Stimme: »Fräulein Miranda Mühe.«
Darberg wandte sich mit einem heftigen Ruck und sah sich nun dem Mädchen gegenüber, das er als Eindringling betrachtete.
Frau Bendler hatte ihm von ihrer Absicht, Miranda einzuladen, gesprochen, und obgleich er ebenso wie Stella dagegen eingenommen war, hatte er keinen Versuch gemacht, sie davon abzubringen, kannte er seine zukünftige Schwiegermutter in der Beziehung doch schon zu genau: einen Plan, den sie einmal gefaßt, führte sie auch stets aus. Er enthielt sich also jeder weiteren Aussprache über diesen leidigen Punkt, blieb aber dabei, es als etwas Furchtbares für seine schöne und geliebte Stella zu betrachten, mit einem Mädchen, wie Miranda Mühe, in stete Berührung gebracht zu werden, und daß er nun gerade anwesend sein mußte, als dieses Geschöpf, wie er Miranda verächtlich nannte, in das Haus eingeführt wurde, bereitete ihm großen Aerger.
Frau Bendler ging der Angemeldeten mit ausgestreckten Händen und einem herzlichen Lächeln der Bewillkommnung entgegen.
»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, Fräulein Mühe, Sie kommen gerade zur rechten Zeit zum Fünf-Uhr-Tee.«
Miranda war linkisch an der Tür stehen geblieben, die Augen vor Ueberraschung und Furcht weit geöffnet, denn sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen Raum gesehen, der diesem luxuriös ausgestatteten Salon gleichkam. Auch wie sie dem Zimmermädchen die Treppe hinauf hatte folgen müssen, ihre Anmeldung, ihre neue Kleidung, das waren alles Dinge, die ihre Unbeholfenheit vergrößerten.
Von Natur war sie keineswegs scheu: sie fühlte sich aber nicht sich selbst in dem weichen braunen Kostüm und der weißen Bluse. Es packte sie plötzlich der heiße Wunsch, nach der Georgstraße zurückzurennen und ihren Dienst bei Frau Mauring wieder anzutreten.
Indes fehlte es ihr auch nicht an Mut. Sie hatte ganz ehrlich und wahr gesprochen, als sie Herrn Brand erklärte, stets das durchzusetzen, was sie sich einmal vorgenommen, und da sie sich nun doch entschlossen, zu lernen, was zu einer feinen Dame gehörte, so wollte sie auch das mühsame Werk vollführen.
»Kommen Sie her, nehmen Sie Platz,« fuhr Frau Bendler fort und zog sie zu einem Stuhl. »Meine Tochter ist nicht zu Hause, wird aber gleich wieder kommen. Setzen Sie sich nur neben mich und lassen Sie mich Ihnen Herrn Arthur Darberg vorstellen.«
Miranda schreckte zusammen, als ob sie einen Schlag erhalten hätte: sie errötete bis in die Haarwurzeln hinein. Arthur, der ein gutes Herz besaß, bemerkte ihre Verlegenheit und hatte Mitleid mit ihr. Seinen eigenen Aerger vergessend, trat er vor und reichte ihr die Hand.
»Sehr erfreut,« sagte er.
Sie schüttelte derb seine Hand. »Wir sind ja beide Patenkinder von demselben Herrn, sind uns allerdings noch nie begegnet.«
Er sprach so freundlich, daß ihm Miranda, die für jede ihr erwiesene Güte sofort das richtige Verständnis hatte, dankbar war. Sie hob die hellbraunen Augen zu ihm auf und betrachtete ihn mit einem eigentümlich neugierigen Blick, der ihn an einen Hund erinnerte, den er einst sehr gern gehabt hatte. »Ich bedauere, daß der alte Herr sich gegen Sie so benommen hat,« sagte sie schlicht. »Ich nenne das ein schlechtes Spiel, das er mit Ihnen trieb.« In ihrem Unmut verringerte sich die Scheu, sie gab sich wieder ganz natürlich.
»Ja, ja,« entgegnete leichthin Darberg, der eine Erörterung der schwierigen Situation fürchtete. »Wir wollen uns jetzt damit nicht quälen und Herrn Haller nichts nachtragen. Er mag ja für sein Verhalten gute Gründe gehabt haben.«
»Vielleicht.« Miranda suchte in den Mienen des jungen Mannes zu lesen. »Aber deshalb brauchte er es doch nicht gerade so zu machen. Ich freue mich, Gelegenheit zu haben, Ihnen das zu sagen.«
Ihre Offenheit gefiel Arthur, sodaß seine Gesinnung gegen Miranda in den ersten Augenblicken der Bekanntschaft merklich zu ihren Gunsten sich wendete. Trotzdem ertappte er sich auf dem dringenden Wunsch, sie möchte nicht gerade auf der äußersten Ecke ihres Stuhles balancieren, sie möchte nicht jedesmal, wenn man an sie das Wort richtete, hörbar mit den Füßen scharren, und daß ihre Hände etwas weniger abgearbeitet und rot aussähen.
Nachdem er eine Zeitlang vergeblich auf Stella gewartet hatte, mußte er sich verabschieden.
»Natürlich hätte ich unter keinen Umständen dieses Mädchen heiraten können,« sagte er sich. »Sie besitzt unstreitig ihre guten Seiten, hinter ihren ehrlichen Augen steckt eine ehrliche Seele, aber, großer Gott, der alte Herr muß doch direkt toll gewesen sein, als er annahm, daß ich ein solches Wesen heiraten könnte!«
Als Miranda wieder allein war, bewegten sich ihre Gedanken in ganz anderer Richtung. Natürlich hatten sie zum Mittelpunkt den Mann, dessen Leben so eigenartig mit ihrem Glück in Beziehung gebracht war, doch ihre Ansichten über Darberg unterschieden sich wesentlich von seiner Meinung über sie. Wie von einem Mädchen ihres Standes und ihrer Erziehung nicht anders zu erwarten war, zog sie schon die einfache Tatsache an, daß er ein vornehmer Herr war. Sein ruhiges höfliches Benehmen wirkte auf sie wie eine Offenbarung. Es stach so unendlich von den Manieren der Leute ab, mit denen sie bisher in Berührung gekommen war. Mit Ausnahme von Herrn Brand, dessen Gespräche mit ihr einen rein geschäftlichen Charakter trugen, hatte sie noch in ihrem Leben mit keinem wirklichen Herrn gesprochen, denn die Mieter von Frau Mauring machten auf solche Bezeichnung keinen Anspruch.
Darbergs fein modulierte Stimme hatte den Ohren Mirandas deshalb besonders angenehm geklungen, sein hübsches, offenes Gesicht, die ehrlichen blauen Augen, der scharf geschnittene Mund weckten in ihr eine wohltuende Empfindung. Sie brachte sich sein Gesicht wieder vor Augen, als sie in dem ihr von Frau Bendler angewiesenen Zimmer allein stand, und dann lächelte sie und nickte ihrem Rotkopf im Spiegel ernst und nachdenklich zu.
»Ich mag ihn leiden,« sagte sie sich und ein Glanz von Befriedigung leuchtete in ihren Augen auf. »Er hat etwas im Gesicht, das man nicht bei allen Leuten trifft. Was er sagt, meint er auch, darauf möchte ich schwören, genau wie ich das meine, was ich sage.«
Währenddessen sah sie noch immer in den Spiegel, der über ihrem Toilettentisch hing, und da wich das Lächeln langsam aus ihren Mienen.
»Und er soll doch was von dem Geld haben,« sprach sie weiter zu sich selbst. »Aber die alte Dame kriegt nichts.« Sie lachte schon wieder. »Sie ist verschmitzt, doch Miranda Mühe ist auch nicht dumm, und das Geld soll nicht an Damen mit Katzenpfötchen und Klauen darunter kommen.« Sie setzte den kleinen braunen Hut ab und ließ die Finger durch das wirre Haar gleiten. »Kastanienbraun!« Mit einem spöttischen Blick auf ihr Spiegelbild. »Arme rote Rübe, du bist in der Welt gestiegen. Und ich kann ihn leiden – und wenn ich eine Dame werde – und wenn er mich leiden kann – vielleicht – vielleicht.«
Stella Bendler und Miranda Mühe standen sich auf dem Korridor gegenüber.
Nachdem Miranda ihre Sachen ausgepackt und ihr lockiges Haar wieder glatt gebürstet, hatte sie ihren Mut zusammengerafft, um den Rückweg in den Salon anzutreten. Gewiß, sie war von Natur nicht schüchtern, aber das neue Milieu und die verschiedenartigsten Empfindungen, die sie durchlebt, verwirrten sie. Sie hatte sich zu dem Aufräumen ihrer Kleider und anderer Gegenstände lange Zeit genommen, ehe sie die Tür zum Korridor öffnete. Und jetzt fand sie sich einer großen, anmutigen Erscheinung gegenüber, bei deren Anblick ihr unwillkürlich ein leiser Ruf der Ueberraschung entfuhr. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen durch ein Fenster des Ganges auf Stellas schlanke junge Gestalt und ließen ihr Haar wie golden glänzen. Stella trug ein weißes Kleid von weicher Seide, das in schönen Falten an ihr hinunterfloß. Als sie hörte, daß Mirandas Tür ging, blieb sie stehen und einen Augenblick sahen sich die beiden Mädchen schweigend an. In Stellas großen blauen Augen lag es, ohne geradezu unfreundlich zu sein, wie eine Frage, doch machte sie keine Anstalten, den Gast ihrer Mutter zu begrüßen.
Miranda war mit den Höflichkeitsformen der Gesellschaft zu wenig bekannt, um die Unterlassung zu bemerken, vielleicht ließ auch die reizende Erscheinung sie alles andere vergessen. Ohne Verlegenheit trat sie rasch auf Stella zu und sagte:
»Sie sind die Tochter? Ich bin Miranda Mühe, man nennt mich meistens Malchen.«
In ihrem offenen Lächeln lag etwas eigenartig Entwaffnendes und die aus ihren braunen Augen so deutlich leuchtende Bewunderung mußte auf Stellas Eitelkeit wirken. Sie reichte der Fremden die Hand.
»Ja, ich bin Stella Bendler – Fräulein Mühe. Es tut mir leid, daß ich nicht zu Hause war, als Sie kamen.«
»Das macht nichts,« entgegnete Miranda heiter. »Wir werden ja schon Gelegenheit haben, uns kennen zu lernen – wenn Sie nicht böse sind, daß ich hier bin?« setzte sie schlau hinzu und richtete ihre scharfen Blicke auf das liebliche Gesicht, das die Farbe wechselte.
Stella stotterte: »Böse? So etwas dürfen Sie nicht denken, Fräulein Mühe. Weshalb sollte ich denn böse sein? Es ist sehr freundlich von Ihnen, zu – – zu –«
»Hierherzukommen und in diesem prachtvollen Hause zu wohnen. O, du meine Güte! Ein Mädchen wie ich hat nicht alle Tage solches Glück, und weiß Gott, ich kann mir denken, daß es Ihnen nicht sehr angenehm ist, mich hier zu haben.«
Es klang etwas Sehnsüchtiges aus diesen Worten, das eine gute Saite in Stellas Wesen traf. Ihr Charakter war eitel, seicht und selbstsüchtig. Trotzdem besaß Stella eine gewisse Weichherzigkeit, die Mirandas Worte weckten.
Wärmer, als sie geglaubt hatte, mit diesem Mädchen zu sprechen, sagte sie nun:
»Ich hoffe, Sie werden sich bei uns sehr glücklich fühlen. Wollen Sie mit in mein Zimmer kommen?« fragte sie, als sie gewahr wurde, welch kläglich einsames Gefühl sich plötzlich in Mirandas Zügen ausprägte. »Mein Zimmer liegt dicht neben Ihrem.«
Sie ging den Korridor entlang voran in ein zweites Schlafzimmer, und Miranda folgte ihr mit einem neuen Gefühl des Wohlbehagens.
»Wir speisen heute abend früher als sonst,« fuhr Stella fort, »weil wir nach Tisch noch Besuch bekommen, wir brauchen uns jetzt aber noch nicht anzukleiden.«
»Ankleiden?« fragte Miranda aufs höchste erstaunt, indem sie von ihrem eigenen braunen Rock auf Stellas weißes Kleid sah.
Stella verstand sie sofort, lachte sie aber nicht aus.
»Wir ziehen uns zum Diner abends stets um – es – ist – schön, angenehm und erfrischend, und man fühlt sich so behaglich.«
»Ach!« Mehr konnte Miranda nicht sagen, als sie sie sich auf einen Stuhl niederließ, den Stella ihr hingeschoben hatte.
Stella trat vor den Spiegel, prüfte Teint und Haar, das sie ein wenig ordnete und fragte: »Madame Laura hat Ihnen doch mehrere hübsche Abendtoiletten angefertigt? Sie ist gerade in Abendkleidern sehr geschickt.«
»Sie sagte, ich müßte Kleider für Gesellschaften haben – ich dachte aber, ich müßte die tragen, wenn ich einmal zu einem Ball oder sonstwo hingehe. Ziehen Sie denn jeden Abend so schöne Sachen an?«
»Ich will mal in Ihr Zimmer hinüber kommen und sehen, was Ihnen Madame Laura gemacht hat.« Für Kleider interessierte sich Stella ungemein, ihr Ton wurde immer freundschaftlicher. »Ich werde Ihnen dann bei der Wahl für heute Abend behilflich sein. Wir machen jeden Abend Toilette – es ist bei uns so Brauch.«
»Ach, was muß man doch alles lernen, um eine Dame zu werden! Und ich weiß noch gar nichts.«
»Das lernt sich schon bald!« entgegnete Stella liebenswürdig. Sie war um so liebenswürdiger, als sie sich des Unterschiedes zwischen ihrem eigenen feinen, vornehmen Gesicht, ihrer schönen Gestalt und den ratlosen Mienen und der wunderlich linkischen Figur vor ihr immer klarer bewußt wurde. Der Blick in den Spiegel genügte, um ihr die Versicherung zu geben, daß ihr Apfelblütenteint und ihre blauen Augen den Vergleich mit den Sommersprossen und braunen Augen Mirandas nie zu scheuen haben würde. Sie wußte ja, daß ihr Haar gesponnenem Golde glich, und sie hatte für Mirandas lohfarbene Locken keine Bewunderung übrig, während sie zugleich recht gut einsah, wie ihren eigenen graziösen Formen das Ungeschlachte der siebzehnjährigen Erbin als wirkungsvollster Gegensatz diente. Es war viel leichter, höflich, ja sogar herzlich gegen das Mädchen zu sein, je deutlicher ihr alle diese Einzelheiten vor Augen traten.
»Ich will alles tun, was ich kann, um Ihnen beizustehen,« sagte sie ihr dann auch in sehr gütiger Weise, »und Sie werden es nicht übelnehmen, wenn ich Sie auf Punkte aufmerksam mache, in denen Sie sich etwas ändern müssen!«
»Uebelnehmen – ach, Gott bewahre!« entgegnete Miranda aus vollem Herzen. Ihre eigene großherzige Natur war jeder Freundschaftlichkeit sofort zugänglich, und augenblicklich beherrschte Stellas Sicherheit sie vollkommen. »Ich werde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mir sagen, wie ich mich richtig zu benehmen habe. Das kann ich ja aus mir selbst nicht lernen, und ich habe mir doch fest vorgenommen, eine Dame zu werden.«
»Ich will Ihnen so viel helfen, wie ich nur kann,« wiederholte Stella, »und Ihnen raten, was Sie anziehen und wie Sie sprechen müssen. Ach, es gibt da eine Menge Kleinigkeiten, die alle wichtig sind.«
»Wie gütig Sie sind! Und mir ist das alles so furchtbar fremd! – Ei, ist das ein hübsches Zimmer!« Ihre eifrigen Augen streiften durch den zierlichen Raum und bekundeten Ueberraschung und Bewunderung.
Nach einer Weile: »Ach, Himmel! Was brauchen Damen doch für eine Unmasse von Dingen, um sich behaglich zu fühlen, und was haben Sie alles für wunderschöne Sachen!«
Sie trat an den Toilettentisch und betrachtete fast ehrerbietig Stellas silberne Bürsten und die mit Silber beschlagenen Dosen und Flaschen auf dem Tisch. Als sie die geschmückten Wände bemerkte, rief sie ganz entzückt aus: »Und die prachtvollen Bilder! Na, gegen Ihre Photographien und Gemälde sind Frau Maurings Bilder aber gar nichts.«
»Frau Mauring?«
»Das war meine Herrin, die Besitzerin des Hauses, in das Ihre Mama kam und mich besuchte,« antwortete sie schlicht und mit keiner falschen Scham über ihren bisherigen Beruf. »Frau Mauring war auch gut gegen mich, ihre Bilder kommen aber nicht hiergegen auf.«
Sie besah sich einige Aquarelle.
»Meine Patin schenkte sie mir,« sagte Stella gleichgültig. Landschaften bedeuteten für sie viel weniger als Kleider. »Ich glaube, sie sind sehr hübsch, man sagt, sie male gut, aber sie interessieren mich nicht besonders.« Sie zog graziös die Schultern und kehrte zur Betrachtung ihres Spiegelbildes zurück, das sie wesentlich mehr fesselte als das purpurfarbene Hochland und der Sonnenuntergang auf den Bildern an der Wand. Mirandas Blicke hafteten aber noch immer daran.
»Ist das das Land?« fragte sie voll Zweifel und wies auf einen sonnigen Streifen Heide mit dem Hintergrund von blauen Hügeln und goldenem Himmel.
»Ja, das ist Land, meine Patin, Frau Grau, wohnt nicht weit davon. Sie können jetzt so viel aufs Land gehen, wie es Ihnen nur beliebt. Sie besitzen ja Ihr eigenes Landgut.«
»Das sagt man mir. Liegt denn das auf dem gleichen Lande, wie es diese Bilder zeigen?«
»Ja, das weiß ich bestimmt, mitten im Lande.«
»Du mein Himmel! Wie gern möchte ich da einmal hin! Ist auch Garten da?«
»Ein großer Garten und ein großer Park,« entgegnete Stella verdrießlich, denn plötzlich erinnerte sie sich aufs schmerzlichste, daß ohne dieses Mädchen der schöne Landsitz mit seiner reichen Umgebung Arthur und Arthurs Gattin gehört haben würde. »Es ist ein herrlicher Besitz.«
Diese Worte verrieten Miranda, die über die Mauern der Großstadt kaum hinausgekommen war, gar nichts.
»Ist es wohl so groß wie dieses Haus?« fragte sie ängstlich und nun lachte Stella auf, und ihr Aerger war deutlich zu erkennen.
»So groß wie dieses Haus?« rief sie, »na, ein gewaltiges Stück größer. Sie täten am besten, meine Mutter zu bitten, mit Ihnen hinzufahren, damit Sie es sich ansehen können. Es ist ein großes Schloß – und Sie sind das glücklichste Mädchen der Welt, einen solchen Besitz zu haben.«
Mirandas Augen wurden noch größer.
»Ist das nicht alles furchtbar komisch? Was soll ich denn nur mit einem solchen Hause anfangen?«
»Das werden Sie schon lernen. Jetzt müssen wir ans Anziehen denken, Fräulein Mühe. Soll ich Ihnen bei der Auswahl helfen?«
»Ich würde das sehr lieb von Ihnen finden, und Sie können mir noch einen großen Gefallen erweisen. Nennen Sie mich nicht mehr Fräulein Mühe. Ich bin es gar nicht gewöhnt, so angeredet zu werden.«
»Ich will Sie nennen, wie es Ihnen beliebt,« sagte Stella viel freundlicher. »Sie heißen Miranda?«
»So bin ich getauft, man hat mich aber immer Malchen genannt, und ich möchte Sie bitten, auch Malchen zu mir zu sagen, wenn Ihnen das recht ist.«
»Natürlich! Also, Malchen. Das gefällt mir auch viel besser als Miranda. Sie sehen auch gar nicht so aus wie eine Miranda,« meinte sie mit einem lächelnden Blick auf das rote Haar und die frischen Augen. »Sie sehen vielmehr aus wie ein Malchen.«
Von diesem Augenblick an ließ das kleine ehemalige Dienstmädchen ihren hochtrabenden Namen fallen und wurde von Frau Bendler und ihrer Tochter in der einfacheren Weise angeredet, die viel besser zu ihr paßte.
In den folgenden Tagen faßte sie allmählich in der Häuslichkeit festen Fuß. Ihre Fähigkeit, sich den neuen Verhältnissen anzupassen, wurden Frau Bendler und Stella bald gewahr. Sie legte eine so ruhige Entschlossenheit, ihr Endziel zu erreichen, an den Tag, die der älteren Dame durchaus nicht angenehm auffiel. Frau Bendler liebte es immer, die Herrschende zu sein. Es wurde ihr allmählich zu ihrem Leidwesen klar, daß Malchen Mühe, das einstige Mädchen für alles, keineswegs so leicht zu beeinflussen, so geschmeidig war, wie sie sich das wünschte. Ausgenommen, wo es sich um Weisungen über Sprache und Gewohnheiten der vornehmen Welt handelte, war Malchen durchaus nicht als Amboß zu betrachten. Frau Bendler empfand keinen geringen Verdruß, als sie bemerkte, daß ihr kalter strenger Blick, mit dem sie Stella sofort zu Tränen und Unterwerfung zwang, auf Malchen völlig eindruckslos blieb. Des Mädchens braune Augen begegneten solchen Blicken, ohne zu zucken, ganz gleichgültig, Malchen fürchtete ihre Gastgeberin gar nicht, auch der Respekt vor ihr war nicht übermäßig groß. Wie sie es Herrn Brand erklärt hatte, ahnte sie einigermaßen die Beweggründe von Frau Bendler, sie zur Insassin ihres Hauses zu machen. Die kluge Frau wäre aufs höchste erstaunt gewesen, wenn sie die Meinung gekannt hätte, die sich das junge Mädchen über sie gebildet, das sie verabscheute und dem sie zu gleicher Zeit schmeichelte.
Malchen und Stella gelangten zu einem solch freundlichen Einverständnis, wie es Stella vor Wochen noch als ganz undenkbar gehalten hatte. Abgesehen von dem gemeinsamen Boden beiderseitiger Jugend, fand Stella ihre neue Freundin weit interessanter, als sie das von solchen Mädchen voraussetzen konnte. Malchens angeborener Mutterwitz und ausgeprägter Sinn für Humor ergötzten Stella, die in der Umgebung vornehmster Formen ihre Erziehung genossen.
Malchen sah Arthur Darberg sehr wenig. Er war höflich gegen sie, wie es in seinem Wesen lag, gegen das weibliche Geschlecht höflich zu sein, aber er betrachtete sie doch immer als das Dienstmädchen, das aus der eigenen Umgebung herausgehoben war, und blieb auch bei seiner Meinung über den Urheber eines Testaments, dessen Bedingungen so vollständig dem gewöhnlichen Menschenverstand widersprachen.