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Kapitel 23.

Die Jagd auf den Schnellzügen

Justus hatte dem Kutscher seines Taxameters Eile anempfohlen und das leichte Gefährt jagte und sprang dahin wie ein Hase über Feldfurchen.

Ob ich ihn dort wohl abfange, fragte er sich. Wenn er in seine Wohnung kommt, so bleibt er sicherlich nicht länger dort als er braucht, um das Nötige zusammenzuraffen. Er kann einen allzu großen Vorsprung vor mir nicht haben, denn sicherlich – zapperlot, das war ein Stoß! – schneller als ich hat er nicht vorwärts kommen können. Hallo, das sah ja ganz so aus. als ob er in dem Wagen gesessen hätte.

Er erhob sich und blickte hinaus. Er befand sich jetzt bereits in der Nähe von St. Jones Wood auf einem breiten, spärlich erleuchteten Wege, wo eben aus der entgegengesetzten Richtung ein anderer Wagen in wilder Hast vorübergeflogen kam. Und in diesem Wagen glaubte Justus eine zusammengekauerte Gestalt gesehen zu haben, die eine Aehnlichkeit mit Wyvill hatte. Er fühlte sich deshalb einen Augenblick versucht, dem verschwindenden Wagen nachzufahren, doch meinte er dann, es sei richtiger, den Weg fortzusetzen, denn er könne sich getäuscht haben, weil Wyvill auch gar nicht so schnell hätte fertig sein können.

Wenige Minuten später hielt der Wagen vor dem Gittertor und Justus sprang heraus.

Er ist hier, sagte er sich, da er sofort bemerkte, daß das Haus einen ganz anderen Eindruck machte als wie er es zuerst gesehen.

Denn jetzt stand das Gittertor weit offen, das vermutlich seit der Zeit, als Millbank mit seiner kräftigen Schulter es aufgebrochen hatte, gar nicht wieder geschlossen war. Ein helles Licht in der Eingangshalle zeigte, daß auch die Haustür weit offen stand, so daß selbst die Treppe sichtbar wurde.

Er ist hier, sagte sich Justus, oder auch vielleicht schon wieder fort.

Nach kurzem Zögern durchschritt er die Pforte und ging bis ans Haus. Ich wollte, ich hätte mir einen Revolver gekauft, murmelte er vor sich hin. Wyvill ist ein gefährlicher Mensch und wird von meinem Erscheinen hier nicht sonderlich erbaut sein.

Und wenn ihm auch die Beine zitterten, so ging er doch weiter, denn der Mann war hier, die Anteilscheine waren hier, Geld und Glück erwarteten ihn; er mußte weiter.

Aber der Gesuchte war nicht hier! Wenige Augenblicke der Durchsuchung des Hauses bewiesen das.

Ja, er war hier gewesen und zwar kürzlich. Auch weniger scharfe Augen als die von Justus Wise hätten diese Tatsache festgestellt.

Offene Koffer, deren Inhalt umhergestreut, durchwühlte Schubladen. Papierhaufen – teils zerrissen, teils in mehreren Kaminen zur Hälfte verbrannt, Blutflecken auf einer Tischdecke, an einer Tür. an einem halbgeleerten Glas Brandy auf einem Büffet – alles das sprach von einem eiligen Besuch und einer eiligen Flucht und das Haus war vom Dach bis zum Keller leer.

So war er es doch, der in dem Wagen an mir vorüberfuhr, rief Justus, ich fühlte es förmlich, daß er es war.

Er warf einen letzten verzweifelten Blick um sich. Die Schriftstücke zogen seine Aufmerksamkeit auf sich, aber er schüttelte den Kopf. Ich will nur die Anteilscheine nur die Anteilscheine, rief er. Mag die Polizei nach allem übrigen sehen, ich will ihn vor der Polizei haben. Damit stürzte er aus dem Hause und bestieg den Taxameter wieder, der sich eben umgewandt und auf ihn gewartet hatte.

»Waterloo – Hauptstation,« rief er und sprang in den Wagen. »So schnell, wie Sie können.«

Und der brave Kutscher fuhr so rasch wie ein Auto. Ihn kümmerten nicht Ecken und Prellsteine und so dauerte es nicht lange bis er unter die Halle einbog, die zu dem Eingang der Station Waterloo führt.

Behende sprang Justus ab und nahm sich nicht einmal die Mühe, über den hohen Fahrpreis zu schimpfen, den er zu zahlen hatte.

»Southampton.« rief er, »wann geht der nächste Zug nach Southampton?«

»Im nächsten Augenblick. Sie bekommen ihn noch, wenn Sie sich sehr beeilen.« sagte ein Portier.

»Wann ist der letzte Zug gegangen?« fragte Justus, als er, von dem Portier geführt, den Perron entlang lief.

»Vor anderthalb Stunden. Dies ist der Schnellzug.« Er war allerdings so schnell, daß es Justus nur mit Unterstützung seines freundlichen Führers gelang, ihn zu besteigen oder richtiger gesagt, er wurde hinauf gehoben; trotzdem gelang es ihm, in seiner Erregung bei einem Blick in die Wagenreihe ein fahles Gesicht, einen Kopf mit roten Haaren zu erspähen, das aus einem Fenster vorn im Zuge heraussah.

So war denn seine Jagd nicht vergeblich gewesen.

Atemlos, aber mit einem Triumphgefühl lehnte er sich in die Polster zurück. Er war sicher, daß auch Wyvill ihn gesehen hatte und nahm sich vor, den Zug bei der ersten Haltestation – das war Winchester – sorgfältig zu beobachten.

Glücklicherweise war das Abteil, in dem Justus saß, leer, so daß niemand seine Erregung und Aengstlichkeit bemerken konnte, mit der er auf und abschritt, um hin und wieder aus dem Fenster zu sehen, wenn der Zug durch eine unterirdische Station flitzte oder an einem gefährlichen Kreuzpunkt die Schnelligkeit herabsetzte.

Etwa auf der Hälfte zwischen Waterloo und Woking kam ein Zug in gleicher Richtung auf einem Bahngleise heran, der mit dem Zuge, in dem sich Justus befand, sozusagen ein Wettrennen begann.

Es hatte ganz den Anschein, als ob dieser zweite Zug den ersten überholen wollte. Justus sah, wie der Heizer vor den Flammen des Kessels tätig war und den Lokomotivführer ernst und diensteifrig auf seinem Posten. Wagen auf Wagen rollte heran, die Fahrgäste blickten sich gegenseitig an und machten sämtlich so alberne Gesichter, wie das die Menschen unter solchen Umständen zu tun pflegen und endlich erschien der letzte Wagen mit dem Dienstkoupee und verschwand dann ebenfalls. Dann aber mußte die Maschine des ersten Zuges kräftig ausgehoben haben, denn wenige Minuten darauf liefen die beiden Züge in gleicher Geschwindigkeit wieder neben einander. Justus nickte einem Schaffner des anderen Zuges freundlich zu; wenn er die Hand ausstreckte, konnte er dessen Kopf berühren.

»Das ist doch sehr spaßig.« sagte sich Justus, »wenn wir so Schritt nebeneinander halten, könnte ich trotz dieser Geschwindigkeit in den Wagen drüben ganz leicht hinüber. – O Himmel! Hallo! Hilfe! Halten Sie den Mann!«

Als er sich hinausgelehnt und an den beiden Zügen hinunter gesehen, war aus einer Tür vorn in seinem Zuge eine Gestalt erschienen, die sich einen Augenblick aus dem Fußbrett des Wagens gehalten und dann rasch und leicht auf den andern Zug hinüber getreten war. Wild vor Aufregung, hatte Justus die Tür seines Abteils geöffnet und den ihm gegenüber stehenden Schaffner des anderen Zuges mit heftigen Gebärden zugewinkt.

»Der Mann dort, der Mann dort,« schrie er.

Durch sein Rufen aufmerksam geworden, hatte auch der Schaffner von drüben seine Tür geöffnet und war Justus Blicken gefolgt.

»Bringen Sie den Zug zum Halten!« schrie Justus außer sich. »Der Mann wird sonst entwischen!«

Aber der Wagehals da vorne hatte festen Fußgefaßt. Der Schaffner schüttelte den Kopf.

»Wir können nicht vor Woking halten.« schrie er. »Der Mann da vorn ist schon sicher auf unserm Zug.«

Die Geschwindigkeit der Züge war wieder verschieden geworden und es sah so aus, als ob sie auseinander kämen. Justus beugte sich weit vor.

»Passen Sie jetzt auf,« rief er mit lauter Stimme, »ich komme jetzt auch zu Ihnen herüber.«

Und indem er seine Kräfte stählte, gab er sich von der Eisenstange außerhalb der Tür einen kräftigen Abschwung – ein kühner, aber sicherer Sprung, ein kräftiger Ruck durch die Hand des erschreckten Schaffners – und Justus befand sich in dem zweiten Zug, atemlos und lebend.

»Gott im Himmel, ich wäre beinahe gefallen,« sagte er.

»Gewiß,« entgegnete ihm der Schaffner, »machen Sie dergleichen Geschichten nicht wieder.« Er war wieder zu seinem Fenster getreten, hatte die Tür geschlossen und blickte hinaus.

»Ich möchte wohl wissen, was Sie damit bezwecken,« sagte er und wandte sich nach Justus um, »das muß gemeldet werden und alles um nichts.«

»Um nichts!« wiederholte Justus, »es war um mehr, als Sie ahnen können, – Jener Mann – ich möchte nicht, daß er mir entwischte – ich würde tausend Pfund Sterling geben –«

»Tausend Pfund Sterling, wirklich? Na, er ist aber schon fort.«

»Fort? Er ist ja doch in diesem Zuge, Sie haben es mir ja selbst gesagt.«

»Gewiß, er kam auch auf den Zug, aber er ist schon wieder davon. Sobald er sah, daß Sie ihm gefolgt waren, sprang er wieder auf den ersten Zug zurück und hätte beinahe dabei das Genick gebrochen. Ihr Herren scheint kein großes Gewicht auf euer Leben zu legen.«

»Fort! Wieder zurück?« schrie Justus wie wahnsinnig, »ach, lassen Sie mich fort, lassen Sie mich auch wieder zurück.«

Der Schaffner wies auf das Fenster, das nun dunkel und leer erschien. »Wir sind vor etwa zehn Minuten über die Kurve gekommen, der andere Zug hält nicht vor Winchester und wir halten erst in Woking.«

»Dann halten Sie doch diesen Zug an,« rief Justus, »ich gebe Ihnen fünf Pfund dafür.«

»Ich kann es nicht für fünfzig tun, es hätte auch gar keinen Zweck. Sie können doch den Süd-Expreß nicht zu Fuß erreichen, wenn Ihr Freund und Sie auch recht rührige Menschen sind.«

»Es handelt sich aber um Leben und Tod,« stöhnte Justus.

»Ja, das tat es fast. Mein Gott, ich glaubte. Sie wären verloren, als ich Ihre Hand packte. Doch nun, mein Herr, hat die Sache keinen Zweck mehr. Ihr Freund oder was er sonst sein mag, ist meilenweit weg von hier. Sie können nichts besseres tun, als in Woking auszusteigen und – wohin fährt Ihr Freund denn eigentlich?«

»Ich denke nach Southampton.«

»Da können Sie also in Woking aussteigen und den nächsten Schnellzug nehmen. Es ist höchstens ein Zeitunterschied von zwei Stunden, die Sie später in Southampton eintreffen als er, das heißt natürlich, wenn es ihm nicht wieder einfällt, einen Spaziergang zu machen, aber er wird dergleichen Scherze doch nicht oft mehr wiederholen, ebenso wenig wie Sie.«

»Ich habe auch kein Verlangen danach,« seufzte Justus, »ich wollte, ich hätte es nicht getan. Indeß wenn ich ihm nicht gefolgt wäre, so würde er hier und ich würde dort sein und die Geschichte käme ganz auf dasselbe heraus. Ach, weshalb habe ich ihn nicht beobachtet?«

»Na, deshalb brauchen Sie sich nun keine Vorwürfe zu machen.« sagte der Schaffner tröstend. »Wenn Sie auf ihn achtgegeben hätten, statt darauf, meine Hand zu erfassen, so lägen Sie jetzt auf dem Wege, von dem es kein Zurück mehr gibt.«

Justus nickte. »Ich glaube, Sie haben recht! O Himmel, wann kommen wir nach Woking?«


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