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Kapitel 3.

Der verschwundene Leichnam

Wise lief im Zimmer umher, sah in den Kamin hinauf, durch welchen jetzt ein schwacher Schein des rauchigen Londoner Himmels drang, und wandte sich dann an seinen Schreiber, der ebenso ratlos und verwirrt dastand wie sein Herr.

»Was kann das bedeuten? Wohin – wohin mag nur die Leiche gekommen sein?«

Dark wußte auf diese Frage keine Antwort.

»Ja, fort ist sie,« das war alles, was er sagen konnte.

Diese Entgegnung verdroß Wise, der seiner Erregung doch auch irgendwie Luft machen mußte.

»Seien Sie nicht töricht, Dark. Daß die Leiche fort ist, sehe ich auch. Aber wohin – wie –«

Daß er nun von Dark gerade diese Auskunft forderte, war sicherlich nicht logisch, denn er konnte sie ja selbst nicht geben.

Der ehemalige Soldat runzelte die Stirn und wiederholte seine stupiden Worte: »Ja, sie ist fort! Es ist zu merkwürdig –«

»Gewiß, es ist merkwürdig,« schrie Wise ihn an. »Es ist auch geradezu verteufelt! Da bin ich nun in einem Augenblicke durch eine Reihenfolge der außergewöhnlichen Ereignisse, die geschickt ineinandergreifen, vor dem Aufbau eines Vermögens gestellt und eine Minute später wieder an den Abgrund des Ruins gelangt. Wie kann das nur zugehen? Wie ist das möglich?« Wütend zerrte er an seinem Schnurrbart und warf Dark so vorwurfsvolle Blicke zu, als verdächtigte er ihn, die Ursache der Katastrophe zu sein.

Aber das offene biedere Gesicht des Schreibers mußte ihn bald belehren, daß ein solcher Verdacht völlig unberechtigt war.

So blieben sie denn beide wie vor einem unlösbaren Rätsel stehen und besahen sich das Zimmer, als könne ihnen von irgendwo doch eine Erleuchtung kommen.

Im Zimmer gab es nun allerdings recht wenig zu sehen.

Die Bureau-Ausstattung von Justus Wise war niemals verschwenderisch gewesen und überdies hatte sich mancher hartherzige Hauswirt an einzelnen Teilen schadlos gehalten. So kam es, daß dieses zweite Bureau fast noch leerer war als das andere. Es enthielt nur einen einfachen tannenen, mit Wachstuch überzogenen Tisch, drei Stühle, einen Kalender und einen Teppich. Dieser war abgeschabt und von seinen einstigen Farben ließ sich nichts mehr erkennen, dagegen waren darauf in der Nähe des Kamins die Spuren von Asche und Ruß sichtbar, die mit dem Leichnam hinuntergefallen waren. Dem Kamin gegenüber lag ein Fenster und an dieser Seite des Zimmers befand sich noch eine zweite Tür.

Auf diese fiel endlich der Blick des Agenten; er trat an sie heran und untersuchte das Schloß.

»Ach, Du mein Himmel!« sagte er. »die Tür ist ja unverschlossen,« und damit drückte er die Klinke. Er hatte dabei sich so heftig gegen die Tür gestemmt, daß sie seinem Griff schnell nachgab und beide Männer unwillkürlich hinausstürzten. –

Sie befanden sich nun auf einem schlechtbeleuchteten, mit Steinpflaster belegten Treppenabsatz, von dem eine noch dunklere schmale Treppe hinabführte. Es war offenbar die Hintertreppe des Hauses.

Wise bückte sich und besichtigte schnell den Fußboden. auf dem sie standen. Hier und da konnte er auf den Fließen Spuren von Ruß entdecken, auch wollte es ihm scheinen, daß er Tritte vernahm, die nicht von ihm und seinem Begleiter herrührten.

Er blickte endlich auf.

»Diese Tür war verschlossen, als wir den Toten fanden. Ich bin überzeugt davon, ich habe schon früher 'mal zu öffnen versucht. Seitdem wir hier eingezogen sind, ist die Tür auch nicht aufgemacht worden, denn Sie haben diese Hintertreppe ebensowenig benutzt wie ich. Ich glaube, sie führt zu den Kellern hinunter Aber dies ist der Weg, den man genommen hat, anders ist es nicht möglich. Wie konnte man das nur zuwege bringen? Wer mag es sein?«

Wise richtete diese Fragen wieder an seinen Schreiber, der ihm einige Schritte auf die Treppe hinunter gefolgt war, und auch jetzt nur zu wiederholen wußte:

»Wer mag das sein?« Dann aber fügte er hinzu: »Natürlich niemand anders als die Mörder – sie kamen, um den Toten zu holen!«

Sie lehnten sich über das Eisengeländer und blickten in die Dunkelheit hinunter. Nichts regte sich dort.

»Sie werden recht haben, Dark. Die Missetäter müssen irgendwie erfahren haben, daß das Bureau wieder bezogen ist, und wagten sich dann, aus Furcht vor Entdeckung, hierher zurück. Aber welchen Mut, welche Frechheit oder welche Verzweiflung, das zu tun, während wir uns im Nebenzimmer befanden und nur die eine Tür dazwischen liegt.«

»Sonderbar, daß wir gar nichts von ihnen gehört haben.«

»Die Zwischentür ist mit Filz belegt,« entgegnete Wise. »Wenn es zwei oder drei Menschen waren, so können sie die Sache ganz ruhig abgemacht haben. Herr des Himmels, der junge Mensch war ja kaum eine halbe Stunde bei uns. Entweder haben sie draußen gehorcht und sind in demselben Augenblick hereingekommen, als wir ins andere Bureau gingen, oder es ist noch nicht lange her, daß sie hier vorüber mußten: wer weiß, vielleicht sind sie noch da unten. Kommen Sie, Dark, wir wollen sehen, wohin die Treppe führt. So leicht will ich es den Menschen doch nicht machen, mich zum Narren zu halten.«

Er stürzte die Treppe hinunter. Nach zwei Fluchten gelangten sie auf einen Absatz, der genau so war, wie der, den sie eben verlassen hatten, nur fanden sich hier keine Rußspuren mehr und zwei weitere Treppenfluchten führten abermals auf einen Absatz. Hier meinte Wise noch schwache Zeichen von Fußtritten auf den dunklen Steinen zu erkennen und blieb deshalb einen Augenblick stehen.

Es war an der Hintertür eines Bureaus genau wie auf den anderen Treppenabsätzen, aber ach, sie war verschlossen und drinnen alles still. Noch zwei weitere Stockwerke, ebenso undurchdringlich wie die übrigen, folgten und dann endete die Treppe plötzlich an einer schmalen Tür.

»Vermutlich der Keller,« sagte Dark. »Ist die Tür verschlossen?«

»Ja, es sieht auch nicht so aus, als ob sie kürzlich geöffnet wäre. Wir müssen aber um jeden Preis mal sehen, was dahinter steckt. Es ist ja niemand in der Nähe. Glauben Sie die Tür eindrücken zu können?«

Dark nickte und lehnte seine breiten Schultern gegen die Füllungen. Ein Stoß, ein zweiter, die Tür gab nach und sprang auf. Sie hatten nun aber nur einen leeren Keller vor sich, in dem sich nicht einmal ein Fenster befand. Langsam kehrten sie um.

Während ihrer Rückkehr nach oben blieb Wise häufig stehen und blickte die Bureautüren, an denen sie vorüber mußten, voller Wut an. Es waren das nur fest verschlossene Notausgänge. Er war ganz davon überzeugt, daß durch eine dieser Türen die Leiche hindurchgeführt war, auf die er so große Hoffnungen gesetzt hatte, aber ebenso gewiß war es auch, daß er nirgends anklopfen konnte, um zu fragen, durch welche Tür das geschehen war.

Nach und nach kamen sie denn in das eigene Bureau zurück.

Erschöpft und verzweifelt sank Wise auf seinen Sessel. Da fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, Millbank um seine Adresse zu bitten, und er errötete bei dem Gedanken, daß Dark sich dieses Versäumnisses vielleicht erinnern könnte. Um der Möglichkeit zu entgehen, sich noch viel kleiner zu fühlen, als er es jetzt schon tat, schickte er den Schreiber in das zweite Bureau und verbrachte den Rest des Tages damit, an seinem Schnurrbart zu zerren und voll ohnmächtiger Wut über sein Schicksal nachzudenken.

Gegen abend klopfte Dark hastig an die Tür und brachte ihm eine Depesche, die er mit verhaltenem Atem öffnete. Sie war von Millbank und lautete:

»Entschuldigen Sie Bemühung. Er ist glücklich heimgekehrt.«

Wise wechselte die Farbe, besaß aber noch genügend Geistesgegenwart, um den Schreiber mit einer Handbewegung zu entlassen und den ruhigen Worten:

»Ich danke. Antwort ist nicht nötig.«

Dann starrte er auf seinen Tisch. –

Das war nun das Ende eines ereignisvollen Tages! Sein Blick fiel auf die Stelle seines Prospektes: – »mögen die Dinge auch noch so dunkel ausschauen, die Verwicklung unlösbar erscheinen, die Gefahr noch so gewaltig drohen, Erfahrung und Geschicklichkeit, wie sie Justus Wise besitzt« – da packte er die Abschrift voll Zorn, zerriß sie und die Depesche in hundert kleine Stücke und warf sie zum Fenster hinaus.

»Er ist glücklich heimgekehrt!!!«

Wer war denn nun der Ermordete, dessen Leiche auf eine so geheimnisvolle Art verschwunden war?

Und was um Himmelswillen bedeutet die ganze unerklärliche Geschichte?!


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