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Der große Schlag.

Der Hausbesitzer Gedalje Chill mußte dringend nach Leipzig reisen, aber wegen seiner unsicheren Mieter verschob er die Fahrt bis nach dem ersten des Monats, um den Mietzins wenigstens vollzählig eingetrieben zu haben.

In der Nacht, die seiner Abreise folgte, wurde der geplante Einbruch zur Tat.

Als Frau Toches morgens erwachte und das Wohnzimmer betrat, fand sie dort die entsetzlichste Unordnung. Der Schreibtisch war erbrochen, die Schublade stand auf dem Fußboden und ringsherum zerstreut, zusammengeballt und zertreten lagen allerlei Schriftstücke. Die bis an den Rand gefüllt gewesene Geldkassette war aufgeklappt und glich in ihrer öden Leere einem heißhungrigen Rachen. Und die sonst so dickleibige in der Form Herrn Chill nicht unähnliche lederne Tasche, in deren vielfachen Fächern bisher säuberlich geordnet die größeren Kassenscheine sich befanden, lag daneben und machte den Eindruck einer nach Luft schnappenden Harmonika. Das im Hinterzimmer untergebrachte wertvolle Lager an Fellen und Stoffen war bis auf einige minderwertige Stücke ausgeräumt. Die Spitzbuben hatten gründliche Arbeit geleistet.

Kaum hatte die alte Frau das Unheil bemerkt, als sie, vor Angst und Schreck fast von Sinnen, unfrisiert, wie sie war und mit Unterrock und Nachtjacke bekleidet, aus der Wohnung stürzte und ein jämmerliches Geschrei erhob.

Mit ihrer klanglosen Fistelstimme und die Arme vor Verzweifelung wild um sich werfend erzählte sie den herbeigelaufenen Hausbewohnern immer wieder, was vorgefallen war und gab in hundertfachen Wiederholungen immer wieder in allen Einzelheiten eine Schilderung von der Beschaffenheit der ausgeplünderten Zimmer. Was die Hausbewohner zu ihr sagten, wie sie Verdachtsmomente erforschen oder sie trösten wollten, verstand die taube Frau Toches nicht. Nur aus den Mienen entnahm sie die Neugierde und erzählte und erzählte immer von neuem. Und am Schluß jedes mit den gleichen Gesten vorgetragenen Berichts gab sie ihre Angst vor dem Hausherrn mit verzweifelter Gebärde zu erkennen und drohte, sich aufzuhängen.

Unter den Weibern, die die alte Wirtschafterin zu beruhigen versuchten, befand sich auch die Breitenbach, straßenfertig angezogen, weil sie in der Diebesnacht überhaupt nicht geschlafen hatte. Dies und die besondere Fürsorge der Frau Toches gegenüber, sowie die Bemühungen sie an weiterem Schreien zu verhindern und – aus Mitleid natürlich – in die Wohnung zurückzudrängen, fiel den Anwesenden keineswegs auf.

Das unnütze Geschwätz und Gezeter hätte vielleicht noch lange dauern können, wenn nicht Wolf Gabel, der Gastwirt, kurz und entschlossen die Polizei alarmiert hätte.

Als die Beamten zur Feststellung des Tatbestandes eintrafen, war bereits eine große Menschenmenge vor dem Hause versammelt, vorwiegend Bewohner des Ghetto, Männer, Weiber und Kinder.

Das Ereignis gab dem ostjüdischen Witz reichliche Nahrung. Niemand hatte auch nur eine Spur von Mitleid für den als reich und geizig verschrienen Hausbesitzer. Die einen spöttelten, es wäre besser gewesen, wenn die Gannowim Gannowim = Spitzbuben auch das Fell des Herrn Chill mitgenommen hätten, die anderen meinten, da die minderwertige Ware zurückgeblieben sei, hätten die Spitzbuben mit dem Scharfblick eines Fachmanns ganz richtig gehandelt. Und ein altes zerlumptes Weib fügte sarkastisch hinzu, das Unglück sei doch garnicht so groß, da man dem Chili doch wenigstens den Toches Toches = Hinterteil belassen habe.

Diese trockene Bemerkung verursachte ein allgemeines Gelächter und trug der alten Spötterin reichlichen Beifall ein, aber sofort hagelte es allerlei Zoten, die sich auf die Brummigkeit, Schwatzhaftigkeit und Taubheit der Wirtschafterin des Hausbesitzers bezogen.

Die Eigenart der Ghettobewohner sowohl wie auch das Fehlen besonderer Merkmale erschwerten der Polizei die Nachforschungen sehr, denn es war von vornherein klar, daß die gestohlene Ware schnellstens in derselben Gegend, wahrscheinlich sogar schon in der Diebstahlsnacht, verkauft worden war. Und da als Hehler zweifellos Ostjuden in Betracht kamen, die jeden Posten Ware ohne Schwierigkeit über die Grenze schaffen konnten, bestand zunächst wenig Hoffnung, die geraubten Schätze wiederzugewinnen.

Eine Umfrage bei den Händlern und in den Kneipen des Ghettos hatte denn auch das erwartete negative Ergebnis.

Und doch war eine Person in dem Hause, die sehr rasch auf die Fährte der Verbrecher hätte lenken können, wenn man sie befragt hätte, aber niemand dachte an sie, am wenigsten die Kriminalpolizei.

In der Mansarde des vierten Stockwerks nämlich hauste einsam und verlassen in einem kleinen Hinterzimmerchen eine fünfundsiebzigjährige Almosenempfängerin Fräulein Agate Brinkmann gegenüber der Stube des Hugo Schramm.

Kein Mensch kümmerte sich um die alte Jungfer, die wegen der vielen Treppen auch nur selten ausging und nur in den ersten Tagen eines Monats, wenn die Almosen eintrafen, ihre Einkäufe für die nächsten vier Wochen besorgte.

Auch sonst kam die Alte nie in einen Menschenkreis. Verwandte hatte sie nicht, und das einzige Individuum, das je ihre Stube betrat, war nur der Geldbriefträger, wenn er ihr die paar Zehrpfennige brachte.

Durch die völlige Abgeschiedenheit wurde Fräulein Brinkmann noch wunderlicher als sie ihrer Veranlagung nach schon war. Ihre einzige Beschäftigung bestand im Säubern ihres Zimmerchens und im Schlafen. Das bißchen Kochen, das sie auf dem eisernen kleinen Ofen, der auch den Raum im Winter heizen mußte, besorgte, war bald erledigt, denn mehr als zu einem Süppchen reichte es nie.

Es reichte überhaupt zu nichts, kaum zu einer Preßkohle täglich, um die kalte Luft anzuwärmen. Und deshalb gehörte zu den vielen absonderlichen Angewohnheiten der alten Jungfer auch das ununterbrochene Händereiben. Wer Fräulein Brinkmann je gesehen hat, konnte nie vergessen, wie sie mit seltener Ausdauer ihre blauroten an den Gelenken mit dicken Knoten behafteten Hände bearbeitete.

In der fraglichen Diebesnacht nun, etwa zwischen drei bis vier Uhr früh verspürte die Almosenempfängerin, wahrscheinlich infolge einer Verdauungsstörung, ein natürliches Bedürfnis und sie eilte in notdürftigster Kleidung, ein Licht in der Hand, zu dem nahen Abort, der sich auf dem gemeinsamen Korridor der Mansardenbewohner befand.

Als sie nun nach einigen Minuten ihr Zimmerchen wieder aufsuchen wollte, hörte sie leise Schritte auf der Treppe. Neugierig bleib sie stehen und im nächsten Augenblick trat ihr der Nachbar Hugo Schramm, etwas verstört und aufgeregt, einen Pack Stoffe und Felle im Arm, entgegen.

Der Verbrecher, der wohl zuerst an ein Gespenst glauben mochte, als er die hexenähnliche Erscheinung der alten Jungfer vor sich sah, prallte zurück und war dicht daran, wieder schleunigst umzukehren. Aber die Peitsche des unreinen Gewissens, die ihn zur Eile antrieb, jagte ihn auch sofort wieder vorwärts und mit einem Satz verschwand er in seinem Zimmer. Fräulein Brinkmann glaubte nicht an schlechte Menschen. Da sie nie etwas besessen hatte, wurde ihr auch nichts gestohlen, und weil sie fast ihr ganzes Leben hindurch die Mildtätigkeit ihrer Mitmenschen in Anspruch nehmen mußte, hatte sich in ihr nur die Vorstellung von der Güte der Menschen und ein gewisses Dankbarkeitsgefühl entwickelt.

Die nicht alltägliche Erscheinung des Verbrechers zu nachtschlafener Zeit, mit Waren bepackt und ersichtlich verwirrt, konnte daher bei der guten Jungfer Brinkmann nicht die geringste Verdächtigung erwecken.

Um so nachhaltiger aber wirkte die unerwartete Begegnung nach der anderen Seite.

»Schlidderhujo« hätte die harmlose Alte am liebsten erwürgt, so wütete es in ihm, daß ein lebender Mensch ihn kurz nach der Tat und noch dazu mit einem Teil des Raubes bepackt gesehen habe. Er zögerte einen Augenblick, ob er die »Hexe« nicht kaltmachen sollte, aber die Vernunft siegte und er kam zu der Erkenntnis, daß ein Mord in demselben Hause und seinem Zimmer gegenüber den Verdacht sofort auf ihn gelenkt haben würde. Er nahm sich nun vor, die Almosenempfängerin zu besuchen und herauszufühlen, ob sie gefährlich sei oder nicht. Im letzteren Falle würde er sie schon durch Liebenswürdigkeiten mundtot machen und auf seine Seite bringen.

Jetzt aber trieb es ihn zur Eile an, denn in wenigen Stunden konnte das Verbrechen bereits entdeckt sein. Er packte also den im Verhältnis zum gesamten Raub nur kleinen Posten Ware in einen Sack, brachte sein Zimmer vorsichtshalber in Ordnung und schlich in seiner Alltagskleidung hinaus. Nach einigen Tagen kam der Hausbesitzer unangemeldet aus Leipzig zurück. Vergnügt schlenderte er die Treppen hinauf und freute sich schon im geheimen auf das überraschte Gesicht seiner Wirtschafterin.

Frau Toches war gerade in der Küche beschäftigt und hatte mit Wassereimer und Schrubber zu tun.

Infolge ihrer Taubheit konnte sie natürlich das Aufschließen der Wohnungstür nicht hören, und so stand Herr Chill, als sie sich zufällig umdrehte freundlich lächelnd an der Küchentüre.

In ihrer Bestürzung warf sie den Eimer um und dem Hausherrn das Wasser über die Stiefel, und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre sie mit dem Schrubberstil in seinen Spitzbauch gerannt.

So fürchterlich erregt war Frau Toches, daß sie kein Wort hervorzubringen vermochte, nicht einmal einen Willkommensgruß, und sie zitterte am ganzen Leibe und gebärdete sich überhaupt wie geistesabwesend.

Herr Chill schüttelte erstaunt den Kopf, denn er glaubte bestimmt, seiner betagten Haushälterin sei in der Zwischenzeit eine Gehirnader geplatzt, und zu dem sonstigen Gebrechen der Taubheit habe sich noch eine Geistesstörung gesellt oder zum mindesten habe sie noch die Sprache verloren, den bisher bemerkenswertesten Bestandteil ihres klapprigen Wesens. Aber als der Hausherr sich anschickte, die verdrehte Alte mit seiner Gegenwart nicht länger zu behelligen und das kleine Hinterzimmer zu betreten, um sein Warenlager feierlich zu begrüßen, da sprang Frau Toches wie von einer Tarantel gestochen in die Höhe, ergriff Herrn Chill am Rockzipfel und stotterte noch krächzender als sonst heraus:

»Um Gotteswillen, geh'n Se nischt ins Magazin, der Schlag kann Sie auf der Stelle rühr'n, lieber Herr Chill! Ä graußes Unglück is gekommen über uns, Gannovim – Gannovim sind gekommen zu uns schleichend über Nacht und hab'n gelatchenet gelatchenet = gestohlen – gelatchenet sag' ich –, Gott soll sich erbarmen – Ihr ganzes Neschiris Regg'n Se sich nich auf, um Gotteswillen, regg'n Se sich bloß nich auf, Herr Chill, lieber Herr Chill, daß Ihn' nischt noch passiert ä graußeres Unglück …!«

Weiter kam Frau Toches, die ihre letzten Worte beinahe flehend hervorbrachte, nicht, denn während sie sich schluchzend auf den Küchenstuhl fallen ließ, wurde der Hausbesitzer kreidebleich, taumelte einer Ohnmacht nahe an die Wand und stürzte sich dann, die Hände über den Kopf zusammenschlagend, in das Wohnzimmer.

Als er die Schublade mit einem hastigen Griff herauszog und die Geldbehälter leer fand, stieß er einen markerschütternden Schrei aus, rannte schreiend und weinend in das kleine Hinterzimmer, und als er hier nur die leeren Regale sah, raufte er sich die Haare, riß sich die Weste auf und gebärdete sich wie ein Besessener, bis er schließlich jammernd und schluchzend wie ein verprügeltes Kind auf einen Stuhl sank.

Der Seelenschmerz aber, der den sonst so ruhigen Mann, an seiner empfindlichsten Stelle unsagbar schwer getroffen, so entsetzlich aus dem Gleichgewicht brachte und wie ein schwaches Kind zu Boden schmetterte, verwandelte sich sehr bald in eine unbändige Wut gegen seine Wirtschafterin.

Wie von Furien gepeitscht raste er in die Küche, ergriff die noch immer weinende Frau Toches mit beiden Händen, schüttelte ihren schmalen Körper, daß der Kopf wie ein Glockenschlägel hin und her pendelte und riß sie mit fürchterlichem Gebrüll in die Höhe.

Um sich ihr verständlich zu machen, schrie er aus Leibeskräften, sodaß wahrscheinlich das ganze Haus bis hinauf zur Mansarde sein Toben deutlich hören mußte:

»Sie gottverdammter Cheirisch Cheirisch = Taube, wo sind Se gewesen, als de Gannovim eingebrochen?! Hab' ich Sie dazu hiergelassen, daß se mir hab'n gekonnt stehlen mein ganzes Neschiris?! Wenn se nur genomm'n hätt'n Sie selbst, was war' ich gewesen for ä glücklicher Mensch! Mußt ich mer nehm'n so ä Cheirisch ins Haus und bin gestraft mei Lebenlang als ä armer geschlagener Mann!«

Herr Chill begann wieder zu weinen und zu jammern, während Frau Toches, nachdem ihr Glockenschlägel wieder zur Ruhe gekommen war, mit den kleinen Augen nervös zwinkernd fragte: »Hab'n Se mer eppes gesagt?«

Jetzt packte den Hausbesitzer die Wut noch mehr, mit einem Satz sprang er auf Frau Toches zu, ergriff sie mit der rechten Hand wie einen Bund Lappen, öffnete mit der linken die Tür und warf die Alte kurzerhand hinaus, indem er brüllte: »Raus mit dem Stück Schlamassel Schlamassel = Unglück, nich ä bissel Brot is se wert!« Dann warf er die Wohnungstür zu.

Auf das jämmerliche Geschrei der Wirtschafterin liefen die Hausbewohner wieder zusammen.

Frau Toches klagte und schluchzte herzzerbrechend: »Habt ihr nischt gehört, wie er hat getobt? Erwürgen wollt' er mich, wo ich doch bin ganz unschuldig an dem Unglück, erwürgen! Nu is er geworden ganz meschügg meschügge = verrückt, hat 'm Gott gleich gestraft, weil er hat geschlag'n ä arme alte Frau. Nur der Schlag soll ihn rühr'n, nur der Schlag! Und platz'n soll er am best'n Jontef!«

Die Hausbewohner hatten alle Mitleid und bemühten sich die alte Frau zu trösten und zu beruhigen.

Die größte Teilnahme aber zeigten Kunze, der ausnahmsweise nüchtern aus der Fabrik gekommen war, und die Breitenbach. Beide stritten sich förmlich darum, wer die arme Frau Toches aufnehmen sollte.


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