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Als Doktor Szremski ins Hotel zurückgekehrt war, sann er über Swidwickis Worte lange nach, die sich ihm tief im Gedächtnis eingeprägt hatten. Vor seinen Augen zogen die Bilder des Leichenkonduktes und des Sarges mit dem Opfer vorüber, das durch jene ermordet wurde, für die es Gutes tun wollte. »Ja, ja!« sagte er sich, »es ist zwar ein Irrtum, doch sind derartige Irrtümer nur die logische Folge der Entfesselung tierischer Instinkte. Man muß zugeben, daß wir jetzt kopfüber in einen bodenlosen Abgrund stürzen. Und zwar nicht nur wir. – Kann man aber daraus schließen, daß, wie wir heute einem vom Pöbel getöteten Kinde das letzte Geleit gaben, wir auch in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren Zeugen des Begräbnisses der Wissenschaft, der Kultur und der Zivilisation sein werden? Scheinbar – ja! – Höchste Zeit, daß Gott, der die Welt regiert, einen neuen Beweis liefert, daß er sie tatsächlich noch regiert. Es müßte so donnern, daß die ganze Erde erbebt – oder sonst etwas …!
Die Menschheit beschreitet jetzt einen Weg, der ihrer ursprünglichen Bestimmung entgegengesetzt ist … Denn die ganze Anstrengung der Natur gipfelt darin, vollendetste Wesen hervorzubringen, um durch diese die Gattung zu veredeln – die Menschheit dagegen handelt umgekehrt, sie tötet sie, wie man dieses engelgleiche Mädchen getötet hat, oder zerrt sie bei den Haaren und versucht, sie von den Höhen zur allgemeinen Gleichheit herabzuziehen. Und dennoch ist es nur Schein … Wenn die Ingenieure beschließen wollten, alle Berge abzutragen und den Erdboden glatt und eben wie eine Billardkugel zu machen, so würde irgend eine Erschütterung, irgend ein Vulkanausbruch neue Gipfel und neue Abgründe bilden. Vom arischen Geist kann man dasselbe behaupten, was die in die sanften, architektonischen Linien verliebten Griechen von den römischen Bogen zu sagen pflegten: ›Der Bogen schläft nie ein‹. – Der arische Geist ebenfalls nicht. Die Menschheit, die ihn besitzt, wird nicht imstande sein, der Unendlichkeit nur in einer Welle zuzuströmen, nur mit einem Gedanken zu denken und nur in einer Idee zu leben. Was heute ist – muß vorübergehen. Auf den Gipfeln der Vernunft, des Gefühls und des Willens wird ein neuer Wind entstehen und neue Wellen auftürmen.«
Dann richteten sich offenbar Szremskis Gedanken auf nähere, ihm mehr am Herzen liegende Dinge, denn er ballte die Fäuste und durchmaß mit großen, unruhigen Schritten das Zimmer.
»Werden wir jedoch«, sagte er sich, »unter diesen Erschütterungen, Wellen und Stürmen bestehen können? Strudel! Strudel! … und dazu ein sandiger! Der Sand überschüttet ganz Polen und verwandelt es in eine Wüste, in der Schakale leben … Wenn dem so wäre, bliebe nichts übrig, als eine Kugel sich durch den Kopf zu jagen … Neugierig bin ich, was ein Gronski hierzu sagen würde … Doch ihn schlug jetzt ein Blitz nieder, und es nützt nichts, mit ihm zu reden … Gehen wir wirklich rettungslos zugrunde? – Durchaus nicht! Unter diesen Strudeln, die auf der Oberfläche unseres Lebens wirbeln, liegt etwas, was Swidwicki nicht beachtet hat. – Es ist mehr, viel mehr, weil hier eine unendliche, unergründliche Schmerzenstiefe vorhanden ist. Es gibt, mit einem Wort, nirgends in der Welt größeres Unglück als bei uns. Im Schmerz erwachen bei uns des Morgens die Menschen und begeben sich mit den Pflügen auf die Felder, gehen in die Fabriken, in die Bureaus, hinter die Geschäftsladen und zu jeglicher Arbeit – in Schmerz. Das Leiden – ist wie des Menschen uferlose Wasserfläche und die Strudel – sind nur Runzeln auf dieser Fläche. Und weshalb leiden wir so? – Wir könnten ja gleich morgen aufatmen, wir könnten glücklicher sein. Es würde genügen, wenn jeder ihm – diesem Polenlande, von dem Swidwicki behauptet, es gehe zugrunde, sagte: du tust mir weh, du peinigst mich zu sehr, also sage ich mich von dir los, und von heute an will ich dich vergessen … Und dennoch sagt es niemand; – selbst ein Swidwicki nicht, der lügt, wenn er sagt es sei ihm gleichgültig – selbst jene nicht, die Bomben werfen und Brüder und Schwestern morden! – Und wenn dem so ist, wenn wir lieber leiden, als uns von Polen lossagen, inwiefern gleichen wir dann Schakalen, und wo ist dann Polens Untergang? Die Schakale suchen das Aas und nicht das Leiden! Polen lebt also in jedem von uns, in uns allen – und wird alle Strudel der Welt überleben. Wir aber wollen die Zähne zusammenpressen und für dich, Vaterland, weiter leiden – sowohl wir, als auch, sollte es Gottes Wille sein – unsere Kinder und Kindeskinder – und wir entsagen weder dir noch auch der Hoffnung.«
Die eigenen Gedanken rührten Szremski tief, und in seinen Augen leuchtete es hell auf. Er fand jetzt die Antwort auf die Fragen, die Swidwicki aufgeworfen hatte. Während er auf und ab ging wiederholte er mehrfach: »Für ein Nichts würde doch niemand so viel leiden wollen!« – Dann kam ihm augenscheinlich in den Sinn, daß fürs Vaterland zu leiden – noch nicht alles sei, denn plötzlich rieb er sich die Hände und streifte wie aus Zerstreutheit die Ärmel in die Höhe, als ob er eine wichtige und dringende Arbeit unternehmen wollte. Doch nach einer Weile besann er sich, daß er im Hotel sich befinde, er lachte also mit dem nur ihm eigenen aufrichtigen Lachen und sagte laut:
»Ha! Dagegen ist nichts zu machen. Morgen muß ich in mein Nest zurückkehren und den Karren weiterschieben …«
Und dann seufzte er:
»In mein einsames Nest! …«
Darauf, er wußte selbst nicht warum, erinnerte er sich an das, was Swidwicki ihm erzählt hatte, nämlich, daß Krzyckis Verlobung aufgelöst sei – und seine Gedanken flatterten gleich Vögeln nach Zalesie.